Über das Buch

Riva ist Hochhausspringerin — ein perfekt funktionierender Mensch mit Millionen Fans. Doch plötzlich weigert sie sich zu trainieren. Kameras sind allgegenwärtig in ihrer Welt, aber sie weiß nicht, dass sie gezielt beobachtet wird: Hitomi, eine andere junge Frau, soll Riva wieder gefügig machen. Wenn sie ihren Auftrag nicht erfüllt, droht die Ausweisung in die Peripherien, wo die Menschen im Schmutz leben, ohne Möglichkeit, der Gesellschaft zu dienen. Was macht den Menschen menschlich, wenn er perfekt funktioniert? »Die Hochhausspringerin« führt in eine brillante neue Welt, die so plausibel ist wie bitterkalt. Julia von Lucadou erzählt von ihr mit der Meisterschaft der großen Erzählungen über unsere Zukunft.

signet hb.png

Julia von Lucadou

DIE HOCHHAUSSPRINGERIN

Roman

Hanser Berlin

Für Waiteata

The woman is perfected.

Her dead

Body wears the smile of accomplishment,

The illusion of a Greek necessity

Flows in the scrolls of her toga,

Her bare

Feet seem to be saying:

We have come so far, it is over.

Sylvia Plath, Edge

Stellen Sie sich die Welt vor.

Stellen Sie sich die Erdkugel vor, wie sie im Weltraum schwebt.

Aus Ihrer Sicht ist die Welt rund und glatt. Genießen Sie diese Gleichmäßigkeit, stellen Sie sich vor, dass sie nur für Sie existiert. Schließen Sie für einen Moment die Augen, atmen Sie tief ein und aus, und wenn Sie die Augen nach einigen Sekunden wieder öffnen, betrachten Sie die Erde noch einmal ganz neu.

Zoomen Sie nun ein wenig näher heran. Sie können Fehler in der Gleichmäßigkeit der Erdoberfläche erkennen, Erhebungen und Senken. Sie bilden ein weiches, wellenförmiges Relief, die Wechsel von Rot zu Blau zu Braun ergeben ein meliertes Muster.

Wenn Sie sich noch weiter nähern, hebt sich aus diesem erdfarbenen Muster ein silberner Fleck ab. Was Sie hier sehen, noch von weitem, aber sich stetig nähernd, ist eine Stadt. Sie glänzt, denn sie ist aus Stahl und Glas erbaut, das können Sie nun sehen. Die Stadt liegt unter Ihnen wie ein Geheimnis, das aufgedeckt werden möchte. Zoomen Sie also ruhig weiter heran, haben Sie keine Scheu, er steht Ihnen zu, dieser Blick.

Es beruhigt Sie zu sehen, dass auch die Stadt einer Gleichmäßigkeit gehorcht, ihre Gebäude folgen einem architektonischen Stil und sind geometrisch angeordnet, in Rechtecken oder sternförmigen Formationen. Die beinahe filigran wirkenden Hochhäuser recken sich nebeneinander in den Himmel und sind nicht voneinander zu unterscheiden.

Die Stadt breitet sich nun unter Ihnen aus, ein schier unendliches Meer. Und doch hat sie ein Ende, einen Rand, dort hinten, wo Wolken aus Staub und Abgasen in den Himmel steigen. Muss das sein, denken Sie, dass die schöne Stadt mit dem Anblick von Dreck entstellt wird, warum muss sie überhaupt irgendwo aufhören? Aber können Sie sich das Meer ohne den Strand denken oder die Klippe oder den Pier? Nein, ohne die Peripherien, ohne ihr abstoßendes Außen wäre die Stadt, wie sie jetzt gerade im orangen Nachmittagslicht schimmert, nur halb so schön.

Konzentrieren Sie sich auf das Zentrum der Stadt. Einer der Wolkenkratzer überragt die anderen um mehrere Dutzend Stockwerke.

Um das Gebäude herum gibt es eine farbliche Abweichung, die zunächst wie ein Bildfehler wirkt, dann aber, beim Heranzoomen, sich als Materie entpuppt, beweglich, lebendig. Sie erkennen zwischen den Häusern eine wimmelnde Ansammlung, dicht gedrängte Köpfe, eine Menschenmenge. Sie vibriert, die Köpfe bewegen sich, und dann sehen Sie, worauf die Menge dort unten wartet: Auf dem Dach des aufragenden Gebäudes befindet sich ein glitzerndes Ding.

