Renate Fabel

Pudding steht im Eisschrank

Erinnerungen an eine fabelhafte Mutter

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2000 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Thinkstockphoto

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7766-8262-5

Für Marianne, Muttis Beste

Inhalt

Als Mutti ein kleines Mädchen war   >

Als wir und die Russen nach Rudolstadt kamen   >

Als wir von Frau Püschel geduldet wurden   >

Als wir Pferdebohnen und fast ein Baby bekamen   >

Als Mutti über die Felder zog   >

Als Marianne und ich zu kleinen Ballettelfen wurden   >

Als wir eine richtige Wohnung fanden   >

Als wir in die Heidelbeeren gingen   >

Als wir sitzplatzerkämpfend unsere Tanten besuchten   >

Als Tante Lieschen für uns Pfirsiche hamsterte   >

Als wir ein Stück Land bebauten   >

Als Vati von den Russen abgeholt wurde   >

Als wir den goldenen Westen betraten   >

Als Vati nichts von sich hören ließ   >

Als Mutti die Berge nicht vertrug   >

Als die Schule unser Leben verdüsterte   >

Als wir für Filmstars und andere schwärmten   >

Als Vati mit uns einkaufen ging   >

Als Onkel Walter sich die Ehre gab   >

Als Katzen sich bei uns einschlichen   >

Als Hellmut Schwiegersohn werden wollte   >

Als Mutti ein kleines Mädchen war

Wenn Mutti – was öfter vorkam – einen unflätigen Ausdruck benützte, rollte Vati die kugelrunden Blauaugen, seufzte und sagte mit betontem Hamburger Akzent: »Buttergasse.« Das hieß so viel wie: Was soll man anderes von einer Handwerkertochter erwarten, die in einer Straße namens Buttergasse im sächsischen Eilenburg aufgewachsen ist?

Mutti ging hoch wie eine Rakete. Wenn man selbst, wie sie hämisch und ganz ohne ihren üblichen Charme bemerkte, einen Urgroßvater besaß, der simpler Hoboist beim Militär gewesen war, und eine Mutter, der beim Anblick ihrer Schwiegertochter das Gummiband von der Unterhose riss, sollte man ganz still sein. Adel kam von Herzen, konnte nicht durch diverse Universitätsdiplome erworben werden. Außerdem hätte sie niemals in der Buttergasse gewohnt.

Hatte sie auch nicht. Mutti war in der Torgauer Straße zur Welt gekommen und spielte nur (meistens ganz allein) in der Buttergasse. Erst mit Gänseblümchen, die sie zu meterlangen Ketten knüpfte, später mit jungen Katzen. Die zwängte sie in Puppenkleider und fuhr sie in einem Handwagen spazieren. Und da sie damals schon verschmierte Augen hasste – bei Marianne und mir ließ sie in dieser Beziehung nichts durchgehen –, rieb sie den Minitigern mit Spucke und ihrem Rockzipfel die müden Augen sauber. Ergriffen die Kätzchen dann die Flucht und tauchte auch sonst niemand zur Gesellschaft auf, wackelte Mutti alias Marianne Charlotte in die Torgauer Straße und versuchte einen Blick in Vaters Schmiede zu werfen.

Viel lieber aber saß sie bei der Mutter in der Küche. Die kleine Marianne liebte ihre Mutter über alles, lief ihr nach wie ein Hündchen und bettelte stumm um ihre Aufmerksamkeit. Zu gern hätte die Mutter diese Anhänglichkeit erwidert, nur fehlte ihr einfach die Zeit. Zeit und auch Kraft. Mutti-Marianne war ein Kind zu viel. Auf Walter, den Zweitjüngsten mit seinem trotzigen Gesicht unter dem roten glatt gestriegelten Haar und der aufrechten Gestalt, war man ja noch stolz gewesen, aber musste danach noch ein Mädchen kommen?

Das Ehepaar Bornikoel hatte acht Kinder. Drei stammten aus der ersten Ehe des Wagenbauers und Schmieds Rudolf Bornikoel, fünf stellten sich während seiner Ehe mit Elise, geborene Weder, ein. Dabei wollte Elise gar nicht heiraten, sondern viel lieber Lehrerin werden. Doch dazu fehlte der Gärtnerfamilie das Geld. Außerdem ließ sie der Gärtnermeister spüren, dass er nicht wirklich ihr Vater war. (Ein Geheimnis, das mir Mutti eines Tages tränenüberströmt anvertraute. Alles, was ihre Mutter betraf, war ihr heilig: »Schwöre mir, dass du niemandem davon erzählst. Vor allem nicht Vati.«) Man hatte Elises Mutter, die bei einem reichen Mann im Dienst gewesen war, rasch mit Gärtner Weder verheiratet, als sich ein Kind ankündigte. Elise litt schwer unter dem Makel. Deshalb sagte sie, als der Witwer Bornikoel um ihre Hand anhielt, nach kurzem Überlegen Ja. Damit war sie untergebracht, außerdem brauchten die verwaisten Kinder eine Mutter.

Viel Freude hatte sie mit den dreien nicht. Sohn Rudi zog in den Krieg, führte dort ein flottes Leben und ließ die Rechnungen für seine Zigarren und maßgeschneiderten Anzüge ins Elternhaus schicken (wo Elise sie abfing, um den Vater nicht noch zorniger zu machen). Eines Tages flatterte dann die Todesanzeige des Zwanzigjährigen ins Haus. Das war 1917, das Jahr, in dem Mutti geboren wurde. Martha, die älteste Tochter, war genauso leichtsinnig. Kokett tänzelte sie durch das Provinznest Eilenburg und nahm verschiedene Stellungen an, bis sie von einem algerischen Soldaten ein Kind bekam. Eine Riesenschande, über die der stockbürgerliche Rudolf Bornikoel – eine Art Meister Anton –, Spross einer überaus ehrenwerten, alteingesessenen Familie und Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, nie hinwegkam. Zwar brachte er seine Tochter nicht, wie in dem Hebbel-Drama, um, doch er warf sie aus seinem Haus, während ihr Kind bleiben durfte.

»Ein kleiner Farbiger mit Kraushaar«, erinnerte sich Mutti. Vati wurde auch dieses peinliche Detail verschwiegen. »Kaum jünger als ich, seinen Namen weiß ich nicht mehr. Trieb sich meistens im Hof herum, und niemand nahm Notiz von ihm. Die einzige, die nett zu ihm war, war meine Mutter.«

Trotzdem verschwand der Junge – wahrscheinlich auf Betreiben von Rudolf Bornikoel – später in einem Heim. So viel über Martha. Wenigstens machte Mariechen, ihre jüngere Schwester, der Familie keinen Kummer. Sie arbeitete als Krankenschwester in Leipzig, verheiratete sich dort mit einem gewissen Begander und hielt bis zuletzt Kontakt mit der Familie.

