Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Originalausgabe

2. Auflage 2019

© 2019 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Nadine Lipp

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: shutterstock.com/Guillermo del Olmo

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern


ISBN Print 978-3-7474-0055-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-381-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-382-5


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Für meine Kinder, die mich gelehrt haben, frei und mutig durchs Leben zu gehen.

Für meinen Vater, der mich gelehrt hat, im christlichen Glauben Halt und Orientierung zu finden, der mir aber auch gezeigt hat, dass meine Religion die Freiheit anderer nicht einschränken darf.

Für meine Kollegen, die mit Herzblut, pädagogischem Geschick und ganz viel Humor jeden Tag ihr Bestes geben und unsere Schule zu einem besonderen Ort machen.

Und für meine Schüler, denen ich von ganzem Herzen ein selbstbestimmtes und freies Leben wünsche.

Anmerkung: Aus Gründen der Lesbarkeit spreche ich in der Regel von Schülern und Lehrern, dennoch beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter.

Inhalt

Einleitung: Eine klare Haltung kommunizieren

Von Kultur und Streitkultur

Ausflug ins deutsche Schulsystem

Willkommen in der Realität

Dauerschleife Hurensohn

Wenn Elternarbeit an ihre Grenzen stößt

Wo das Grundgesetz endet

Und jährlich grüßt der Ramadan

Lehrer ohne Lobby – Schüler ohne Chance?

Parallelwelten – Warum wir sie verstehen müssen, aber nicht akzeptieren dürfen

Das Kopftuch: Nicht einfach nur ein Stück Stoff

Ankommen in Deutschland – Gelungene Sprachintegration durch »Deutsch als Fremd- und Zweitsprache«

Leben in Deutschland

Kartoffelkanaken – Die Chancen ästhetischer Bildung im Integrationsprozess

Der Nahostkonflikt an unseren Schulen

Fazit


Literatur

Links

Dank

Über die Autorin

Einleitung: Eine klare Haltung kommunizieren

»Das sagen Sie nur, weil Sie Rassist sind, Frau Wöllenstein.«

Im Sommer 1991, im Alter von 16 Jahren, verbrachte ich meine Sommerferien gemeinsam mit einer Freundin in Belgien. Eines Abends lernten wir dort zwei einheimische Jungen kennen und nutzten die Gelegenheit, unser spärliches Schulenglisch zu testen. Zu viert plauderten wir nett, bis einer von ihnen zu mir sagte: »Your grandfather killed my grandfather.«

Ich lachte irritiert, da ich nicht so recht wusste, worauf der Junge hinauswollte, aber er legte nach. »The Second World War, don’t you know?«

Ich war peinlich berührt und beendete das Gespräch sofort. Nicht etwa, weil ich vom Zweiten Weltkrieg keine Ahnung gehabt hätte, im Gegenteil. Ich hatte viel über die Zeit gelesen, hatte Filme gesehen und das Thema selbstverständlich in der Schule durchgenommen. Aber aus der Perspektive »Dein Großvater hat meinen Großvater umgebracht« hatte ich den Krieg noch nie betrachtet.

Mich beschäftigte dieses Gespräch noch lange und mit der Zeit wurde mir klar, dass dieses geschichtliche Erbe mein Handeln in bestimmten Bereichen beeinflusste, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre.

All mein Wissen über »unsere« Vergangenheit und »unsere« kollektive Schuld, die »wir« uns aufgeladen hatten, führte dazu, dass ich jeder mir fremden Kultur bedingungslos offen gegenüberstand. Ich forderte mir unentwegt eine Toleranz ab, die kein Nachfragen zuließ. Unsere Geschichte prägte mein Verhalten gegenüber Menschen nichtdeutscher Herkunft in einem Maße, das mir erst langsam deutlich wurde.

In Begegnungen hielt ich mich automatisch zurück, wenn es darum ging, etwas über »die deutsche Kultur« zu erzählen. Was ist schon wirklich »typisch deutsch«, dachte ich meistens. Umgekehrt interessierte es mich allerdings brennend, was andere über »die Deutschen« und das Land, in dem ich lebte, dachten und welche Bilder der Gedanke an Deutschland in ihren Köpfen entstehen ließ. Ich erfreute mich an Klischees über dirndl- und lederhosentragende Deutsche, die pausenlos Bier tranken und Weißwurst, Brezeln und Kartoffeln essen.