In der Nahaufnahme erkennen Sie, dass es sich dabei um eine Frau in einem silbrigen Anzug handelt. Es ist ein Flysuit™, der sich ihren Körperformen anpasst und sie beinahe nackt aussehen lässt, jede Wölbung ihres wohltrainierten Körpers ist erkennbar.

Betrachten Sie das Gesicht der Frau. Was für ein Gesicht, denken Sie, so symmetrisch, als habe man nur eine Gesichtshälfte erschaffen und diese dann gespiegelt. Es ist ein junges Gesicht, die Frau ist vielleicht zwanzig Jahre alt, schätzen Sie, auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, der Körper gespannt, die Augen weit geöffnet. Sehen Sie sich diese Augen genau an, Sie werden keinen Makel entdecken, keine Rötung, keine Trübung der Iris oder ungleiche Pupillendiameter, stattdessen scharfer Fokus, Konzentration. Was Sie sehen, ist eine Leistungssportlerin bei der Arbeit. Jeder Muskel dieser Frau ist unter Kontrolle. Wenn Sie sie bitten würden, das Gefühl in ihrem rechten großen Zeh zu beschreiben, könnte sie dies sehr präzise tun.

In diesem Moment geht ein Ruck durch ihren Körper, sie bewegt sich zum Rand des Daches, es ist so weit. Vielleicht möchten Sie sich nun wieder ein wenig entfernen, aus der Detailaufnahme heraus, und den Blick öffnen auf das, was unter ihr liegt. Die Schneise zwischen den Gebäuden, die eintausend Meter in die Tiefe führt, eintausend Höhenmeter genau, so ist es in den Richtlinien des globalen Komitees für Highrise Diving™ festgelegt.

Als die Frau an den äußersten Rand des Flachdachs tritt, halten die Zuschauer den Atem an. In ihrem Flysuit™ glitzert sie überirdisch. Die Menschen am Boden wie in den Zuschauerboxen des Gebäudes gegenüber, bis hinauf zur Skybox™, recken ihr die Arme entgegen.

Was Sie erleben, ist körpergewordene Euphorie, die zwischen den Häusern pulsiert. Schließen Sie die Augen. Lassen Sie sich anstecken. Spüren Sie in sich hinein bis in die Fingerspitzen, spüren Sie das Pochen Ihres Herzens, wie es sich in Ihrem Körper ausbreitet.

Wenn Sie die Augen öffnen, stürzt sich die Frau vom Hochhausdach kopfüber in die Tiefe.

Im ersten Moment empfinden Sie Schrecken. Ihr Körper krampft sich zusammen, als ob er mit der Frau in die Tiefe fällt.

Doch dann sehen Sie die Springerin wie einen Vogel im Flug. Sie spüren ihre absolute Sicherheit, dass sie den Sturz auffangen wird.

Sie folgen dem fallenden Körper, bleiben dicht bei ihm und sehen, wie er sich in vollkommener Präzision um sich selbst dreht, zuerst horizontal, dann vertikal, sich zu einer Kugel krümmt und wieder streckt, in Sekundenbruchteilen. Im nächsten Moment füllt der Boden Ihren Blick, Ihnen stockt der Atem, sie rast auf ihn zu und droht aufzuschlagen, der sonnenheiße Asphalt scheint schon spürbar, als ihr Körper plötzlich steil nach oben schießt, emporgehoben vom Flugmodus des Flysuit™, ausgelöst im letzten möglichen Moment, Sekundenbruchteile vor dem Aufprall, und Sie hören, wie den offenen Mündern der Menschen die Luft entströmt, ein kollektives Ausatmen.

Die Menge applaudiert, die Springerin schießt als Pfeil in den Himmel. Im Flug lächelt sie, die Schwerelose, in die Kameras.

Stellen Sie sich das Gefühl vor, das diese Frau erleben muss, das Fallen in die Tiefe im unerschütterlichen Vertrauen, dass Sie wieder auffliegen werden. Ohne Angst vor dem Aufprall, der Auslöschung.