Und dann gab es noch die fünf Kinder, die Elise ihrem Mann schenkte: Fritz, Elise, genannt Lieschen, Margarete, genannt Gretchen, Walter und Mutti-Marianne. Alle hatten sie Rudolf Bornikoels rötliches Haar, die empfindliche Haut und seine Sommersprossen geerbt, bei Mutti kamen die feinen Züge ihrer Mutter hinzu (die später auf meine Schwester Marianne übergingen, ich ähnle stärker Vati). Der Solideste war Fritz – er wurde Zimmermann –, die Dickste und Gewissenhafteste Lieschen, die Hübscheste und auch Verwöhnteste Gretchen, der Begabteste Walter, die Unauffälligste Mutti. Eine Geschichte über ihre beiden Schwestern liebte Mutti besonders. »Es war Weihnachten, und Lieschen und Gretchen hatten ein Wunderknäuel geschenkt bekommen. Du weißt schon, das ist ein Knäuel Wolle mit einer Überraschung drin. Gretchen ribbelte auf der Stelle ihr Knäuel auf und fand einen Ring. Damit war die Spannung weg. Sie quengelte so lange herum, bis unsere Mutter seufzend ihre Älteste bat, Gretchen den Gefallen zu tun, ihr Knäuel aufribbeln zu dürfen. Lieschen ist darüber nie hinweggekommen.«

Gretchen heiratete früh Karl Heinke, einen sehr feinen, zurückhaltenden Mann, bekam zwei Söhne, die Mutti, ihre blutjunge Tante, stolz im Kinderwagen ausfuhr. Lieschen verlobte sich spät mit Kurt Ostertag, einem Charmeur, und zögerte die Heirat Jahre hinaus, weil sie sich im Bornikoelschen Haushalt unentbehrlich fühlte. Aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen (Drüsenkrankheit? Daher auch ihr Umfang?) konnte sie keine Kinder bekommen.

Unbestrittener Stolz der Familie war Sohn Walter. Nachkömmling wie seine Schwester Marianne, beschützte er sie von klein auf und wachte darüber, dass ihr niemand etwas zuleide tat. Später dann, als sie als hübscher Backfisch in den Eilenburger Ruderklub eintrat, verstärkte er seine Bewachung. Zum Ausgleich nahm Mutti seine häufig wechselnden Bräute kritisch unter die Lupe.

Bei den Bornikoels herrschte ein strenges Regiment. Alle hatten dem Chef der Familie zu gehorchen, Widerspruch wurde nicht geduldet. Bei den Mahlzeiten, zu denen sich neben den Eltern alle im Haus lebenden Kinder einschließlich Gesellen und Lehrlingen um den Holztisch versammelten, hatte der Vater einen langen Ledergürtel neben sich liegen. Gab es irgendwo Unruhe oder es wurde gezeckt, holte er ohne Vorwarnung mit dem Gürtel aus.

»Einmal erwischte es mich, obwohl ich keinen Mucks von mir gegeben hatte. Der Vater zielte auf Walter, dabei traf die Metallschnalle meinen kleinen Zeh. Das hat vielleicht gerebbelt.« Unwillkürlich fiel sie ins breiteste Sächsisch. »Buttergasse«, formten Vatis Lippen lautlos.

Doch es gab auch schöne Erinnerungen. Hochzeiten oder die Taufe von Gretchens Söhnen Werner und Martin, zu der sich die ganze Familie einfand, Blonde trank und Lieschens fette Torten aß, Sommerabende mit Lampions an der Mulde oder Ausflüge mit Hängematte und belegten Bemmen in den Stadtpark. Dort wurden auch Fotos gemacht, die Mutti durch die Kriegswirren gerettet hatte und wie ihren Augapfel hütete. Auf diesen Fotos lernte ich meine Großmutter kennen, eine stets ernste, schwarz gekleidete Frau mit schlichtem Knoten. Trotz ihrer bescheidenen Erscheinung stand sie immer im Mittelpunkt, alle Augen waren auf sie gerichtet. Und – wie konnte es anders sein – neben ihr stand oder saß mit schöner Regelmäßigkeit Mutti, die Jüngste, und hatte den Arm fürsorglich um die Mutter gelegt.

Ihren jähzornigen Vater fürchtete Mutti (wehe, man öffnete die Tür zur Schmiede, wenn er gerade einen rot glühenden Reifen um ein Wagenrad legte. Dann gab es Zugluft, und alle Mühe war umsonst gewesen), ihre Mutter dagegen vergötterte sie. Nichts liebte sie mehr, als auf der Fußbank neben dem Küchentisch zu sitzen, der Mutter beim Kartoffelschälen zu helfen oder den Besteckkasten aufzuräumen. Elise ließ sie machen. Es schmerzte sie, dass sie nicht genug Zeit für ihre Jüngste hatte, doch sie war weit über vierzig und fühlte sich müde und verbraucht. Dazu kam die finanzielle Misere.

Wie alle guten Deutschen hatte auch Rudolf Bornikoel Kriegsanleihen gezeichnet und damit sein ganzes Vermögen verloren. Also nicht nur das Geld, das er für jedes Kind auf der Bank angelegt hatte (immerhin pro Kopf achttausend Goldmark) und seine eigenen Rücklagen, sondern auch sämtliche ererbten Grundstücke und Häuser. »Dabei haben wir einmal zur Eilenburger Hautevolee gehört«, gab Mutti gern an. Ein Hieb gegen Vati, dessen Vorfahren über Generationen hinweg in grauer Durchschnittlichkeit dahingelebt hatten. »Mein Großvater hatte die geniale Idee, der ehemals sächsisch kurfürstlichen Hofschmiede eine Wagenbauerei anzugliedern, und verdiente damit sehr viel Geld. Seine Kaleschen und leichten Jagdwagen waren in ganz Deutschland berühmt. Für eine seiner Kutschen erhielt er auf der Pariser Weltausstellung sogar eine Goldmedaille.« Stolz guckte sie sich in der Runde um, um dann lachend fortzufahren: »Sein Laster war die Völlerei. Großvater war dem Hörensagen nach so dick, dass ihm ein Lehrjunge aus den Stiefeln helfen musste. Danach nickte er vor Anstrengung am Tisch ein.«

Das war lange her. Sohn Rudolf hatte zwar die handwerkliche Geschicklichkeit seines Vaters geerbt, nicht aber dessen Geschäftssinn. Verträge legte er grundsätzlich nicht schriftlich nieder, ein Handschlag genügte (was viele Kunden ausnützten). Dazu kam, dass Kutschen und Schlitten immer weniger gefragt waren. Das Zeitalter des Automobils brach an, sogar durch Eilenburg knatterten die ersten Daimler. Und Bornikoels Hauptklientel – Zigeuner, fahrendes Volk – drückte sich geschickt vor dem Bezahlen. Als letzte Rettung schickte Rudolf einmal seinen Sohn Walter zum Schuldeneintreiben auf den Rummelplatz nach Doberschütz. Mit einer Tüte gebrannter Mandeln kehrte er zurück – das ganze Honorar.

