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Inhalt

Die Ankunft

Der erste Tag: Kurswechsel

Der zweite Tag: Vom Fluss des Lebens

Der dritte Tag: Gestrandete Schuhe

Der vierte Tag: Herzenswissen

Der fünfte Tag: Der Korken und der Specht

Der sechste Tag: Mit dem Strom

Die Abreise

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Das Leben ist eine innere und eine äußere Reise!“ Dieser Satz von Leif hatte mich nicht mehr losgelassen, seit wir im letzten Winter miteinander telefoniert hatten. Er fesselte mich, er zog mich in seinen Bann, wie einst der kantige rote Kaugummiautomat an der Hauswand des kleinen Kaufmannsladens in unserem Dreihundert-Seelen-Dorf.

Ich wollte diesem Satz seinen Schatz entlocken, seine heilsame Botschaft, wie dem Kaugummi-Automaten seinen Plastik-Goldring mit dem eingedruckten Piratenkopf.

Vielleicht war es die Ahnung, dass in diesem Satz das Tor zur Lösung für die Tage lag, an denen mich dieses unerklärliche Gefühl innerlicher Leere überkam.

Dieses Loch ohne festen Boden.

Vier Jahre waren seit meinem letzten Aufenthalt auf der kleinen Insel vergangen und ich freute mich riesig darauf, den weisen alten Mann endlich wieder in die Arme schließen zu können.

Wie damals hatten wir uns auch diesmal wieder für eine Woche zum Angeln auf der Insel verabredet und Leif hatte mir versprochen, dass wir nicht wieder an den Strand unserer ersten Reise zurückkehren würden.

„Wir werden neue Strände entdecken!“, hatte er bei unserem letzten Telefonat gesagt, und ich wusste, dass er damit nicht nur die tatsächlichen Strände meinte.

Vieles in meinem Leben hatte sich seit meiner letzten Reise zum Positiven verändert und ich hatte auch gelernt, mir selbst wieder viel wertschätzender und liebevoller zu begegnen. Zu dieser Wertschätzung gehörte es, dass mein Büro nicht länger der Mittelpunkt meines Lebens war, der Punkt, um den sich alles drehte, so schnell, dass ich alles andere fast aus den Augen verlor. Um nicht erneut in das Hamsterrad der Arbeit und der Fremdbestimmung zu geraten, nahm ich mir regelmäßige Auszeiten. Auch die Familie fand sich auf der neuen Landkarte meines Lebens wieder, ich verbrachte viel mehr Zeit als vorher mit meinen Kindern und mit meiner Frau. Aber der gefühlt allergrößte Sieg in den letzten vier Jahren war es, dass ich die Fremdbestimmung durch Handy und Computer endlich wieder in den Griff bekommen hatte. Jeden Werktag ab 17:00 Uhr schaltete ich die Geräte ab und jeden Samstag und Sonntag sowieso.

Aber all das war dieser unerklärlichen inneren Leere, die wie aus dem Nichts auftauchte und so lange blieb, wie sie wollte, meistens herzlich egal.

Ich hatte an der Weichenstellung meiner äußeren Lebensreise einiges geändert und zum Besseren gewendet, aber dass es da noch eine innere Reise gab, war mehr so ein vages Gefühl, und ich war mir nicht sicher, ob ich in meinem Leben überhaupt jemals auf einer inneren Reise unterwegs gewesen war.

Und nun war ich also wieder zurück am Meer. Ich wollte angeln, ich wollte philosophieren und ich wollte ein schwarzes Loch stopfen.

Es war Anfang Mai und der Frühling meinte es gut mit meiner Unternehmung. Bei schönstem Wetter erreichte ich die kleine Insel im Meer und die Fahrt zum Ferienhaus führte mich durch eine aufblühende Landschaft. Jede Blume, jeder Strauch, jeder Baum war Zeugnis eines nicht umzukehrenden Aufbruchs in das Leben.

Ich hatte das gleiche Ferienhaus wie bei meiner letzten Reise gebucht.