Sie genießen die Überwindung der Schwerkraft, der Tod kann Ihnen nichts mehr anhaben. Was für ein Gefühl, die Schwerelosigkeit. Was für ein erhabenes Gefühl.

Nehmen Sie jetzt wieder Abstand, zoomen Sie langsam hinaus, sachte, ohne Wackler, so dass die Bewegung dem Auge angenehm bleibt. Stellen Sie sich vor, dass sich der Körper zwischen den Häusern immer wieder hebt und senkt, auch als Sie ihn bereits nicht mehr als Körper erkennen können, als er nur noch ein Fleck ist in Bewegung und dann ein Punkt, der ein Pixelfehler sein könnte, und dann gar nichts mehr, wenn Sie herauszoomen und die Erdkugel wieder im All schweben sehen, gleichmäßig und still.

Stellen Sie sich den Körper in seiner Unendlichkeit vor, unsterblich, sein Steigen und Fallen ununterbrochen, wie ein Atmen, wie ein Puls, und kosten Sie diesen Gedanken aus, nehmen Sie Zuflucht bei ihm, schöpfen Sie aus ihm Vertrauen. Jetzt, in diesem Moment, da Sie sich langsam aus der Welt zurückziehen, gibt es keinen Tod, nur Leben.

1

So sehe ich Riva heute: mit einem Plastikkreisel spielend wie ein Kind. Die Beine abgespreizt, den Oberkörper vorgebeugt. Ich höre das Kreiselgeräusch ihr Apartment ausfüllen, ein monotones Summen. Dann fällt der Kreisel zur Seite. Ihre Hand greift nach ihm, ich sehe die Hand, höre Drehen, Summen, Stille, Drehen, Summen, Stille, in Endlosschleife.

Ich frage mich, ob man ihr Spiel als Zwangshandlung beschreiben kann. Und wo sie das Spielzeug aufgetrieben hat. Vielleicht erlebt es ein Revival auf irgendeinem Lifestyle-Blog, ein Modeimpuls, der in ein paar Monaten wieder vergessen sein wird.

Ich sehe Rivas lange, weiße, ausgestreckte Beine. Das Sommerkleid klebt ihr am Körper, ihre Brust glänzt vom Schweiß. Weigerung, die Klimaanlage anzustellen, notiere ich und in der Kommentarspalte: Selbstkasteiung/Hinweis auf Schuldgefühle?

Das Bild ist überbelichtet. Die Nachbarhäuser reflektieren Sonnenlicht durch die breiten Fensterflächen. Ich passe die Helligkeit des Monitors an.

Das Kreiselgeräusch dröhnt mir in den Ohren. Ich spüre eine leichte Übelkeit und einen beginnenden Clusterkopfschmerz ums rechte Auge. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, um eine Attacke zu verhindern, ein und aus.

Das Monitorbild verschwimmt vor meinen Augen. Eiswürfel klackern gegen den Rand meines Wasserglases. Ich halte es mir an die Stirn und lasse das Kondenswasser über die Nase herabrinnen.

Die Wettervorhersage für die nächsten drei Tage: Hitze, kein Regen. Air Quality Index schlecht, Feinstaubbelastung hoch.

Kondenswasser läuft mir ins Dekolleté. Ich setze das Glas ab, um Eiswürfel nachzufüllen, und beginne das Spiel von vorne, Stirn, Nase, Mund, Brust.

Plötzlich ein schrilles Benachrichtigungspiepsen. Ich suche nach dem Tablet auf meinem Schreibtisch. Es blinkt stumm. Der Ton ist nicht mein Ton, er kommt aus den Lautsprechern des Monitors, leicht übersteuert. Ich schwenke die Kamera von Riva weg in den Raum hinein, bis ich das Tablet auf ihrem Wohnzimmertisch entdecke.

Riva reagiert nicht.

Nach zwanzig Sekunden beginnt sie den Ton nachzuahmen, sie piept vor sich hin wie eine Maschine.

Meine Schläfe pocht, ich drehe den Lautstärkeregler herunter.

Ihre Stresshormonwerte, hat Master gesagt, sind zu hoch. Sie müssen mehr auf sich achten. Meditation, Entspannungsübungen. Bewusst atmen. Lärm vermeiden.

