Markolf H. Niemz

Sich selbst verlieren
und alles gewinnen

Ein Physiker greift nach den Sternen

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Impressum

© Kreuz Verlag

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Coveridee: Markolf H. Niemz

Covergestaltung: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61322-7

ISBN (E-Book) 978-3-451-80319-2

Inhalt

Illusion oder Wirklichkeit?

Die absolute Zeit
Illusion Nr. 1

Der absolute Raum
Illusion Nr. 2

Das personale Ich
Illusion Nr. 3

Weg bin ich
Sich der Erkenntnis hingeben

Das materielle Glück
Illusion Nr. 4

Die individuelle Freiheit
Illusion Nr. 5

Die subjektive Gerechtigkeit
Illusion Nr. 6

Und wieder bin ich weg
Sich der Liebe hingeben

Die heilige Religion
Illusion Nr. 7

Der allmächtige Gott
Illusion Nr. 8

Das Leben nach dem Tod
Illusion Nr. 9

Bewusstwerdung der Natur
Die Wirklichkeit

Alle Illusionen auf einen Blick

Talk mit dem Autor

Lesungen mit dem Autor

Stiftung Lucys Kinder

Anmerkungen

Bildnachweis

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Illusion oder Wirklichkeit?

Kennen Sie dieses unwirkliche Gefühl: Sie sehen etwas und sind dennoch fest davon überzeugt, es könne gar nicht sein? Für optische Täuschungen gibt es zahlreiche Beispiele, aber ein wesentlich intensiveres Erlebnis ist die gefühlte Illusion. In wenigen Sekunden dürfen Sie mit Ihrem eigenen Körper die Hartnäckigkeit einer Illusion spüren.

Experiment Nr. 1

Überkreuzen Sie bitte den Zeigefinger und den Mittelfinger Ihrer rechten Hand (wie in Abbildung 1), und berühren Sie mit beiden Fingerkuppen gleichzeitig Ihre Nase! Wie viele Nasen fühlen Sie: eine oder zwei? Bitte wiederholen Sie das Experiment vor einem Spiegel, falls Sie unsicher sind.

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Abb. 1: Illusion beim Fühlen

Die Illusion ist perfekt, wenn Sie wie fast alle Testpersonen zwei Nasen fühlen, obwohl Sie doch wissen, dass Sie nur eine Nase haben. Wie ist das möglich? Die Ursache für die Sinnestäuschung ist das Überkreuzen der beiden Finger. Ihr Gehirn geht davon aus, dass Ihr rechter Mittelfinger ein Objekt stets rechts von Ihrem rechten Zeigefinger ertastet. Mit dem Überkreuzen der Finger überlisten Sie Ihr Gehirn, und es meldet Ihnen folgerichtig zwei Nasen.

Was lernen wir aus diesem Experiment? Es verdeutlicht auf sinnliche Weise, wie tückisch so eine Illusion sein kann. Spätestens vor dem Spiegel können die meisten Menschen Illusion von Wirklichkeit unterscheiden, weil sie neben dem Tastsinn noch über einen Sehsinn verfügen. Wenn auch Sie zu diesen glücklichen Menschen gehören, die sehen können, dann stellen Sie sich bitte noch einmal vor den Spiegel und schauen zu, wie Sie mit gekreuzten Fingern Ihre Nase fühlen. Jetzt konkurrieren nämlich Ihr Tastsinn und Ihr Sehsinn miteinander. Wer wohl gewinnt? Vertrauen Sie Ihren Augen mehr als Ihren Fingern?

Experiment Nr. 2

Doch auch Ihre Augen lassen sich täuschen. Betrachten Sie dazu bitte bei hellem Licht Abbildung 2. Schweifen Sie mit Ihrem Blick langsam über die Muster und beschreiben Sie, was Sie wahrnehmen. Ich vermute, dass Sie wie die meisten Testpersonen beobachten werden, wie sich die kreisförmigen Muster drehen, obwohl sie doch fest fixiert sind. Wie ist das möglich? Ein Spiegel kann uns hier nicht weiterhelfen. Die Illusion entsteht durch die Kombination verschiedener Helligkeiten. Die Rezeptoren im Auge sind so verschaltet, dass die dargebotene Schattierung im Gehirn den Eindruck von sich drehenden Mustern erzeugt.