Wenn das die typischen Deutschen waren, die man im Ausland zu kennen glaubte, dann hatte ich nichts zu befürchten, immerhin hatte ich noch nie in meinem Leben ein Dirndl getragen. Ich hatte aber auch kein Problem mit diesen Stereotypen. Solche Vorurteile als dumm oder gar ignorant zu bezeichnen, wäre mir nie in den Sinn gekommen, schließlich stand es mir als Deutsche nicht zu, andere zu kritisieren. Stattdessen legte ich immer größtmöglichen Wert darauf, nicht als typisch deutsch zu gelten und betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass ich tatsächlich völlig undeutsch sei. Für mich schwang bei dem Begriff »deutsch« auch immer das Wort »Nazi« mit. Und wer wollte schon ein Nazi sein? Ich jedenfalls wollte mit Nazis absolut nichts gemein haben und das hat sich bis heute nicht geändert.

Gleichwohl habe ich aber inzwischen erkannt, dass ich mich manchmal »typisch deutsch« verhalte und dass ich keinesfalls der einzige Mensch auf Erden bin, der es geschafft hat, sich völlig unabhängig von seinem kulturellen Umfeld zu entwickeln. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Und auch wenn ich viel gereist bin, lebe ich in Deutschland. Welches andere Land, welche andere Kultur hätte mich also prägen sollen?

Für mich war es immer völlig selbstverständlich, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Bei Diskussionen mit Freunden, in beruflichen Zusammenhängen oder gar bei öffentlichen Diskussionen hatte ich niemals Angst, meine Meinung zu sagen, egal zu welchem Thema. In meinem Kopf gab es keine Hierarchien, die mich davon abgehalten hätten zu sagen, was ich denke, außer vielleicht gegenüber der Polizei oder den Fahrscheinkontrolleuren.

Niemals habe ich mich gefragt, ob es mir überhaupt gestattet ist, mein Leben so zu leben, wie ich es möchte. Ich habe zweimal studiert, eine Weiterbildung gemacht und acht Jahre lang als Kinder- und Jugendbetreuerin gearbeitet. Nun bin ich seit sechs Jahren Lehrerin an einer Gesamtschule, habe einen Lehrauftrag an der Universität und schreibe gelegentlich Artikel für pädagogische Fachzeitschriften. Ich arbeite, verdiene mein eigenes Geld und ziehe meine drei Kinder alleine groß, so, wie ich es für richtig halte. Und es löst bei mir bis heute Befremden aus, wenn es auf Plastikflaschen kein Pfand gibt.

So lebt man in Deutschland eben bzw. ich lebte so als Kind der 70er in einer Familie mit aufgeklärten und emanzipierten Eltern. Früher habe ich das nie hinterfragt und als selbstverständlich angesehen. Nichts davon habe ich als kulturelle oder gesellschaftliche Errungenschaft erachtet, die ich verteidigen oder zumindest verbalisieren müsste. Obwohl es genau das ist – eine kulturelle Errungenschaft, die in Deutschland Frauen auch erst seit ca. 100 Jahren zusteht. Also das selbstbestimmte Leben. Nicht die Pfandflaschen. Aber die sind auch nicht ausschlaggebend für unser demokratisches Wertegerüst, die Gleichberechtigung von Mann und Frau aber schon.

Inzwischen bringt es meine Arbeit als Lehrerin jedoch mit sich, dass ich mich hier klar positionieren muss, denn immer öfter arbeite ich mit Schülern, deren Eltern aus anderen Kulturkreisen nach Deutschland gezogen sind. Manche dieser Schüler sind bereits hier geboren, andere sind erst relativ frisch hier angekommen. Im Umgang mit ihnen erlebe ich nun fast täglich Situationen, in denen ich buchstäblich sprachlos bin. Etwa wenn mir ein Schüler wieder einmal vorwirft, ich würde ihm eine schlechte Note geben, weil ich Rassistin sei. Manchmal sagen sie auch mit einem Augenzwinkern: »Das sagen Sie jetzt nur, weil ich schwarz bin, Frau Wöllenstein.« Ich erkläre dann, wie es zu der Benotung oder Aussage kam, aber eine leichte Verunsicherung bleibt, obwohl ich ganz genau weiß, dass Schüler mit derlei Provokationen spielen. Sie sind in der Pubertät und sowas machen Pubertierende nun mal.

