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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Der Tag, der alles anders machte

Kapitel 2: Wie wir uns gefunden haben

Kapitel 3: Mirco startet ins Leben

Kapitel 4: Zwischen Hoffen und Bangen

Kapitel 5: Die Medien und Mircos Verschwinden

Kapitel 6: „Grefrath hat seine Unschuld verloren“

Kapitel 7: Der Täter wird gefasst

Kapitel 8: Abschied von Mirco

Kapitel 9: Die Gerichtsverhandlung

Kapitel 10: Wir gehen weiter

Epilog

 

 

 

Vorwort

Das Verschwinden unseres Sohnes hat 145 Tage lang ganz Deutschland bewegt. Und noch heute beschäftigt sein Schicksal viele Menschen aus dem In- und Ausland. Unser Junge, damals 10 Jahre alt, verschwand am Abend des 3. September 2010 auf dem Heimweg von einer Skaterbahn, bei der er sich mit seinem Freund getroffen hatte. Zu Hause kam er niemals an.

Er wurde von einem fremden Menschen überfallen, entführt, missbraucht und getötet. Seine Leiche versteckte der Täter in einem abgelegenen Waldstück. Wir, seine Eltern, ebenso wie seine Geschwister, seine Verwandten, Freunde und die Tausende, die mit uns bangten, wussten nicht, wo wir Mirco finden konnten. Wir wussten nicht, was mit ihm geschehen war. Wir wussten 145 Tage lang nicht, ob wir noch hoffen durften oder trauern mussten.

Mircos Verschwinden zog die größte Suchaktion nach sich, die die Polizei der Bundesrepublik jemals durchgeführt hat. 9.986 Hinweise bearbeitete die „Sonderkommission Mirco“ unter der Leitung von Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel aus Mönchengladbach. Hunderte von Beamten durchkämmten Quadratkilometer um Quadratkilometer jedes Bezirks, in dem man eine Spur unseres Jungen vermuten konnte. Tausende von Autofahrern wurden überprüft. Gefahndet wurde bis in die Nachbarländer. Tornadojets der Bundeswehr überflogen mit Spezial-Wärmebildkameras das Gelände um unsere Heimatstadt Grefrath, in der Hoffnung, einen Hinweis auf den Verbleib unseres Jungen zu finden. Hundestaffeln rückten aus, Hubschrauber und Polizeitaucher unterstützten die Fahndung – doch alle Mühen blieben vergeblich.

Bis die Hartnäckigkeit und der Spürsinn der 62 Männer und Frauen der Sonderkommission schließlich Früchte trug. Sie filterten in akribischer kriminalpolizeilicher Kleinarbeit einen Verdächtigen nach dem anderen aus, überprüften Alibis, nahmen Faserproben aus Autos, fragten nach, prüften Aussagen, erstellten psychologische Profile und kreisten schließlich den Tatverdächtigen ein. „Wir kriegen ihn, wer immer das gemacht hat!“, hatte uns Soko-Leiter Ingo Thiel geschworen. Er hat Wort gehalten.

Nach 145 Tagen stand er mit seinen Leuten vor der Haustür des Mannes, der unseren Mirco entführt, missbraucht und getötet hat.

Wir haben als Familie eine Katastrophe erlebt. Und überlebt. Erst später haben wir erfahren, dass das nicht alltäglich ist. Denn wir sind nicht, wie viele andere Familien, die ein solches Schicksal erleben mussten, daran verzweifelt und zerbrochen.

Warum konnten unsere Kinder und wir das schaffen? Was hat uns dabei geholfen? Wie sind wir mit Entsetzen, Ohnmacht, Trauer und Wut fertig geworden? Warum hat uns nicht die Depression und Verzweiflung eingeholt? Wie konnten wir es schaffen, dem Täter entgegenzutreten, ohne ihn mit Hass zu überschütten?

Das haben wir uns, ehrlich gesagt, gar nicht gefragt. Aber wir haben diese Fragen immer und immer wieder von den Menschen gehört, die uns durch die schrecklichen 145 Tage und darüber hinaus begleitet haben – sei es nun professionell oder privat. Kann es in diesem tiefsten Tal, das Eltern je durchschreiten können, diesem schlimmsten Albtraum, den man nie erleben möchte, so etwas wie Trost geben? So etwas wie die Gewissheit, wie man in einer solchen Lebenskrise richtig handelt?