Auf dem Monitor wird eine Türe aufgestoßen. Aston im Türrahmen. Er rennt zum Tablet und drückt auf den Touchscreen. Das Piepsen bricht ab. Meine Nackenmuskeln entspannen sich.

— Kannst du das verdammt noch mal selber ausmachen!

Ich notiere Rivas abgewandte Körperhaltung, ihren Reflex, die Beine nahe an den Körper heranzuziehen. Schutzhaltung, schreibe ich und in die Recherchespalte: Hinweis auf häusliche Gewalt? Bisher hat die Datenanalyse hierfür keine Anhaltspunkte geliefert.

Aston stellt die Klimaanlage an. Am Fenster hebt er seine Kamera und blickt durchs Objektiv hinunter auf die Stadt. Seit Projektbeginn habe ich ihn in der Wohnung nicht ohne Kamera gesehen. Er trägt sie an einem Riemen um den Hals, so dass sie auf Bauchhöhe hervorsteht wie eine Geschwulst.

Beim Fotografieren erscheint Aston am verletzlichsten, am meisten bei sich selbst, der Moment so intim, dass es mir beinahe unangenehm ist, ihm dabei zuzusehen. Sein Mund angespannt hinter dem Apparat, während er fokussiert, halb geöffnet, dann das erleichterte Absinken der Mundwinkel nach dem Auslösen.

In der Aufsicht betrachtet, franst das Wohnzimmer zu seinen Rändern hin strahlenförmig aus. Aston hat Stellwände mit digitalen Fotorahmen rechtwinklig zur Wand aufgestellt, um den Platz bestmöglich auszunutzen. Ständig wechselnde Bilder wie Werbeschleifen auf einem Taximonitor. Es hat etwas Narzisstisches, wie er den wertvollen gemeinsamen Wohnraum zu seinem persönlichen Ausstellungsraum macht. Jede Nacht lädt er neue Fotografien hoch, bevor er ins Bett geht. Die Bilder der letzten Wochen: der immer gleiche Blick aus dem Hochhauskomplex, ameisengroße Köpfe und spielzeuggroße Fahrzeuge aus der Vogelperspektive in verschiedenen Formationen. In meinem ersten Tagesbericht habe ich die These aufgestellt, dass es sich dabei um eine empathische Übung handelt. Den Versuch, sich hineinzuversetzen in seine Partnerin, deren einzige Verbindung zur Außenwelt der Blick aus dem Fenster bleibt.

In der Mitte, auf einer eigenen Stellwand, Astons Opus Magnum Dancer_of_the_Sky™, vier Digiframes à zweiunddreißig Zoll, im Zehn-Minuten-Loop. Es ist die Fotoreihe, die ihn vor vier Jahren über Nacht berühmt machte. Bilder von Riva im Absprung, Riva in der Luft, langgestreckt zwischen den Häuserreihen, den Körper präzise ausgerichtet, die Hände über dem Kopf ausgestreckt und aneinandergelegt wie eine Balletttänzerin. Ihr Körper silberfarben glitzernd im Flysuit™. Aston hat den Effekt der Lichtspiegelung in den Hochhauswänden durch die Belichtung so manipuliert, dass der Hintergrund um sie herum ausbrennt. Eine sakrale Superheldin, die vom Himmel herabstößt.

Das regelmäßige Klicken des Auslösers von Astons Kamera verbindet sich mit Rivas stetig wieder in Gang gesetztem Kreiselton, rhythmisch konturierte Geräuschflächen, beinahe melodisch. Ein absichtsloses Zusammenspiel.

Ich notiere den Effekt in einer weiteren Protokollspalte. Mit dem Wachsen der Datenmenge wächst auch die Notwendigkeit von Markierungssystemen, einer Ordnung, die die Analyse erleichtert. Erst wenn genügend Informationen erschlossen wurden, wird das Bemerkenswerte sichtbar, subtile Brüche und Widersprüche, die zugrundeliegenden Strukturen, die Triebwerke im Innern.

Es hat etwas von Fabrikarbeit, dieser erste Schritt, das Notieren des Alltäglichen. Meine Beobachtungen wiederholen sich in so regelmäßigen Abständen wie Astons Fotografien in den Rahmen. Riva am Boden, Riva mit dem Kreisel, Riva schwitzend in der Sonne. Aston, der aus dem Studio kommt und die Temperatur anpasst.