Es gibt jedoch auch Situationen, da habe ich eine klare Haltung und keine Möglichkeiten sie durchzusetzen. Wenn etwa Schülerinnen von der Schule genommen werden, weil sie auf Wunsch der Eltern heiraten sollen oder wenn Mädchen nicht auf Klassenfahrt mitkommen dürfen, ihre Brüder aber schon, oder wenn ich merke, dass sie bei einer schlechten Note Angst haben, zu Hause geschlagen zu werden. Dann bin ich mir sicher, dass es solche Einschränkungen und unterschiedlichen Behandlungen von Jungen und Mädchen in unserem Land nicht geben darf, und ich versuche, das zu kommunizieren. Zu Beginn meiner Laufbahn als Lehrerin habe ich nicht damit gerechnet, dass solche Gespräche einmal zu meinem Berufsalltag gehören würden und an der Universität wurden wir auch nicht darauf vorbereitet.

Ich musste bis dahin meine Einstellung zu Emanzipation und demokratischen Werten nicht offen kommunizieren oder verteidigen. Meine Haltung war für mich immer selbstverständlich, zudem auch meine Privatsache, die ich niemandem als den einzig wahren Weg aufdrücken wollte. Denn mein geschichtliches Erbe wies mich an, die Lebensweisen meiner Mitmenschen, also auch die der mir anvertrauten Schüler, weder zu hinterfragen noch zu bewerten.

Durch den Lehreralltag habe ich aber schnell gemerkt, dass ich Worte finden muss, mit denen ich mich ganz klar positioniere. Ich muss eine Haltung finden, die das, was ich als normales Leben empfinde, als eine Art Wertegerüst offen kommuniziert.

Das Leben, das ich persönlich führe, mag nicht jedermanns Sache sein, aber der Grundsatz, dass jeder Mensch so leben darf, wie er es möchte, solange er damit niemand anderem schadet, den muss ich formulieren können und meinen Schülern gleichzeitig deutlich machen, dass mich diese Haltung eben nicht zu einer Rassistin macht oder in die Nähe von Nazis rückt.

Wenn ich meine freiheitliche und demokratische Grundhaltung nicht nach außen kommuniziere und meinen Schülern als lebenspraktisches Modell zur Diskussion stelle, werde ich der Aufgabe nicht gerecht, die Schüler auf ein Leben in Deutschland vorzubereiten. Denn das gehört auch zum Lehrerberuf. Lehrer sind in erster Linie dem Grundgesetz verpflichtet und nicht falsch verstandener Toleranz.

So einfach ist das. Und so schwierig, denn in erster Linie bin ich Lehrerin geworden, um Schülern Englisch oder Darstellendes Spiel beizubringen. Anfangs sogar noch, um mit Schülern über den evangelischen Glauben zu philosophieren, doch alles auf einer fachlichen Ebene. Mich als Person mit meinem Werdegang und meiner persönlichen Haltung in die tägliche Arbeit einzubringen und dennoch professionelle Distanz zu wahren, wirkt manchmal wie ein unmöglicher Spagat.

In letzter Zeit wird mir allerdings eines klar: Mich diesem oft anstrengenden Prozess nicht zu unterwerfen, weil ich auf diese Art der persönlichen Auseinandersetzung keine Lust habe oder mich damit herausrede, mir stünde es aufgrund der deutschen Vergangenheit nicht zu, jemandem Grenzen aufzuzeigen, bedeutet nichts anderes, als keinen Respekt vor meinen Schülern zu haben. Denn sie haben es verdient, dass ich ihnen ein demokratisches und emanzipiertes Vorbild bin, das sich mit ihrer Lebenswelt auseinandersetzt. Jemand, der ihre Fragen beantwortet und ihre Unsicherheiten mit ihnen diskutiert, damit sie lernen, eigenständig zu denken und Dinge zu hinterfragen. Sonst bekommen sie womöglich nie die Chance, den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden, der ihnen zusteht. Ohne eine klare Haltung gegenüber meiner Kultur, meinen Werten und auch meinem Verständnis von Religion und Glauben nehme ich ihnen die Möglichkeit, sich in diesem Land zu integrieren.