Vor ein paar Jahren wäre das noch ein Akt von unvorstellbarer Eintönigkeit für mich gewesen, aber jetzt genoss ich schon bei der Buchung das Gefühl, bald an einen bekannten und kraftvollen Ort zurückzukehren. Die Vorfreude wurde nicht von der Ungewissheit getrübt, ob das Haus meinen Ansprüchen genügen und tatsächlich nur einen Steinwurf vom Meer entfernt liegen würde. Das tat es. Es war eines dieser typisch skandinavischen Ferienhäuser mit einer einladenden Inneneinrichtung und einer praktischen, reduzierten Ausstattung. Es fehlte an nichts und es gab nichts Überflüssiges. Nichts, das Schubladen, Schränke oder Fensterbänke unnötig vollstopfte. Dazu ein Holzofen, eine kleine Sauna und ein fantastischer Blick über die Dünen auf den Strand und das Meer.

Das Leben kann so einfach sein.

„Hast du Lust, morgen früh vor dem Angeln den Sonnenaufgang am Meer zu erleben?“, fragte mich Leif, als wir am Abend meiner Ankunft kurz miteinander telefonierten, wohl wissend, dass ich alles andere als ein Frühaufsteher war.

Bisher hatten wir uns nicht ein einziges Mal vor 10:00 Uhr am Vormittag verabredet, und das lag sicher nicht an dem alten Mann. In mir machte sich aber sofort eine widerstandslose Bereitschaft breit, dieser Einladung unbedingt folgen zu wollen.

„Die Einladung nehme ich gerne an!“, antwortete ich im Brustton der Überzeugung, dass diese gefühlte Widerstandslosigkeit mich auch rechtzeitig aus dem Bett treiben würde. Und mir gefiel es, dem schelmischen Unterton von Leif ganz überzeugend etwas entgegenzusetzen.

„Der Sonnenaufgang ist um 4:47 Uhr. Um ihn in seiner ganzen wundervollen Schönheit zu erleben, sollten wir um 4:00 Uhr am Wasser sitzen.“ Leif freute sich hörbar, dass ich seine Einladung nicht ausschlug. „Und mit etwas Glück sind auch die ersten Hornhechte schon da!“, fügte er noch fast beiläufig hinzu.

Leif hatte in den Jahren nichts an Vitalität eingebüßt. Er schien ein Leben völlig ohne plötzlich auftauchende schwarze Löcher oder sonstige Widrigkeiten zu führen. Ohne Zweifel war es das Leben am Meer, das diesen Mann so glücklich und so zufrieden machte.

Ich packte meine Sachen aus, besorgte beim kleinen Kaufmann des Ortes zwei Säcke Feuerholz, stellte sie auf der Terrasse des Ferienhauses ab und machte mich anschließend barfuß auf zum Strand, um das Meer zu begrüßen. Der Sandstrand war immer noch genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war sogar noch etwas breiter geworden. Die Winterstürme der letzten zwei Jahre hatten viel Sand von der Südküste mitgenommen und ihn hier vor der Ostküste wieder abgelegt, wie Leif mir später erklärte. Wind und Wellen allein bestimmten, wo wie viel Sand an den Stränden lag. Eine Macht, die Tourismusdirektoren wohl gerne gehabt hätten, denn teure Sandvorspülungen würden dann endlich der Vergangenheit angehören …

Die warme Luft der letzten drei Tage traf auf ein immer noch kühles Meer, und der aufsteigende Dunstschleier hüllte den Horizont in ein warmes, beinahe magisches Abendlicht. Der Wind war fast komplett eingeschlafen und wenn die Macher der Augsburger Puppenkiste sich irgendwann, irgendwo mal abgeguckt haben, wie man mit einer Plastikfolie eine bleierne Wasseroberfläche nachahmt, müssen sie an so einem Abend das Meer beobachtet haben.

Lummerland war nicht in Sicht, aber ein Fischerboot, das zielsicher auf den Hafen des kleinen Ortes zusteuerte. Das Geräusch des Dieselmotors verschmolz mit dem Möwengeschrei in der Ferne und dem dumpfen Auslaufen der Wellen vor meinen Füßen zu einem wohltuenden Dreiklang.

Ich war zurück am Meer und das allein machte mich schon glücklich.

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