Elise wusste nicht mehr ein noch aus. Wie sollte sie eine so große Familie ernähren? Hinzu kamen Kaninchen, Hühner, Enten, sogar eine Ziege (Muttis beste Freundin, die sie stundenlang kämmte). Mit bangem Herzen beobachtete Mutti-Marianne die Mutter, wenn sie am Biedermeiersekretär saß und sorgenvoll Zahlen in ein Wachstuchheft eintrug. Später schlich sie dann an Mutters Portemonnaie, um heimlich die Münzen nachzuzählen. Ein paar Markstücke und einige wenige Groschen – wie lange wurde man davon satt?

»Mutter, wenn alle Eiskristalle Diamanten wären, dann hätten wir doch für immer genug zu essen?«, löcherte sie die Mutter, als sie gemeinsam in einer eiskalten Christnacht zur Kirche liefen.

»Dann schon«, lächelte Elise. »Aber, Kind, wir wären nicht die Einzigen, die sie aufheben würden. Und ich mit meinem kaputten Kreuz ...?«

Mutti lernte gut und bekam in der Realschule einen Freiplatz. Sie galt als kämpferisch und couragiert und ließ sich nichts gefallen, schon gar nicht die herablassenden Bemerkungen von ihren Mitschülerinnen oder deren Müttern. Andererseits setzte sie sich für die noch Bedürftigeren ein, verhalf ihnen zu ihrem Recht. Rasch gehörte Mutti zu den beliebtesten Mädchen in der Schule, alle wollten die Freundin von Bornikoels Marianne mit den langen Zöpfen unter der Schülermütze und dem goldenen Herzen sein. Aber Mutti hatte für Freundschaften keine Zeit. Nach Schulschluss drängte es sie immer gleich nach Hause, da die Mutter an Darmkrebs erkrankt war.

Lag sie in ihrem Bett oder hatte man sie wieder ins Krankenhaus gebracht (wenn das Geld dazu reichte)? Was verriet Lieschens versteinerte Miene? Ging es der Mutter wirklich so schlecht? Während die Mitschülerinnen Konfirmation feierten und von Reisen an die Ostsee schwärmten, zitterte Mutti um das Leben ihrer Mutter. Obwohl Fritz und Lieschen ihr gesamtes Gehalt ablieferten, konnte später kein Arzt mehr bezahlt werden. Im Alter von vierundfünfzig starb Elise Bornikoel qualvoll.

Über den Tod ihrer Mutter kam Mutti niemals hinweg. Wenn sie auch weiterhin die Schule besuchte, sich zu einer tüchtigen Ruderin entwickelte, auch harmlose kleine Flirts hatte – der Schmerz saß tief. Die Fünfzehnjährige haderte. Warum ging es anderen Frauen so gut, wurden sie vom Schicksal und ihren Männern verwöhnt, während das Leben einer Heiligen wie Elise Bornikoel aus nichts anderem als Kummer und Sorgen bestanden hatte? Warum, warum? Wie sie der Tochter fehlte! Der liebe Gott war so ungerecht. Natürlich, da gab es die Schwester Lieschen, die jetzt daheim das Kommando führte (Vater Rudolf hatte in der Zwischenzeit seinen Betrieb aufgegeben, saß meistens, ein Enkel auf den Knien, in seinem Lehnstuhl und sah auf die Torgauer Straße hinunter), doch bei ihr hatte niemand etwas zu lachen. Marianne, die Jüngste, schon gar nicht.

»Immer, wenn ich sonntags ins Bootshaus wollte, holte Lieschen sämtliche Töpfe, Tiegel und Pfannen aus dem Küchenschrank, um sie gemeinsam mit mir mal wieder gründlich zu reinigen. Dann kamen die Suppenschüsseln dran, das Nachtgeschirr ... Es war zum Junge-Hunde-Kriegen. Die Sonne verschwand hinter den Dächern, und wir wuschen und trockneten immer noch ab. Bis Walter mich schließlich mit einer List aus dem Haus lockte.«

Nach der mittleren Reife verließ Mutti die Schule und fand Anstellung in der einzigen großen Fabrik von Eilenburg. Sie sollte zur Laborassistentin ausgebildet werden. Mutti war höflich und fleißig, ließ sich aber auch an ihrem Arbeitsplatz nichts bieten. Schon gar nicht von ihrer Vorgesetzten Edith Schünemann, der das blutjunge Ding mit den Affenschaukeln und den tadellosen weißen Zähnen ein Dorn im Auge war. Wie kam die Bornikoel dazu, zu kichern, wenn Dr. Karl Fabel, der Laborchef, mit aufgeblasenen Backen in ein Röhrchen pustete? Völlig respektlos.

Mutti hatte nur gelacht, weil die Szene so komisch wirkte. Sie meinte, das rote Gesicht ihres Chefs müsste jeden Augenblick platzen. Aber sonst fand sie den Hamburger mit den wenigen Haaren und der frischen Gesichtsfarbe, der in seiner Freizeit Schachbücher schrieb, recht nett. Deshalb sagte sie auch Ja, als er sie zu einem Theaterbesuch in Leipzig einlud. (In seinem Hotelzimmer fühlte er sich so allein.) Und wenn auch nur, um der Schünemann, die selbst ein Auge auf den Chef geworfen hatte, eins auszuwischen. Und wann kam sie sonst ins Theater?

Ja sagte sie auch, als Dr. Fabel ihr einen Heiratsantrag machte. Damit fiel zu Hause ein Esser weg, und ihr alter Vater würde sich für seine Puppine freuen. Außerdem hatte sie den Akademiker Fabel in der Zwischenzeit richtig lieb gewonnen.