Und das ist mein erklärtes Ziel, denn, das möchte ich gleich zu Anfang klarstellen, diese Kinder haben es verdient, dass wir ihnen den bestmöglichen Start in ein selbstbestimmtes Leben geben, der ihnen alle Freiheiten und Möglichkeiten eines demokratischen Landes zur Verfügung stellt und sie ehrlich teilhaben lässt. Viele kommen aus Elternhäusern, die oftmals wenig Unterstützung und Rückhalt bieten, nicht etwa, weil die Eltern ihre Kinder nicht lieben, sondern weil sie aus unterschiedlichen Gründen überfordert sind oder nicht verstehen, inwieweit Bildungskarrieren in Deutschland von der Unterstützung des Elternhauses abhängen. Viele sind erst seit Kurzem in Deutschland und haben Armut, Krieg oder Flucht erlebt, Erfahrungen, die ihnen das Lernen erschweren. Daher brauchen sie von uns Lehrerinnen, als professionellen Begleitern von Lernprozessen, die volle Aufmerksamkeit und Unterstützung. Und sie brauchen politische und gesellschaftliche Strukturen, die ihnen faire Chancen bieten. Denn eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind Kinder. Und wir sind die Erwachsenen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass wir unser Bestes geben, um ihnen eine erfolgreiche Zukunft zu ermöglichen.

Von Kultur und Streitkultur

»Wenn ich etwas falsch mache, müssen Sie mich schlagen.«

Zum Beruf des Lehrers gehört es dazu, die Konflikte, die Schüler untereinander haben, zu erkennen, sie zu schlichten und die Schüler dabei zu unterstützen, eine konstruktive Streitkultur zu erlernen. Mögliche Konflikte unter Schülern decken die ganze Bandbreite von kleineren Rangeleien bis hin zu Mobbing ab. Das gab es schon immer und wird es immer geben, denn Streitigkeiten gehören zum Leben dazu und Schüler müssen lernen auszuhalten, dass man nicht immer einer Meinung ist. Kinder wurden schon immer und aus unterschiedlichsten Gründen zur Zielscheibe anderer Kinder.

Zu meiner Schulzeit hieß das noch »fertigmachen« oder »hänseln«, heute nennt man es »Mobbing«. Früher ging es um verbale Attacken oder auch körperliche Auseinandersetzungen. Inzwischen haben Schüler durch das Internet mehr Möglichkeiten, sich gegenseitig fertigzumachen. Cybermobbing hat eine andere Reichweite und Geschwindigkeit als das »normale« Mobbing. Viel wichtiger ist aber, dass sich die Themen verändert haben.

Die Konflikte, die ich seit einigen Jahren erlebe, waren mir bis dahin unbekannt. Die üblichen Streitereien gibt es natürlich immer noch, aber es geht vermehrt um Auseinandersetzungen zu den Themen Land, Kultur und Ehre. Streitende Schüler, die sich äußerst aggressiv und teilweise körperlich angehen, weil sie kulturelle Differenzen haben. Einer der Jungen trägt zum Beispiel einen Armreif, mit dem er seine Sympathie für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan bekundet, was einen anderen dazu veranlasst, ihn anzupöbeln und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aufzuzählen. Das sind für den Jungen mit Armreif natürlich Lügen und er kann nur mühsam davon abgehalten werden, den anderen Jungen zu schlagen. Ein anderes Mal fängt ein Mädchen an zu weinen, weil sie von ihren Mitschülern geärgert wird, dass sie kein eigenes Land habe. Sie ist Kurdin und versteht nicht, warum es das Land Kurdistan nicht gibt, obwohl sie doch Kurdin ist.