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Abb. 2: Illusion beim Sehen

Experiment Nr. 3

Offensichtlich dürfen wir weder unseren Fingern noch unseren Augen vollends vertrauen. Sollten wir mehr auf unsere Ohren hören? Bei blinden Menschen ist der Hörsinn häufig besser ausgeprägt als bei sehenden Menschen, weil sie ihn stärker beanspruchen und entsprechend trainieren. Es ist ein Beleg dafür, dass sich unsere Wahrnehmung schärfen lässt. Wenn Sie mögen, dürfen Sie gerne noch ein drittes Experiment durchführen. Falls Sie über einen Zugang zum Internet verfügen, können Sie die Illusion hören. Falls nicht, werden Sie eine optische Entsprechung kennenlernen.

Abbildung 3 zeigt ein System mit Musiknoten, die von links nach rechts immer höher werden. Der Zuhörer hat den Eindruck, dass die Klangfolge kontinuierlich ansteigt, obwohl der erste Klang (ganz links) und der letzte Klang (ganz rechts) identisch sind. Eine Hörprobe können Sie unter dem folgenden Link abrufen:

www.kreuz-verlag.de/niemz_sich_selbst_verlieren

Die Illusion beruht darauf, dass jeder Klang aus mehreren Einzeltönen besteht, deren Lautstärke variiert. Letztere ist in Abbildung 3 als Helligkeit gekennzeichnet: Je blasser eine Note ist, umso leiser klingt sie. Durch eine geschickte Kombination aus Lauterwerden und Leiserwerden entsteht beim Zuhörer die Illusion einer kontinuierlich ansteigenden Klangfolge. Der US-amerikanische Psychologe Roger Shepard hat sie erstmals beschrieben.1

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Abb. 3: Illusion beim Hören

Diese akustische Illusion lässt sich auch optisch veranschaulichen: Abbildung 4 zeigt links 13 Treppenstufen, die den aufsteigenden Musiknoten in Abbildung 3 entsprechen. Die Illusion einer endlosen Treppe rührt daher, dass Sie die tatsächliche Höhe der hinteren (schwarz gezeichneten) Stufen überhaupt nicht einsehen können. Eigentlich müsste die Treppe ansteigen wie in Abbildung 4 rechts. Bei der Klangfolge in Abbildung 3 entsteht die Illusion durch einen ähnlichen Effekt: Weil stets mehrere Noten zeitgleich erklingen, lässt sich einem gehörten Klang keine eindeutige Tonhöhe zuordnen. Lediglich die Gesamtlautstärke ist eindeutig, und diese bleibt von Klang zu Klang konstant.

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Abb. 4: Endlose Treppe (Illusion und Wirklichkeit)

Dass ich Sie diese drei kleinen Experimente habe durchführen lassen, hat einen einfachen Grund: Am eigenen Körper durften Sie erfahren, wie leicht sich Ihre Wahrnehmung täuschen lässt und wie trügerisch Ihre Vorstellung von der Wirklichkeit sein kann. Auch auf das Riechen und Schmecken sollten wir uns nicht hundertprozentig verlassen. Denken Sie nur an künstliche Aromen, mit denen viele unserer Lebensmittel aufgeputscht werden. Mit fünf Sinnen erleben wir die Wirklichkeit in Raum und Zeit, und doch scheint es, als könnten wir sie nicht vollständig erfassen.

Das Wort »Illusion« stammt vom lateinischen illudere ab (auf Deutsch etwa: ins Spiel werfen). Gemeint ist damit, dass unser Gehirn aufgrund einer Sinneswahrnehmung oder eines Gedankens eine Annahme »ins Spiel wirft«, die nicht zwingend der Wirklichkeit entspricht. Schon die alten Griechen waren Meister der Illusion. Der größte Tempel auf der Akropolis in Athen, der Parthenon, scheint ein Meisterwerk der Perfektion zu sein, doch der Schein trügt. Tatsächlich ist nicht eine einzige Linie dieses Bauwerks gerade. Damit der Betrachter vom Boden aus den Eindruck eines senkrecht bis in den Himmel reichenden Tempels gewinnt, haben sich die antiken Baumeister gleich mehrere Tricks einfallen lassen: Das Bauwerk steht auf einem gekrümmten Fundament, und die Säulen sind nach innen geneigt. Abbildung 5 zeigt links (nicht rechts!) die vom Betrachter wahrgenommene Illusion und rechts die in Wirklichkeit vorhandene, hier etwas übertriebene Krümmung des Tempels.