Wir wollen als Eltern von Mirco mit diesem Buch gemeinsam versuchen, das Leben unseres Sohnes noch einmal Revue passieren zu lassen. Seine Geburt, seine Freuden, seine Fantasie, seine Pläne, seine Hoffnungen. Wir schreiben dieses Buch nicht, um unserem Kind ein Denkmal zu setzen. Das braucht Mirco nicht und das brauchen auch wir nicht. Mirco ist in den Herzen aller, die ihn gekannt haben, sicher und fröhlich verwahrt. Wir brauchen auch deshalb kein Denkmal, weil wir überzeugt sind, dass der Tod nicht das Ende einer Lebensgeschichte ist. Wir schreiben dieses Buch vielmehr in dem Bewusstsein, dass es eine Geschichte erzählt, die vielleicht anderen Menschen helfen kann, die das Leben ebenfalls auf schwierige Wegstrecken geführt hat – oder führt.

Ralf Markmeier, der Chef des adeo-Verlags, hatte uns angesprochen, nachdem er unsere Fernsehdiskussion zusammen mit dem Präses der Evangelischen Kirche, Nikolaus Schneider, bei „Beckmann“ gesehen hatte. Im Gespräch mit ihm wurde uns bald klar: Wenn dieser ganze Irrsinn von Mircos Tod doch noch irgendeinen Sinn haben sollte, dann vielleicht diesen: dass wir davon erzählen, wie das Leben nach einem solchen Schlag weitergehen kann; dass wir unsere Erfahrungen weitergeben, die anderen Menschen vielleicht ein Licht in dunklen Stunden sein können. Dass bei allem Unbegreiflichen, was uns im Leben widerfährt, noch Platz ist für Hoffnung und Vergebung. Und dass wir nicht an der Frage zerbrochen sind, warum Gott so etwas zulässt, sondern von ihm durch diese Zeit getragen worden sind.

Natürlich müssen wir alle sterben, ob wir an Gott glauben oder nicht. Das ist gewiss. Über das Wie bekommt keiner von uns im Voraus eine Antwort. Aber wir glauben, indem wir das Schlimmste durchlitten haben, heute ein paar Antworten mehr gefunden zu haben, die uns und anderen vielleicht helfen können, mit der Begegnung mit dem Tod besser umzugehen.

Zusammen mit dem Journalisten Christoph Fasel, der uns mittlerweile ein guter Freund geworden ist, haben wir in vielen Gesprächen gemeinsam Material gesucht, gesichtet, gesammelt, ausgewählt und haben uns beim Schreiben – und nicht zu vergessen, beim Schlitterschen Lieblings-Risotto – diesem Buch genähert.

Wir möchten mit diesem Buch auch den vielen Menschen danken, die uns in den härtesten Stunden unseres Lebens nicht im Stich gelassen haben. Die nicht weggeschaut haben. Die in Gedanken mit uns und vor allem mit Mirco waren. Die gehofft, gebangt und gebetet haben. Das waren Freunde und Familienmitglieder, aber auch viele Menschen, die wir nie in unserem Leben gesehen oder gesprochen hatten. Sie sollen wissen, wie viel Trost und Hoffnung uns ihre Solidarität gespendet hat. Wir sind uns sicher, dass auch das uns durch diese dunkle Zeit getragen hat.

Das Leben geht weiter. Mirco hat drei wundervolle Geschwister. Auch sie haben das Recht auf ein Leben, das nicht in Erstarrung untergeht. Wir durften bei all dem Schrecklichen, was geschehen war, schließlich doch noch von Mircos sterblicher Hülle Abschied nehmen. Das hat unseren Kindern, unserer Familie, unseren Freunden und uns die Chance gegeben, ihn ein Stück weit loszulassen.

Jedes Jahr verschwinden in Deutschland rund 50.000 Kinder. Viele von ihnen tauchen niemals wieder auf, bleiben für immer spurlos verschwunden. Für diese Eltern bleibt die Ungewissheit, die uns 145 furchtbare Tage in ihren lähmenden Klauen hielt, ein ganzes Leben lang bestehen.

Vielleicht kann unser Bericht dazu beitragen, die Wahrnehmung zu schärfen: für das, was um uns herum geschieht und wo manchmal ein genaueres Hinsehen, ein Anruf, ein Einschreiten vielleicht Furchtbares verhindern kann. Für die Not, die ein solcher Schicksalsschlag hinterlässt. Und für die Möglichkeit, auf solche Menschen zuzugehen und ihnen Hilfe anzubieten – und diese Hilfe kann ganz viele unterschiedliche Gesichter haben.

Wenn nur ein Schimmer mehr Licht auf von solchem Leid betroffene Menschen fallen würde, hätte dieses Buch das erreicht, was wir uns von ihm erhoffen.

Grefrath, im August 2012

Sandra und Reinhard Schlitter