Mich erschreckt auch die grundsätzliche Haltung zu Gewalt, die inzwischen viele meiner Schüler als probates Mittel zur Konfliktlösung sehen. Und nicht nur das. Manche fordern es sogar von uns Lehrern ein, uns ebenso zu verhalten, wie der Grundschüler einer Kollegin, der sie, während eines Gesprächs über sein Fehlverhalten, völlig verzweifelt ansah und sagte: »Sie müssen mich schlagen, wenn ich etwas falsch mache.« Da schwang kein bisschen Ironie mit. Er forderte lediglich das Signal für »Jetzt reicht’s. Das, was du hier machst, ist nicht richtig« ein, das er kennt und das er versteht.

Dass viele meiner Schüler Gewalterfahrungen haben, zeigte sich deutlich im Ethikunterricht, als wir das Thema Gewalt bearbeiteten. Ich fragte die Schüler, ob sie zu einer anonymen Umfrage bereit wären. Es gab zwei Fragen, man sollte ja oder nein ankreuzen. Die Fragen lauteten: »Warst du schon einmal Opfer körperlicher Gewalt?« und »Hast du schon einmal körperliche Gewalt angewendet?« Die Schüler lasen die Fragen und einer fragte sofort: »Was für Gewalt? Zählen auch Geschwister? Also wenn man Geschwister schlägt?« Ich fragte zurück, warum er überhaupt diese Frage stellte, denn Gewalt sei doch nun einmal Gewalt, egal ob man seine Geschwister schlägt oder ob man von seinen Eltern geschlagen wird. Ich betonte, dass es nicht um Rangeleien um die Fernbedienung ginge, sondern, wenn man jemanden schlägt, damit er gehorcht. Also etwa seine jüngere Schwester, damit sie nicht mehr an die Süßigkeiten geht.

Ein Junge erzählte dann, dass seine zehnjährige Schwester so nerven könne, dass er sie nach kurzer Vorwarnung schlage, damit sie aufhöre. Er sagte, dass sie sonst einfach weiter Stress machen würde und dass es in so einem Fall doch angebracht sei zuzuschlagen, man hätte es ja vorher angedroht und sie hätte ja auch aufhören können.

Ich wandte ein, ob es dann auch in Ordnung wäre, wenn sein vier Jahre älterer Bruder ihn schlüge? Die Antwort war: »Natürlich. Wenn ich etwas falsch mache, habe ich das doch auch verdient.«

Wahrscheinlich muss gar nicht mehr erwähnt werden, dass ausnahmslos alle Schüler beide Fragen mit »Ja« beantwortet haben. Ich habe die Unterrichtseinheit nach den aufgeschlossenen und ehrlich geführten Diskussionen mit der Lektüre der Artikel 2 und 3 aus dem Grundgesetz in einfacher Sprache abgeschlossen.1 Ich betonte, dass es keinerlei Rechtfertigung für Gewalt gibt und in Deutschland jeder so leben darf, wie er das möchte, solange er damit keinen anderen verletzt oder einschränkt. Im Falle von kleinen Geschwistern, die an Süßigkeiten gehen, könnte man sich ja vielleicht Hilfe von den Eltern holen. Meine Schüler schauten mich verständnislos an und sagten: »Aber die machen doch dann auch nichts anderes.«

Und da stoße ich dann an meine Grenzen, denn wie schaffe ich es, mit den Eltern derartige Themen zu besprechen. Wie begegne ich dem Vater, der die Schläge des Sohnes gegen seine 14-jährige Schwester damit erklärt, dass der Sohn »anstößige« Fotos auf dem Handy der Schwester gefunden hätte. Man muss dazusagen, dass die Schläge in diesem Fall so heftig waren, dass die Polizei gerufen und das Mädchen einige Tage aus der Familie genommen wurde. Wir sprechen also nicht mehr von den üblichen Rangeleien unter Geschwistern, die ich natürlich von mir und meiner großen Schwester und auch von meinen eigenen Kindern nur zu gut kenne.