Mit achtzehn heiratete Mutti Vati (das war 1936). Mit einundzwanzig hatte sie zwei Töchter bekommen, Marianne und mich, und nebenbei brach der Weltkrieg aus. Von Anfang an hatte sich Mutti vorgenommen, ihren Kindern all die Wärme, Zuneigung und mütterliche Liebe zu geben, die sie selbst so schmerzlich vermisst hatte. Und niemals sollten sie Angst haben wie sie selbst so viele Jahre lang. Mutti hielt Wort, in schlechten wie in guten Zeiten. So wurde Marianne Fabel geborene Bornikoel zur für mich besten aller Mütter.

Als wir und die Russen nach
Rudolstadt kamen

Rudolstadt roch so richtig nach fettem Hammelbraten. Hammelbraten war gut. Viel besser jedenfalls als all die Mehlpampen und gestreckten Eintöpfe und rohen Möhren, von denen wir in den letzten Wochen gelebt hatten. Also gefiel es mir gleich am ersten Tag in Rudolstadt.

»Ich kriege das größte Stück Fleisch«, sagte ich zu meiner Schwester Marianne, die wie mein Abziehbild neben mir auf dem Hotelbett saß. Obwohl sie anderthalb Jahre älter war als ich, zog Mutti uns immer wie Zwillinge an. Im Augenblick waren wir auch gerade gleich groß.

»Pst«, blinkerte sie mit wichtiger Miene. »Wenn Erwachsene sprechen, stört man nicht.« Das sagte sie mit Absicht laut, weil sie sich bei Vati einschmeicheln wollte. Dabei war sie im Grunde Muttis Liebling, die ihr auch die Sommersprossen und blauen Chinesenaugen vererbt hatte.

In der Gaststube gab es außer Hammelbraten noch sogenannte Thüringer Klöße, die wie graugrüne Wattebälle aussahen und nach Geburtstag schmeckten. Man durfte so viele davon essen, wie man wollte. Ohne eine Pause zu machen, schaffte ich vier.

»Wie in Friedenszeiten«, seufzte Mutti glücklich, und Vati nickte. Dabei war ja eigentlich auch wieder Frieden, wenigstens war der Krieg vor zwei Monaten zu Ende gegangen. Ich wusste bis jetzt noch nicht, was mir von beidem besser gefiel.

Krieg – das war Sirenengeheule gewesen, wenn man gerade so schön eingeschlafen war, und Muttis weiche Arme, die einen, in eine Wolldecke gehüllt, in den Luftschutzkeller trugen, und dicke Brillen, die man draußen gegen den Rauch aufsetzen musste, und Straßen, in denen nachts keine Lichter brannten. Mutti weinte oft, weil das, wie sie sagte, kein Leben für eine junge Frau und noch weniger eines für Kleinkinder sei. Außerdem machte sie sich Sorgen um Vati, der irgendwo in Italien kämpfte.

Jetzt war Frieden und Vati wieder da.

Für unsere erste gemeinsame Nacht in Rudolstadt hatten wir zwei Hotelzimmer gemietet, eines für Mutti und Vati und eines für Marianne und mich. Da lag ich nun zwischen fremden, kalten Kissen und sehnte mich nach Mutti, die mich, wenn Vati nicht zu Hause war, immer mit in ihr Bett genommen hatte.

Hoffentlich würden heute keine bösen Geister auf den Jalousien erscheinen. Davor hatte ich immer in Berlin Angst gehabt, dort, wo ich geboren war und wo das Zigeunerleben und die ganze Misere ihren Anfang genommen hatten, wie Mutti gerne sagte.

Mit dem Zigeunerleben meinte sie wohl die ewige Umzieherei der letzten Jahre und mit der Misere den Krieg. Ich war stolz, gleichzeitig mit dem Krieg auf die Welt gekommen zu sein, da konnte sich wenigstens jeder mein Geburtsdatum merken.

Anfangs war ja auch noch alles hell und friedlich gewesen.

Mutti trug breitrandige Hüte, eine eingebrannte Dauerwelle und getupfte Kleider mit Volants. Ihren Jugendtraum von einem Armband aus Korallen hatte sie sich mithilfe von Schmu-Haushaltsgeld erfüllt. Berlin verschlug ihr den Atem, und sie durchlief herzklopfend die großen Warenhäuser und sah sich Heinrich George im Schillertheater an. Im Kino bevorzugte sie Willy Fritsch und Kristina Söderbaum. »Die goldene Stadt« – ein Film, der sie zum Schluchzen brachte. Und als sich der Führer einmal in der Tauentzienstraße freundlich lächelnd über Marianne und mich niederbeugte – wir saßen, Marianne mich mit beiden Armen umfassend, im Sportwagen aus weißem Korb –, starb sie fast vor Stolz (das alles hat mir später Tante Lieschen erzählt).

Wir wohnten in einem großen Eckhaus, das einen roten Läufer auf der Treppe und eine Portiersfrau hatte. Das Haus war so fein, dass keines von den Kindern im Hinterhof unter der dürren Birke spielen durfte, und wenn Mutti den Kinderwagen herauf- und herunterbuckelte, musste sie die Hintertreppe benutzen. Vati arbeitete im Patentamt als Regierungsrat und kam jeden Mittag zum Essen heim (dann zitterte Mutti vor seinen Ansprüchen). Sonntags besuchten wir mit ihm den »Onkel Denkmal« am Landwehrkanal, wo Vati sich nicht genierte, zu dritt Verstecken zu spielen. Und als er gegen Muttis Willen darauf bestand, mir beizubringen, wie man einen Brief in den Kasten wirft, holte ich mir auf der Stirn eine Narbe, die nie wieder wegging. Da feierte ich gerade meinen dritten Geburtstag.

Doch bald mussten wir raus aus Berlin. Wir – das waren Mutti, Marianne und ich. In Sachsen, Muttis Heimat, würde es sicherer für uns sein. Nur Vati durfte nicht mit, ihn brauchte man als Soldat.

Im sächsischen Eilenburg wohnten einige von Muttis Schwestern. Erst freuten sie sich über die kleinen Nichten aus Berlin, dann störten wir eher. Wir wohnten bei Tante Lieschen, die aber keinen Fingerabdruck auf ihren Mahagonimöbeln duldete, und dann bei Tante Gretchen, in deren Garten man bei jedem Schritt in Hühnerkacke trat. Dafür gab es dort eine Schaukel, die so tief hing, dass mich niemand draufheben musste.