— Du weißt, dass das wieder eine Vorladung war, sagt er jetzt, das Tablet hochhaltend.

Meinem Protokoll entnehme ich, dass er den gleichen Satz vor zwei Tagen schon einmal gesagt hat, in derselben Formulierung. Ich frage mich, welche Sätze ich täglich wiederhole, ohne es zu merken.

Aston hat das Tablet zur Seite gelegt und hält seine Kamera an die Brust gedrückt. Die anderen Apparate nutzt er höchstens als Backup. Dieser ist ein Vintage-Modell, hergestellt vor circa zwanzig Jahren. Astons Finanzbewegungen zeigen an, dass er es vor drei Monaten beim zweitgrößten Online-Reseller gekauft hat.

— Für jede unterlassene Rückmeldung zahlst du Strafe. Wir zahlen so lange, bis nichts mehr da ist. Und dann zahlen wir woanders weiter.

Riva tut so, als ob sie ihn nicht hören würde. Sie greift nach dem Kreisel, so dass Aston über das Geräusch hinweg sprechen muss.

— Hast du keine Angst, dass deine Muskeln sich zurückbilden? Irgendwann kannst du nicht mehr aufstehen. Das geht schneller, als du denkst.

Riva zuckt mit den Schultern und greift nach dem Kreisel, unterbricht ihn in der Bewegung, setzt noch mal an. Der rapide Abbau ihres Körpers, der schnelle Muskelschwund und Gewichtsverlust, bereitet mir ebenfalls Sorgen. Riva verweigert sich seit dem Vertragsbruch den Pflichtuntersuchungen, ihren Activity Tracker trägt sie nicht mehr. Es gibt keine Möglichkeit, ihre Fitnesswerte mit Sicherheit zu bestimmen, aber es ist offensichtlich, dass sie sich täglich verschlechtern.

— Dein Körper braucht Vitamin D, sagt Aston in leicht verändertem Ton, fürsorglicher, dringlicher. Mehr natürliches Licht.

Seine Einsatzbereitschaft imponiert mir, die Geduld, mit der er sich ihr täglich widmet, die Annäherung versucht.

— Das ist im Vitaminwasser, sagt Riva mit abgewandtem Gesicht.

Ich setze den Tageszähler ihrer gesprochenen Sätze nach oben. Bisher lässt sich keine grundlegende Verbesserung der Kommunikationsbereitschaft ablesen.

Aston hat sich aus der Position am Fenster gelöst, ohne dass ich es bemerkt habe. Er steht etwa einen Meter vor Riva, geht dann langsam um sie herum. Er betrachtet sie von allen Seiten, legt den Kopf schief, geht in die Hocke. Dann beginnt er, Fotos von ihr zu machen.

— Ich hab eine Idee für ein neues Projekt, sagt er.

Rivas Hand greift nach dem Kreisel. Er entgleitet ihren Fingern zu früh und dreht sich nur kurz.

Ich beobachte einen Stimmungswandel in Astons Gesichtszügen, Ungeduld, offene Frustration.

— Nur weil du deine Karriere an den Nagel hängst, heißt das nicht, dass ich auch meinen Job verlieren muss, sagt er. Du setzt mein Leben mit aufs Spiel.

Von draußen dringt ein Alarmton herein, Polizeisirenen. Kurz weiß ich nicht, ob sie aus dem Lautsprecher kommen oder durch mein Bürofenster.

Im Apartment ist es plötzlich still, Riva hat den Kreisel liegen gelassen. Sie schaut aus dem Fenster, ihr Blick scheint auf nichts Konkretes gerichtet.

Ich höre Aston laut und schnell atmen, drei, vier Mal. Es gibt diese Momente, in denen er kurz die Kontrolle verliert und die Wut sich seines Körpers bemächtigt, die Ungeduld. Seine Gesichtsmuskeln sind verkrampft, der Körper angespannt.

Dann beruhigt er sich, lässt die Schultern fallen, hebt den Arm, um Riva zu berühren. Er fährt mit dem Zeigefinger über ihren leicht gekrümmten Rücken, die Wirbelsäule entlang.

— Du bist zu dünn. Man kann deine Knochen sehen.

Riva bewegt sich nicht.