Wie spreche ich mit Eltern über neue Konfliktlösungsstrategien in ihren Familien? Ich bin Lehrerin und keine Therapeutin oder Erziehungsberaterin. Das sprengt den Rahmen bei Weitem. Letztlich erklärte mir die Arbeit mit den Schülern aber an dieser Stelle, warum so viele von ihnen nicht lange diskutieren oder sich Hilfe holen. Das sind für sie einfach keine adäquaten Mittel zur Konfliktlösung. Somit werde ich mit zwei Problemen konfrontiert, zum einen mit Konfliktlösungsstrategien, die ich nicht unterstütze, und mit Themen, die mir fremd sind.

So entstehen Situationen, in denen ich als Lehrerin zwischen den Schülern vermitteln und Streit schlichten soll, obwohl ich selbst nie davon sprechen würde, »ein Land zu haben« oder ein Angela-Merkel-Armband tragen würde. Noch viel weniger hätte ich mich im Alter von 14, 15 oder 16 Jahren wegen solcher Dinge geprügelt oder zu weinen begonnen. Für mich wäre es völlig absurd gewesen, einen Mitschüler anzupöbeln, weil seine Eltern vielleicht die SPD wählen statt der CDU oder andersherum.

Jetzt bin ich aber mit genau diesen Situationen konfrontiert, ohne einen eigenen Erfahrungsschatz zu haben. Ganz im Gegenteil. Mein persönlicher Werdegang ist diametral, also genau gegensätzlich. Land, Kultur und Ehre sind Themen, die ich persönlich immer bewusst oder auch unbewusst ausgeklammert habe und die ich niemals mit Fäusten verteidigen würde, weil das in meinem Land früher einmal passiert ist – eine Konfliktaustragung, die historisch zu einem unermesslichen Grauen geführt hat und die darin resultiert, dass wir heute eine besondere Verantwortung tragen.

Und doch muss ich solche Themen mit den Schülern besprechen und versuchen, ihre Ansichten zu verstehen, denn Lehrer müssen das Vorwissen und die Vorstellungen ihrer Schüler evaluieren, um sie da abzuholen, wo sie aktuell stehen. Ich muss die Schüler immer wieder damit konfrontieren, dass sie Meinungsverschiedenheiten aushalten, weil sie in einem Land leben, in dem Meinungsfreiheit herrscht.

Doch wie kann das gehen? Und welche kulturellen Familienstrukturen unserer Schüler müssen wir als Lehrer verstehen, damit wir wissen, welche Diskrepanz zwischen ihrem Elternhaus und der Gesellschaft sie oftmals aushalten und begreifen müssen? Auf diese Fragen möchte ich im weiteren Verlauf des Buches näher eingehen, denn nur, wenn wir sowohl die kulturelle Herkunft unserer Schüler im Blick haben als auch unsere eigene Kultur mit ihren Werten und Umgangsformen leben und kommunizieren, geben wir den Schülern ein Gerüst, an dem sie wachsen können. Vorher soll es allerdings darum gehen, welche Faktoren ursächlich dafür sind, dass wir an manchen Schulen in Deutschland als Lehrerinnen und Lehrer im Idealfall gleichzeitig noch Sozialarbeiter, Therapeutinnen und Religionsexpertinnen sind und an anderen nicht.


1 www.bpb.de/politik/grundfragen/politik-einfach-fuer-alle/236616/die-grundrechte

Ausflug ins deutsche Schulsystem

»Aber wie? Welche Schule jetzt gut?«

Das deutsche Schulsystem ist ziemlich komplex. Viele Leserinnen und Leser werden sich vermutlich damit bestens auskennen, aber es halten vielleicht auch einige Interessierte das Buch in der Hand, denen es nicht so geht. Die folgende kleine Einführung soll deutlich machen, warum Lehrkräfte oft Elterngespräche führen, bei denen unser Gegenüber denkt, wir seien ein bisschen verrückt. Eltern, die mit dem dreigeteilten Schulsystem in der Sekundarstufe I überfordert sind, fragen uns dann: »Welche Schule jetzt gut?«