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Abb. 5: Der Parthenon (Illusion und Wirklichkeit)

Viele Illusionen beruhen darauf, dass die Sinne bewusst mit einem Trick getäuscht werden. Das gilt auch für die drei Experimente, die Sie eben durchgeführt haben. Doch nicht allein unsere Sinneswahrnehmung ist fehlerhaft. So manche Illusion entsteht durch unreflektierte Gedanken im Gehirn. Ein typisches Beispiel sind Vorurteile. Die Annahme, dass Frauen nicht einparken können, widerspricht der Wirklichkeit und ist darum eine Illusion. Ich hatte eine Fahrlehrerin, und sie konnte einparken.

Auch der Aberglaube ist eine Illusion. Die Vorstellung, dass die Zahl 13 immer Unglück bringt, entspricht nicht der Wirklichkeit. Mein Erstlingswerk Lucy mit c schaffte es als erstes deutsches Buch im Eigenverlag auf die Bestsellerliste – auf Platz 13! Das war mein Sprungbrett als Schriftsteller, obwohl ich in der Schule nie eine Leuchte im Deutschaufsatz war. Folglich erweist sich sogar eine bekannte Lebensweisheit als Illusion: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Mein zweiter Vorname ist Hans. Wir lernen, solange wir leben.

Illusionen haben es an sich, dass sie nicht leicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. Eine Illusion lässt sich als solche entlarven, wenn wir versuchen, eine andere Perspektive einzunehmen, indem wir beispielsweise noch einen weiteren Sinn zu Rate ziehen. Beim ersten Experiment war dies der Blick in den Spiegel. Ein Muster im zweiten Experiment hört sofort auf, sich zu drehen, wenn Sie versuchen, es mit Ihrem Zeigefinger zu berühren. Und die aufsteigende Klangfolge im dritten Experiment erweist sich spätestens im Kontext mit seiner optischen Entsprechung als eine Illusion. Daraus können wir eine wichtige Erkenntnis ableiten: Auch gedankliche Illusionen wie Vorurteile und Aberglaube lassen sich abbauen, indem wir uns bemühen, die Perspektive zu wechseln. Dies fällt nicht immer leicht, weil es mitunter bequem ist, sich mit seinen Illusionen zu arrangieren. Schon Albert Einstein wusste: »Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil.«2

Zum Aufbau des Buches

Ich bin fest davon überzeugt, dass viele unserer Annahmen über die Wirklichkeit falsch sind. In diesem Buch wage ich den Versuch, die vielleicht bedeutendsten Illusionen aufzudecken. Weil eine Weltsicht oft stark von Illusionen geprägt ist, halte ich es für sinnvoll, sich diese frühzeitig bewusst zu machen. Wer will schon erst beim Sterben erfahren, dass er sein ganzes Leben lang Illusionen aufgesessen ist?

Im ersten Teil werde ich drei fundamentale Illusionen unter die Lupe nehmen: die absolute Zeit, den absoluten Raum und das personale Ich. Die Erkenntnis, dass die Zeit und der Raum nur Illusionen sind, geht auf Albert Einstein und seine Relativitätstheorie zurück. Doch auch das Ich ist wohl nicht das, wofür viele Menschen es halten.

Im eingeschobenen Essay Weg bin ich beschreibe ich die Euphorie bei meinem ersten wissenschaftlichen Experiment. Als neugieriger Physiker gebe ich mich meinem Fach hin, vergesse alles um mich herum und bin einfach weg. In einem solchen Erlebnis zeigt sich das wahre Ich.

Der zweite Teil befasst sich mit drei Illusionen, denen wir täglich begegnen: das materielle Glück, die individuelle Freiheit und die subjektive Gerechtigkeit. Dass Geld nicht glücklich macht, ist schon fast Allgemeinwissen. Meine Auffassungen von Freiheit und Gerechtigkeit geben neue Impulse für ein friedliches Miteinander.

Im sich anschließenden Essay Und wieder bin ich weg schildere ich nochmals eine Erfahrung des Sich-Hingebens. Ausgelöst wird sie diesmal aber durch die Liebe zu meiner Lebensgefährtin und unseren zwei Kindern. Erkenntnis und Liebe haben gemeinsam, dass ich mich in beiden verlieren kann. Lässt sich der Ichverlust beim Sterben demnach nicht auch als Chance begreifen?