Am Marktplatz fand Mutti endlich eine Wohnung ganz für uns allein. Mit einem Teil unserer Möbel aus Berlin richteten wir uns wieder »hochherrschaftlich« ein. Mittags hörte man die Glocken von der Kirche nebenan läuten.

An Vati dachte ich erst wieder, als er uns ganz überraschend besuchte. Mutti war gerade in den Himbeeren, und Marianne und ich kreiselten auf dem Asphalt. Da stand mit einem Mal ein Mann in Uniform und mit wenigen Haaren auf der anderen Straßenseite.

»Ist das nicht Vati?«, fragte ich Marianne und hoffte, er wäre es nicht. Mit Mutti allein war es so gemütlich gewesen. Er war es aber doch, und wir mussten ihn zu unserer Wohnung führen, wo er sich gleich auf das Sofa legte und sich von mir den Kopf krabbeln ließ. Ich krabbelte so lange, bis er eingeschlafen war. Dann liefen wir zu unseren Kreiseln zurück.

Mutti kam sehr spät und sehr lustig von den Himbeeren heim. Als sie Vati am Tisch sitzen sah, schrie sie laut »Oh!«, weil er so dünn geworden war und kein besonders freundliches Gesicht machte. Immerhin war es schon später als sechs und der Tisch noch nicht gedeckt. Von jetzt an wehte zu Hause wieder ein anderer Wind.

Trotzdem waren wir glücklich, Vati wieder bei uns zu haben, denn mit einem Mal hagelte es nur so Bomben- und Artillerieangriffe. Schließlich wurde es so schlimm, dass Mutti einen Handkoffer mit dem Nötigsten packte und vorschlug, ganz in den Luftschutzkeller hinunterzuziehen. Vorher durften Marianne und ich uns noch eine Puppe zum Spielen aussuchen. Das war eine schwierige Wahl, nach vielem Hin und Her entschlossen wir uns dann beide für unsere Ingeborgs mit dem Seitenscheitel. Im Keller waren die besten Plätze schon besetzt, für uns blieb nur der Kohlenhaufen. Dort hielten wir uns alle vier fest umklammert, und immer, wenn das Artilleriefeuer stärker einsetzte, flüsterte Mutti: »Kommt, rückt noch enger zusammen, dann trifft es uns, wenn es uns schon treffen soll, wenigstens gemeinsam.«

Vati, der manchmal so gewisse Ideen hatte, von denen er sich durch nichts abbringen ließ, meinte, Onkel Kurt und Tante Lieschen könnten doch vielleicht unseren wertvollen Radioapparat mit in ihrem Keller unterstellen. Bei uns war das nämlich verboten. Aber Onkel Kurt weigerte sich. Mit der Begründung, man könnte Maler Glorius, dem Hausbesitzer, nicht zu viel zumuten. Natürlich verbrannte unser Radioapparat, und natürlich verbrannte nichts von Tante Lieschens untergestelltem Weißzeug und dem Meißener Porzellan. All das hat Vati Muttis Verwandtschaft niemals verziehen.

Eilenburg war für Nicht-Eilenburger eine hässliche Stadt, in der Umgebung nannte man es nur die »Zelluloidbude«. Nun wurde Eilenburg aber gleich zweifach in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs bekannt: Erstens hat es sich bis zur allerletzten Minute verteidigt, und zweitens trafen sich an seinem Fluss, der Mulde, die Russen und die Amerikaner.

Eines Nachts forderte der Bürgermeister durch einen Lautsprecher alle Erwachsenen auf, sich auf dem Marktplatz einzufinden. Muttis langer Morgenrock zipfelte nach hinten, als sie Arm in Arm mit Vati die Kellertreppe hinaufschritt. Wenig später kehrten sie zurück, gaben Marianne und mir einen Kuss und sagten, jetzt sei alles vorbei. Dabei wirkten sie sehr erschöpft. Das musste an den acht Tagen Keller liegen.

Gerade wollten wir unsere Sachen zusammensuchen und wieder in die Wohnung zurückgehen, da waberte dicker Rauch die Treppe hinunter. Hastig drängte uns Vati hinaus auf die Straße. Da sah man, dass nicht nur unser Haus und die Kirche nebenan, sondern die ganze Umgebung in Flammen stand (durch Funkenflug, wie es später hieß). Der Kirchturm wackelte, als ob er jeden Augenblick einstürzen würde, und durch die Fensterhöhlen in unserem dritten Stock konnte ich mein verglühtes Gitterbett sehen. Es gab kaum einen Ausweg mehr. Wohin wir auch mit unserem Handwagen zogen, überall schlugen uns Flammen entgegen. Der Qualm stieg in die Augen, und dauernd mussten wir stehen bleiben, um uns auszuhusten.

»Jetzt gehen wir zu den Amerikanern und sagen, sie sollen uns erschießen. Ich kann nämlich nicht mehr.« Mutti ließ die Deichsel aus der Hand fallen und fing an zu weinen.

Vati wollte solchen Unsinn nicht hören, wagte aber nicht, sie in diesem Augenblick anzuschnauzen. Da stolperten wir fast über ein altes Ehepaar, das Hand in Hand und mit einem friedlichen Lächeln auf den Gesichtern quer über der Straße lag.

»Marianne, Renate«, schluchzte Mutti auf und entwickelte auf einmal Kräfte wie ein Mann. Irgendwo musste die Flammenwand doch mal aufhören.

Wir landeten in Kasernen und Lazaretten, bis sich Onkel Kurt und Tante Lieschen wieder einmal der kleinen Schwester und ihrer Familie erbarmten. Und das, obwohl sie gerade damit beschäftigt waren, den Verlust von zwei Sammeltassen zu beklagen.

Die Tage rannen dahin, Vati wurde unruhig. Schließlich war der Krieg jetzt zu Ende, und er wollte wieder eine Stellung haben. Mutti bot an, sich nach Berlin durchzuschlagen und Näheres über unsere alte Wohnung und das Patentamt in Erfahrung zu bringen. Nach über einer Woche kam sie ganz erledigt zurück, mit einem zusammengerollten Teppich unter dem Arm (mehr hatte sie nicht schleppen können) und der Nachricht, dass das Patentamt vorläufig stillgelegt sei.

Da hörte Vati von einem Zellwollwerk in Schwarza, das einen Chemiker suchte. Schwarza lag in Thüringen und war nur sechs Kilometer von dem bekannteren und größeren Rudolstadt entfernt. Mutti nickte, als sie den Namen hörte. Das Saaleufer sollte dort besonders malerisch sein. Irgendwo musste das Leben ja weitergehen, warum also nicht in Rudolstadt? Vati bekam die Stellung, und er machte sich sofort auf den Weg. Wir drei sollten später nachkommen.