Das Schulsystem in Deutschland ist vierstufig, das heißt, es unterteilt sich in den Grundschulbereich, den Sekundarbereich I, der bis zum Haupt- oder Realschulabschluss führt, den Sekundarbereich II, an dessen Ende man das Abitur oder Fachabitur erreicht, den Tertiärbereich, in dem Hochschulen, Universitäten und Berufsakademien angesiedelt sind, und in einen vierten Bereich für Weiterbildungen. Der Bereich, der für die Schüler, um die es in diesem Buch geht, maßgeblich ist, ist der Sekun­darbereich I. Dieser gliedert sich in vier Schulzweige, den Haupt-, den Real- und den Gymnasialzweig. Zudem gibt es Förderschulen bzw. Förderschüler, die inzwischen in der Regel in den Gesamtschulen inklusiv beschult werden, um den berufsorientierten Schulabschluss zu erwerben.

Die Hauptschule ging in den 60er-Jahren aus der sogenannten »Volksschule« hervor. Sie sollte durch einen starken Praxis- und Handlungsbezug den Großteil der deutschen Schüler auf eine grundlegende Berufsreife vorbereiten. Insofern war der Besuch einer Hauptschule in ihren Anfängen völlig normal für Schüler, die eine Ausbildung anstrebten, denn Deutschland setzt im Bereich der schulischen Bildung auf die erwähnte Dreiteilung, die im Gymnasialzweig auf ein Studium vorbereitet. Die Schüler werden nach der vierten Klasse (in Berlin nach der sechsten Klasse) in drei unterschiedliche Leistungsniveaus aufgeteilt, Haupt, Real- und Gymnasialzweig. Manche Bundesländer haben die Hauptschulen als reine Schulform abgeschafft und in die Gesamtschulen integriert. In den neuen Bundesländern wurde sie gar nicht erst eingeführt, aber es gibt dennoch die Möglichkeit, die Gesamtschule nach der neunten Klasse mit dem Hauptschulabschluss zu verlassen.

Es gibt unterschiedlich aufgebaute Gesamtschulen. Wenn es eine kooperative Gesamtschule ist, werden die Schüler unter einem Dach ab der fünften Klasse in die drei Schulzweige aufgeteilt und die Klassen laufen ohne Berührungspunkte nebeneinander her. Die einzige Ausnahme ist oftmals der Religionsunterricht. Da dort die Schüler in Religion oder Ethik unterrichtet werden, wird das meist schulzweigübergreifend gemacht, um im Religionsunterricht eine gewisse Lerngruppengröße zu ­erreichen.

Eine weitere Sonderform ist eine Gesamtschule mit integrierter Förderstufe (an einer solchen Schule unterrichte ich). Das bedeutet, dass die Schüler erst ab der siebten Klasse in die drei Schulzweige aufgeteilt werden und bis zum Ende der sechsten Klasse gemeinsam lernen.

Die integrierte Gesamtschule hingegen beschult von der fünften bis zur zehnten Klasse alle Schüler in allen Fächern im Klassenverband, mit Ausnahme der Hauptfächer Deutsch, Mathe und Englisch. Diese werden normalerweise ab der achten Klasse je nach Leistung in Grund- und Erweiterungskurse unterrichtet. Die integrierte Gesamtschule ist somit die einzige Schulform, in der Kinder bis zur neunten Klasse gemeinsam lernen, genau wie die EU-Richtlinie zur Inklusion es fordert. Unter Inklusion versteht man die gemeinsame Beschulung aller Kinder mit allen Leistungsniveaus sowie jener mit Behinderungen und Lernschwächen in einem Klassenraum. Und doch ist die integrierte Gesamtschule in Deutschland nur eine von unzähligen anderen Schulformen. Die Regel ist eine Aufteilung in Leistungsniveaus nach der vierten Klasse.

Diese kurze Einführung macht deutlich, wie komplex unser Schulsystem ist und dass es für Eltern nicht einfach zu verstehen ist. Das ist bereits für deutsche Eltern oder solche, die schon lange hier leben, schwierig. Wie es dann den Familien ergeht, die neu in Deutschland ankommen und für ein oder sogar mehrere Kinder solche Entscheidungen treffen müssen, kann ich mir kaum vorstellen.