Im dritten Teil gehe ich ans Eingemachte: Die heilige Religion, der allmächtige Gott und das Leben nach dem Tod sind auch nur Illusionen, und sie sind besonders hartnäckig! Ich bin mir durchaus bewusst, dass viele Christen, Juden und Muslime Gott als »den Allmächtigen« bezeichnen, aber »Allmacht« entpuppt sich als ein äußerst fragwürdiger Begriff. Nicht anders verhält es sich mit der gängigen Redefloskel »Leben nach dem Tod«. Wozu habe ich einen Körper, wenn ich auch ohne ihn leben könnte?

Nach insgesamt neun Illusionen setzt sich das Schlusskapitel Bewusstwerdung der Natur erwartungsgemäß mit der Wirklichkeit auseinander. Wissenschaftliche Erkenntnis lässt vermuten, dass die Natur ein sich selbst organisierendes, lebendiges Netzwerk ist. Ähnlich wie ein Computer im World Wide Web sammelt jede lebende Zelle Informationen und kommuniziert diese an einen unermesslichen Speicher. Dadurch vollzieht die Natur als Ganzes eine Entwicklung. Ihr Bewusstsein erstreckt sich über alle Lebewesen und ist im menschlichen Gehirn besonders stark ausgeprägt.

Auch in diesem Buch werde ich keine meiner Aussagen beweisen; ich stelle lediglich meine Weltsicht vor. Beweise gibt es in der Mathematik, nicht jedoch in der Physik. Jede naturwissenschaftliche Theorie muss die Möglichkeit zulassen, widerlegt zu werden. Herzlich lade ich Sie ein, sich mit meiner Weltsicht kritisch auseinanderzusetzen. Falls es mir gelingt, Sie zum Nachdenken anzuregen und Ihnen die eine oder andere Illusion zu nehmen, habe ich mein Ziel erreicht.

Markolf H. Niemz

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Die absolute Zeit

Lassen Sie uns beginnen! »Beginnen« hat etwas mit Zeit zu tun. Zeit ist eine Struktur, die unser Leben jeden Tag prägt, an der es uns aber oft mangelt. Wer als Fremder andere um einen Gefallen bittet, bekommt häufig die folgende Antwort zu hören: »Ich habe keine Zeit.« Dem will ich entgegenwirken. Nehmen wir uns Zeit! Jetzt. Wir alle machen Fehler im Leben und möchten gerne hin und wieder die Zeit nochmals zurückdrehen. Die Tatsache, dass sich Zeit nicht zurückdrehen lässt, zeigt uns, dass sie keine Sinnestäuschung ist. Zeit ist real, aber die absolute (für alle Beobachter gleiche) Zeit ist nur eine Illusion.

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Platon

Systematische Gedanken über die Zeit sind uns bereits vom griechischen Philosophen Platon überliefert. Platon ging in seiner Ideenlehre davon aus, dass wir die Wirklichkeit nur unscharf wahrnehmen können.3 Alle Formen, die uns in Raum und Zeit erscheinen, seien lediglich verzerrte Abbilder der Wirklichkeit. Zeit selbst war für Platon ein leerer Behälter, der mit Dingen und Ereignissen angefüllt werden kann, und durch den sie sich hindurch bewegen; wie eine mit Wasser gefüllte Schale, die unten ein Loch hat, durch das der Inhalt herauslaufen kann.

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Aristoteles

Der griechische Philosoph Aristoteles wurde in seiner Auffassung von Zeit deutlich konkreter. Er stellte fest, dass für jede Bewegung Zeit verantwortlich ist und dass sich Bewegung und Zeit gegenseitig bestimmen: »Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit, und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen.«4 Außerdem nahm Aristoteles an, dass sich Zeit aus unendlich vielen Intervallen zusammensetzt.5 Damit vertrat er erstmals die Vorstellung eines Kontinuums von Zeit.