Gerade hatte ich »please give me chocolate« gelernt und mit einem kaugummikauenden amerikanischen Soldaten Freundschaft geschlossen (wir besiegelten das durch einen Kuss), da war es auch schon so weit. Vati hatte eine Wohnung gefunden. Eine eigene Wohnung! Mutti jubelte. Keinen Tag länger mehr wollte sie auf fremde Gnade angewiesen sein. Über die Landstraße zogen wir davon, Mutti mit dem Leiterwagen, Marianne und ich mit Puppenwagen, die uns Onkel Kurt zu Ostern gezimmert hatte.

In Leipzig erfuhren wir, dass alle Brücken zerstört waren und man oft tagelang auf einen Zug warten musste. Mit ihren Blasen an den Füßen konnte Marianne aber keinen ordentlichen Schritt mehr machen. Also blieben wir bei Tante Mariechen, die in der Nähe der Thomaskirche wohnte. Sie arbeitete in einem Krankenhaus und lachte den ganzen Tag. Um ihren Nichten eine Freude zu machen, spielte sie jeden Tag Nikolaus und versteckte ein Stück Gurke oder einen Kohlrabi in unseren Sandalen. Manchmal rauchte Mutti eine Zigarette mit ihr.

Es sah so aus, als würde es ein heißer Sommer, der Sommer 1945. Über den Trümmern von Leipzig schwebte ein blauer Himmel, und einmal verirrte sich ein ebenso blauer Schmetterling in Tante Mariechens Esszimmer. Da wurde Mutti unruhig und wollte weiter. Sicher machte sich Vati schon Sorgen um seine Familie.

Unterwegs musste Mutti Marianne trösten, die sich schrecklich darüber aufregte, dass ich meiner Ingeborg für die Reise ein weißes Nachthemd angezogen hatte. Dabei beobachtete uns ein Rumäne von seinem Lastwagen aus, er lachte und fragte, ob wir nicht zusteigen wollten. Ich fürchtete mich vor seinem struppigen Bart und den groben, schmutzigen Händen, aber als er mir ein Kommissbrot mit Erdbeermarmelade anbot, biss ich trotzdem zu. Die Nacht verbrachten wir zwischen anderen Frauen und Kindern in einem rumänischen Lager. Leise spielte die Ziehharmonika.

Leider mussten wir die Gastfreundschaft hinterher teuer bezahlen. In Weißenfels, wo Mutti wieder irgendwelche Verwandten auftrieb, stellte nämlich die Friseuse fest, dass es auf Muttis Kopf von Läusen nur so wimmelte. Bei Marianne und mir sah es nicht besser aus. Erst wurde Mutti halbkrank vor Ekel, dann packte sie die Vernichtungswut. Abwechselnd klemmte sie sich einen hell- und einen mittelblonden Kinderkopf zwischen die Knie und begann wie im Fieber Läuse und Nissen zu knacken. »Da, wieder eine, die zehnte, nein, ich glaube, wahrhaftig die elfte. Dich Biest kriege ich schon«, zischte sie dabei vor sich hin und knipste mit den Fingernägeln. Aber die Jagd hatte sich gelohnt – alle drei durften wir unsere Haare behalten. Das war besonders für Mutti wichtig, die Vati in Rudolstadt mit der viel besprochenen Innenrolle überraschen wollte.

Rudolstadt – nach einer endlosen, staubbedeckten Chaussee tauchte es endlich vor uns auf. Und da war auch schon Vati, mit einer Baskenmütze auf dem Kopf. Er lachte, dass man seinen Goldzahn blitzen sah, und nahm erst Mutti, dann mich und dann Marianne in die Arme. Wie er beim Hammelbraten erzählte, hatte er uns inzwischen in mehreren Flüchtlingslagern gesucht. Doch immer, wenn er zwischen den Pritschen leise »Mutti, Mutti« rief, hatte ihm eine falsche geantwortet. Aber jetzt waren wir ja alle wieder zusammen, und morgen würden wir gemeinsam unsere neue Wohnung besuchen.

Ob ich dort auch allein im Bett schlafen musste? Unruhig wälzte ich mich hin und her. Gott sei Dank war kein Gesicht auf den Jalousien aufgetaucht, und die Kissen fühlten sich auch nicht mehr so fremd an wie am Anfang. Wenn es das nächste Mal Thüringer Klöße gab, wollte ich fünf in Angriff nehmen ...

Irgendwann in der Nacht erwachte ich von einem gewaltigen Lärm. War der Krieg wieder losgegangen und mussten wir in den Luftschutzkeller hinunter? Da war auch schon Vati und hob mich aus dem Bett. Ohne ein Wort zu sagen, stellte er mich aufs Fensterbrett. Neben uns stand Mutti und hielt Marianne umfasst. Draußen rollten schwere Wagen durch die Dunkelheit, einer nach dem anderen, und Männer mit Pelzmützen saßen darauf. Im Mondlicht konnte ich alles genau erkennen. Man hörte Rufe in einer fremden Sprache. Das war nicht Amerikanisch und auch nicht Rumänisch, so viel verstand ich. Es klang viel fremder und auch viel wilder.

»Die Russen«, sagte Vati leise und zog Mutti an sich. »Die Russen sind gekommen.« Sie nickte stumm, als wenn ihr das ganz egal wäre. Wahrscheinlich wünschte sie nur, jetzt nichts als weiterschlafen zu dürfen und morgen in eine Wohnung zu ziehen, wo man nicht dauernd Danke und Bitte sagen musste. Sie war so kaputt, dass sie auch vergaß, mich für den Rest der Nacht mit in ihr Bett zu nehmen.

Als wir von Frau Püschel
geduldet wurden

Die Wohnung war eine Dachkammer in der Augustenstraße, und zwar die engste, schiefste und schäbigste, die ich je gesehen hatte. Da hatte ja Tante Lieschens Dienstmädchen wie eine Königin gewohnt. In dieser Dachkammer mussten sich jetzt zwei Erwachsene und zwei Kinder herumdrücken, während Frau Püschel, die Vermieterin, mit ihrer Mutter drei Zimmer, ein Bad und eine Küche für sich hatte und uns trotzdem noch wie Ungeziefer behandelte.