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Augustinus

Augustinus von Hippo, Philosoph und Kirchenlehrer, brachte noch einen anderen Gedanken ins Spiel: Er unterschied eine messbare (objektive) Zeit von einer erlebnisbezogenen (subjektiven) Zeit. Zeit und auch Raum seien erst durch Gottes Schöpfung entstanden, und für Gott sei alles Gegenwart. In seinen Bekenntnissen begreift Augustinus Vergangenheit und Zukunft nur als Erinnerungen beziehungsweise Erwartungen in der Gegenwart.6 Doch auf die Frage, was Zeit sei, wusste auch er keine klare Antwort: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.«7

Es war der britische Physiker Isaac Newton, der unsere Vorstellung von Zeit bis heute nachhaltig geprägt hat: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig … Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares … Maß der Dauer, dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient.«8 Die wahre Zeit ist nach Newton absolut. Dieser Auffassung widersprach sein größter Kontrahent, der deutsche Wissenschaftler und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz. Wenn jeder Augenblick mit jedem anderen absolut identisch wäre, hätte Gott keinen Grund für die Erschaffung eines Universums zu einem bestimmten Zeitpunkt gehabt. Nach Leibniz sind Zeit und Raum lediglich gedankliche Konstruktionen, um Beziehungen zu beschreiben: »Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden.«9

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Kant

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ging noch einen Schritt weiter: Er betrachtete Zeit und Raum nicht als Erfahrungen, die wir über unsere Welt machen, sondern als Voraussetzungen dafür, dass wir überhaupt Erfahrungen machen können. Es sei unmöglich, die Zeit aus der Erfahrung wegzudenken: »Die Zeit ist kein empirischer Begriff, der irgend von einer Erfahrung abgezogen worden. Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.«10 Kants Zeitbegriff wird heute kontrovers diskutiert.

In seinem Hauptwerk Sein und Zeit fasste der deutsche Philosoph Martin Heidegger Zeitlichkeit als die zutiefst das Menschsein prägende Wirklichkeit auf. Der Mensch komme ohne eigenes Zutun in die Welt und habe seine Existenz zu übernehmen, indem er Entscheidungen treffe.11 Das Ergreifen von Möglichkeiten bestimme die Zukunft, und der Tod markiere das Ende alles Ergreifens von Möglichkeiten. Weil der Tod existiere, sei der Entscheidungsspielraum des Menschen begrenzt. Die rechnerische Zeit lasse sich also auf die Endlichkeit des Lebens zurückführen.

Was also ist Zeit? Die Philosophie ist sich uneins. Viele Menschen stellen sich Zeit wie eine einzelne Linie vor, die zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt, zu einem anderen Zeitpunkt endet und dazwischen noch viele weitere, absolute Zeitpunkte enthält (siehe Abbildung 6). Das Jetzt wird als »Gegenwart« bezeichnet. Alles, was früher oder später ist, heißt »Vergangenheit« beziehungsweise »Zukunft«.

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Abb. 6: Zeit bestehend aus absoluten Zeitpunkten

Doch diese Auffassung von Zeit entspricht nicht der Wirklichkeit. Was für manche Beobachter noch Zukunft ist, kann nämlich für andere Beobachter bereits Gegenwart oder Vergangenheit sein. Zum Beispiel ist das dasselbe Licht der Sterne, das wir morgen sehen werden, für uns Zukunft, für die Sterne Vergangenheit und für das Licht Gegenwart. Ein anderes Beispiel illustriert Abbildung 7: Für Beobachter B schlagen die Blitze X und Y gleichzeitig ein, wenn sie dieselbe Raumdistanz zu ihm haben. Für Beobachter A ist Blitz X jedoch näher als Blitz Y, das heißt, aus seiner Perspektive schlägt Blitz X vor Blitz Y ein. Für Beobachter C hingegen schlägt Blitz X erst nach Blitz Y ein. Die Beobachter kommen also zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, wenn sie die Reihenfolge der zwei Blitzeinschläge beurteilen sollen – und doch hat jeder recht.

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Abb. 7: Beobachtung von zwei Blitzeinschlägen

Ursache für diese merkwürdige Eigenschaft von Zeit ist die endliche Lichtgeschwindigkeit: Je weiter weg ein Blitz einschlägt, umso später nehmen wir ihn wahr. Wie subjektiv die Einteilung in vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse ist, zeigt sich hier: Angenommen, Beobachter A hat soeben Blitz X wahrgenommen, aber noch nicht Blitz Y. Dann ist Blitz X für ihn bereits Vergangenheit, aber Blitz Y ist noch Zukunft. Für Beobachter C ist es genau umgekehrt. Für ihn kann Blitz X noch Zukunft sein, wenngleich Blitz Y schon Vergangenheit ist. Nur für Beobachter B schlägt Blitz X in der Gegenwart von Blitz Y ein. Die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen hängt also auch von der eigenen Perspektive ab. Es war diese Erkenntnis, die Albert Einstein in einer Anekdote kommentierte: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion.«12 Für jeden von uns mag es eine Vergangenheit, eine Gegenwart und eine Zukunft geben, aber diese Zeitabschnitte sind nicht auf das gesamte Universum anwendbar. Der Grund hierfür ist die enge Verknüpfung von Raum und Zeit, die ich im folgenden Kapitel erläutern werde.

Hinfällig ist damit die Annahme einer kosmischen Uhr oder Weltzeit, die überall im Universum einen Augenblick namens »Jetzt« oder »Gegenwart« erschafft, in dem wir uns alle momentan befinden. Es hat lediglich den Anschein, als würde sich die Gegenwart unaufhaltsam von einer Vergangenheit in eine Zukunft bewegen. Dieses Phänomen, das oft als »Fließen von Zeit« bezeichnet wird, entzieht sich jeder naturwissenschaftlichen Betrachtung. Die Vorstellung einer fließenden Zeit ist nur dann sinnvoll, wenn auch eine davon unterscheidbare Alternative denkbar ist. Die Annahme einer stehenden Zeit führt aber sofort zum Widerspruch, weil sich der Stillstand von Zeit bloß aus einer Perspektive erfahren lässt, aus der die Zeit fließt. Doch wie könnte die Zeit noch fließen, wenn sie einmal stillsteht?

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Einstein

Der Zeitbegriff in der Physik änderte sich radikal, als Albert Einstein im Jahr 1905 seine spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte. Im Grunde machte er bloß zwei Annahmen:13 Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Naturkonstante, und die Naturgesetze haben für alle unbeschleunigten Beobachter die gleiche mathematische Form. Daraus schlussfolgerte er, dass die absolute Zeit eine Illusion sein muss. Wie lange ein Vorgang dauert, hängt demnach auch davon ab, wie schnell ich mich relativ zu diesem Vorgang bewege. Wenn ich mich zum Beispiel mit 87 Prozent der Lichtgeschwindigkeit relativ zu Ihnen bewege, läuft Ihre Uhr aus meiner Perspektive halb so schnell wie meine Uhr – auch dann, wenn die Uhren baugleich sind! Ursache für diesen Effekt ist nämlich weder die Mechanik der Uhr noch eine schwache Batterie, sondern allein die Tatsache, dass sich die beiden Uhren relativ zueinander bewegen.

Weshalb sich Zeit so seltsam verhalten muss, lässt sich mit einem kleinen Gedankenexperiment veranschaulichen. Abbildung 8 zeigt einen fahrbaren Wagen, in dem sich eine sogenannte Lichtuhr befindet. Die Lichtuhr besteht aus zwei Spiegeln und einem Lichtteilchen, das zwischen den beiden Spiegeln hin und her reflektiert wird. Das Lichtteilchen ist gelb gekennzeichnet, sein Weg grün. Jedes Mal, wenn das Lichtteilchen auf den unteren Spiegel trifft, macht die Uhr »tick« und eine weitere Zeiteinheit ist vergangen (zum Beispiel eine Sekunde).

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Abb. 8: Lichtuhr im stehenden Wagen

Wenn sich nun der Wagen wie in Abbildung 9 bewegt, legt das Licht zwischen zwei Ticks den gestrichelten (also einen etwas längeren!) Weg zurück. Mit Einsteins Annahme einer konstanten Lichtgeschwindigkeit folgt hieraus sofort, dass zwischen zwei Ticks in Abbildung 9 etwas mehr Zeit verstreichen muss als zwischen zwei Ticks in Abbildung 8. Eine Uhr geht also langsamer, sobald sie sich relativ zu mir bewegt. Dieser Effekt wird in Einsteins Relativitätstheorie als »Zeitdilatation« (auf Deutsch: Zeitdehnung) bezeichnet. Signifikant ist der Effekt jedoch erst bei extrem hohen Geschwindigkeiten kurz unterhalb der Lichtgeschwindigkeit.

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Abb. 9: Lichtuhr im bewegten Wagen