Das erboste Mutti, die Ungerechtigkeit nicht aushalten konnte, und unglücklich betrachtete sie von ihrem Dachfenster aus, wie sich im Nebenhaus eine Russin genüsslich mit schäumender Seife an einer Porzellanschüssel wusch. Wir hatten keine Seife und schon gar keine Porzellanschüssel. Ja, auf einmal hatten wir so wenig wie nie zuvor. (Daran waren, wie Vati sagte, die Russen schuld.) Fast nichts zu essen und keine Rechte und wenig Hoffnung, dass sich etwas ändern würde, und nicht einmal einen Familienfrieden. Vati und Mutti zankten sich viel.

Vielleicht lag das daran, dass sie sich so lange nicht gesehen hatten oder beide Angst vor der Zukunft hatten, jedenfalls durften Marianne und ich manchmal abends nicht nach oben kommen, weil sich die Eltern noch zu Ende streiten mussten. Das war nicht schön, auf der dunklen Straße zu stehen, wenn man das traurige und so junge Profil von Mutti hinter der Scheibe sah. Da hatte es uns sogar auf dem Kohlenhaufen am Marktplatz noch besser gefallen.

Die Augustenstraße war eine hübsche Straße mit vielen efeubewachsenen Häusern, die früher zum Teil berühmten Leuten gehört hatten. Mutti nannte mal eine Charlotte von Lengefeld. Jedes Haus stand in einem wild blühenden Garten, nur da, wo wir wohnten, wirkte er kläglich. Trotzdem hatte uns Frau Püschel streng verboten, den Rasen zu betreten. So blieb zum Spielen nur eine kleine Ecke mit Sand, an der jeder Hund anhielt, um hinzupinkeln. Aber mit Sand konnte man wenigstens spielen. Marianne und ich schaufelten mit beiden Händen darin herum, liehen uns von Mutti eine Tasse, um Sandkuchen auszustechen, oder vermischten den Sand mit klein gehacktem Löwenzahn. Wenn uns dann gar nichts mehr einfiel, suchten wir nach Ameisen, um sie mit heißem Muckefuck zu übergießen.

Manchmal kam auch Heinz dazu, ein käseblasser Junge aus der Kellerwohnung, der eine winzige Lore besaß. Fünfmal nahm ich den Anlauf, ihn zu fragen, ob ich die Lore ein einziges Mal mit der Hand durch den Sand schieben durfte. Als ich mich dann endlich getraute, stotterte ich. Heinz erlaubte es höchst ungern. Diese Unfreundlichkeit hatte er von seiner Mutter geerbt, die ihn den ganzen Tag über beschimpfte oder mit Kochlöffeln schlug. Heinz stritt das zwar ab, aber man konnte es bis in die Dachkammer hinauf hören.

Marianne hatte sich inzwischen mit dem einsamen Fräulein aus dem Parterre angefreundet. Es besaß rot geschminkte Lippen und rotbraun gefärbtes Haar und legte sich stundenlang in einer Art Unterhose in die Sonne, um rotbraun zu brennen. Die artige Marianne war der Liebling des Fräuleins, von mir behauptete es, ich würde meine Schwester unterdrücken.

Doch dann lernten wir Kathrinchen kennen, und von da an waren Marianne und mir Frau Püschel, die Lore von Heinz und auch die Russen egal. Kathrinchen saß auf einem Zaunpfeiler und bewarf uns mit Steinen. Wir hatten solche Angst vor ihr, dass wir nur mit über dem Kopf gefalteten Händen an ihr vorbeischlichen. Später gestand sie, auf uns eifersüchtig gewesen zu sein, weil Marianne mich und ich Marianne hatte und sie gar niemanden.

Kathrinchen war die Enkelin von dem Arzt Dr. Haase, dem das herrschaftliche Haus nebenan gehörte, und das erstaunlichste Mädchen, das uns jemals unter die Augen gekommen war. Erstens hieß sie mit richtigem Namen Katharina Zacharias, und das war doch etwas anderes als Marianne oder Renate Fabel, zweitens war sie in Indien geboren, und drittens besaß sie pechschwarze Augen und pechschwarzes Haar (wir aber waren langweilig blond und blauäugig). Außerdem konnte sie so frech sein, dass uns der Atem stockte. So schickte sie ihrer Großmutter, einer feinen Dame in Seidenkleidern, regelmäßig eine lange Nase nach und spielte mit den Zehen auf dem Steinwayflügel. Dieser Flügel stand in einem richtigen Saal, wie man ihn sonst nur in Schlössern findet. Dort tranken wir manchmal aus hauchdünnen Tassen Tee und wurden von Trudchen, dem Dienstmädchen, mit Butterkuchen (aus Margarine) bedient. Trudchen war eine Seele von Mensch, sah aber fast nichts mehr. Marianne und mich verwechselte sie ständig, und wenn sie doch einmal richtig riet, verbot Kathrinchen uns, das zuzugeben. Einmal klaute Kathrinchen ihr die Blindenbinde, legte sie sich selbst über den Arm und ließ sich von Marianne die Straße hinauf- und hinunterführen. Dabei stolperten beide über den Rinnstein und kamen mit aufgeschlagenen Armen und Beinen zurück.

Kathrinchen besaß ein Windspiel, das Husche hieß und immer so aussah, als wenn es schrecklich fror. Mit ihm tobten wir in dem großen verwilderten Garten des Arztes herum, wo man Tautropfen aus dem violettfarbenen Fingerhut schlürfen konnte und die Blüten von Schneebällen, Weißdorn und Goldregen in den Haaren hängen blieben. Hier merkte man nicht, dass Russen in der Stadt waren und nicht einmal mehr Kinder auf die Lebensmittelkarten Magermilch erhielten.

Mutti wurde immer besorgter, weil ich so schnell wuchs, und stellte sich stundenlang in der Fleischerei in der Thälmannstraße an, um eine Milchkanne voller Wurstbrühe zu ergattern.

Als mich die auch nicht dicker machte, wurde ich vormittags in den Kindergarten gesteckt, der neben der Alleeschule lag. Für mich eine schreckliche Blamage, da ich Marianne in der Pause mit ihren Schulfreundinnen herumprotzen sah, während man mir zum Spielen dreijährige Jungens zuteilte. Aus Rache behandelte ich sie furchtbar schlecht und verbot ihnen, wenn sie mal mussten, auf die Toilette zu gehen. Machten sie dann notgedrungen in die Hose, haute ich sie oder petzte alles an das Fräulein weiter. Wütend würgte ich das Brot mit Kunsthonig in mich hinein, das gegen elf Uhr an die Kindergartenzöglinge ausgeteilt wurde. Mutti merkte, dass ich litt, aber ein solches Brot konnte sie mir zu Hause nicht bieten. Falls sie nichts zum Mittagessen herbeischaffen konnte, hatte ich so wenigstens etwas im Magen. Für den Abend brachte Vati dann ab und zu ein paar Pellkartoffeln aus der Zellwoll-Kantine mit.

Aber man durfte nicht glauben, dass Vati wegen des ewigen Kummers um das Essen vielleicht ein bisschen nachsichtiger geworden war. O nein, er blieb so streng wie immer und hatte es dabei besonders auf mich abgesehen. Jammerte ich nicht den ganzen Tag herum, dass ich endlich in die Schule wollte? Also sollte ich doch gleich mal mit dem Lesenlernen anfangen. Eine Fabeltochter hatte stets durch besondere Leistung aufzufallen.

Sonntag für Sonntag, während draußen die Hitze brütete, gingen wir beide gemeinsam in der dunklen Dachkammer Mariannes Lesebuch durch. Ein Kapitel, das von dem Badeausflug einer Schulklasse handelte, hatte es Vati dabei besonders angetan. Immer wieder musste ich die für mich unvorstellbar schweren Worte buchstabieren: »Die Kinder gehen in den Fluss. Sie planschen und platschen, sie spritzen und springen ...« Ich sagte »planschen und Flaschen, sprinzen und sprinten« und bekam eine Ohrfeige nach der anderen. Mutti litt im Hintergrund, wo sie Wäsche aufhing, still vor sich hin. Bald konnte sie das Kapitel besser auswendig als irgendjemand anderes. Und sie war die Glücklichste von allen, als sie mich endlich, endlich für den 1. September 1945 in der Schule anmelden konnte. Doch wo blieb der Schulranzen? Die Familie besaß nur einen einzigen, und der war von Tante Mariechens Sohn Achim geliehen. Als Ältere hatte Marianne ihn für sich beschlagnahmt. Was aber war mit mir?

Mutti meinte, für den ersten Tag dürfte ich mir den Ranzen leihen. Später würde sich alles finden. Es fand sich nichts, außer einer Strohtasche mit Schlingverschluss, in der ich meine Bücher und Hefte zur Schule schleppen musste. Das kostete mich eine gehörige Portion Selbstbewusstsein.

Gott sei Dank wusste ich aber von der Strohtasche noch nichts, als ich mit Mutti erwartungsvoll in der Aula saß. Die Zuckertüte hatte ich schon zu Hause in Empfang genommen – genauso wie Marianne (seit ich denken konnte, wurden wir beide immer gleichzeitig beschenkt. Mutti, die sich als Kind mit sieben Geschwistern herumschlagen musste, ertrug den Gedanken nicht, eine von uns könnte sich zurückgesetzt fühlen). Ich fand ja, es sei unter der Würde einer Zweitklässlerin, mit einer Zuckertüte herumzulaufen, doch Marianne meinte, ich hätte mich vor einem Jahr bei ihrer Einschulung auch nicht geschämt. Damals hatte es sogar noch ein paar von Tante Lieschen organisierte Bonbons gegeben, jetzt waren nur Äpfel und Birnen in der Tüte.

»Adam Doris.« Der Direktor begann die Namen aufzurufen. Man musste sich melden, nach vorn gehen und wurde in eine Klasse eingeteilt. Mir graute vor dem Sichmelden und Nachvorngehen, denn trotz meiner gelegentlichen frechen Reden war ich sehr schüchtern. »Etzel Martin, Ewers Hannelore, Faber ...«, ich schluckte und begann zu zittern, »... Regine, Feldner Hans-Jürgen ...« Ich war nicht dabei.

Eine Welt brach für mich zusammen. Hatte man mich nicht aufgenommen, weil ich erst im Oktober sechs wurde? Aber ich konnte doch mit den Fingern rechnen und auch lesen ... Selbst Mutti begann ein bisschen unruhig zu werden. »Na, warte, vielleicht kommst du erst am Schluss dran.«

Ich kam nicht dran, und wir zogen zum Direktor. Der war inzwischen verschwunden, wie lange, wusste niemand. Also stand ich mit der Zuckertüte an Muttis Arm und musste eine Stunde lang die Höllenpein erleben, nirgends dazuzugehören. Schließlich erschien der Direktor und verstand gar nicht, was wir wollten.

»Fabel Renate«, er sah in seiner Liste nach, »die habe ich wie alle anderen aufgerufen.«

»Nein«, widersprach Mutti, und es kam zu einem Disput. Ich flehte sie an, aufzuhören, da ich ja künftig in der Gewalt des Direktors war. Doch ihr sächsisches Temperament kühlte nicht so schnell ab.

»1b«, sagte er schließlich, »bei Fräulein Henkel.« Mit diesem Bescheid wurden wir abgeschoben.

Fräulein Henkel war groß, dick und herzlich. Als Erstes brachte sie uns das T bei. Das war ein Tisch (einleuchtend), auf dem Tassen, Teller und ein Kuchen standen. Dann aber kam das Mäxchen und wollte Kuchen naschen. Statt des Kuchens zog er jedoch die ganze Tischdecke herunter. Und was wurde nun aus dem T? Ein D. Die Kinder staunten. Ich aber, durch Vati bereits gedrillt, machte ein gelangweiltes Gesicht und begann zu überlegen, wie viele von den Tassen und Tellern kaputtgegangen waren.

Mein Hochmut sank rasch, als wir am dritten Tag vorsingen mussten. Konnte ich überhaupt singen? Ich wusste es nicht. Wenn ich, wie alle sagten, Vati nachgeraten war, dann mit Sicherheit nicht, denn er konnte nicht einmal summen. Ich stand auf und öffnete meinen Mund. Ein sehr dünner, zittriger Ton war alles, was herauskam. Leider brach er mitten in »Alle Vögel sind schon da« ab und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Ich suchte, was ich konnte. Lieber den zittrigen Ton als keinen. Alles lachte. Ich suchte weiter. Die Kinder lachten lauter. Da begann ich zu weinen, ohne Tränen, aber trotzdem kläglich genug. »Mutti, Mutti«, wimmerte ich. Die Klasse bog sich vor Lachen. Endlich durfte ich mich wieder setzen. Zum ersten Mal hatte ich erlebt, wie es war, wenn man etwas schlechter konnte als die anderen. Man schämte sich und versuchte eilig, jemand anderen zu blamieren.