In meiner Kommentarspalte notiere ich: Passives Verhalten, Karnovsky fügt sich in Objektrolle.

— Komm schon, Riva.

Aston greift nach ihrer Schulter, rüttelt sie leicht, aber ihre Reglosigkeit scheint ihn doch zu entmutigen, er hält nicht lange durch.

Er wendet sich ab und geht zurück zum Fenster, greift nach der Kamera am Bauch. Das gewohnte Klicken hallt durch den Raum, beide wieder auf ihren Positionen, mehr Silhouetten als Menschen im Gegenlicht.

Ich lehne mich zurück und sehe ihnen zu, meiner Zielperson und ihrem Partner, rechteckig gerahmt vom Live-Monitor. Daneben mein Arbeitsmonitor, ein Chatfenster blinkt, auf dem Schreibtisch, ebenfalls blinkend, das Tablet, unter dem Tisch ein ausrangierter Flatscreen, zur Abholung bereit.

Ich klicke mich durch die Videofiles im Datenarchiv. Der Analyst hat vier Aufnahmen von Rivas und Astons Apartment aus der Zeit vor Rivas Vertragsbruch hochgeladen, sie stammen von privaten Anbietern. Vier Dateien aus den vergangenen vier Jahren, jeweils am ersten August aufgenommen, als die Sicherheitssysteme in allen Wohnungen des Gebäudes getestet wurden.

Ich öffne die neueste Datei auf dem Arbeitsmonitor. Auf dem Live-Monitor passe ich die Kameraeinstellung so an, dass beide Bildschirme den gleichen Ausschnitt zeigen, eine Totale der Wohnung aus der Aufsicht. Monitor neben Monitor, die Kulisse ist kaum zu unterscheiden, nur einige von Astons Fotostellwänden sind dazugekommen.

Das Archivvideo zeigt zunächst mehrere Stunden lang das leere Apartment. Im Schnelldurchlauf verändert sich nur der Lichteinfall. Die automatische Blendensteuerung der Sicherheitskamera passt die Helligkeit an. Wandernde Schatten der Möbelstücke auf dem glatten Designboden.

Gegen neunzehn Uhr betritt Riva die Wohnung in Trainingskleidung. Sie lässt die Sporttasche fallen, geht zur Küchenzeile und lässt Wasser laufen. Sie testet die Kälte des Wassers mit dem Zeigefinger und wäscht sich dann das Gesicht, streift die Sportkleidung bis auf die Unterwäsche ab.

Für einen Moment steht sie im Zimmer, selbstvergessen.

Geht dann zum Kühlschrank, um sich ein Getränk zu holen. Liger™, ein Sportsdrink. Einer ihrer Sponsoren.

Sie setzt sich ans Fenster, blickt hinunter aus dem vierundsechzigsten Stock. Ihr Körper ist in jeder Hinsicht perfekt, die Wirbelsäule gerade, die Haut schimmernd und glatt. Sie öffnet ihren Pferdeschwanz, ihr Haar fällt über die Schultern, glänzend im Abendlicht. Das Sicherheitsvideo ist fast nicht von einem Werbeclip zu unterscheiden. Es stimmt alles: Ausleuchtung, Positionierung und Model.

Riva sitzt in ihrer hellgrauen Sportunterwäsche am Fenster, nimmt einen Schluck aus der Flasche, sieht hinab. Wahrscheinlich geht sie in Gedanken die Trainingseinheiten des Tages durch, erinnert sich an missglückte und gelungene Manöver, die neuen Sprünge. Das Video endet, als Aston durch die Türe hereinkommt, die sein Studio mit dem Wohnzimmer verbindet. Er sieht seine Partnerin, hebt die Kamera und drückt ab. Riva, das Klicken des Apparats hörend, dreht ihren Blick über die Schulter zu ihm hin und lächelt. Ich habe erfolglos versucht, das Foto in Astons Archiven zu finden. Ich schreibe meinem Assistenten eine Auftragsnotiz, noch einmal nach dem Foto zu suchen, im Anhang ein Screenshot des Videos.

Gerne hätte ich Riva damals schon observiert. Ihr beim Trainieren zugesehen, die Bewegung der Muskeln unter der gespannten Haut, die Kraft und Kontrolle eines wohlgeführten Körpers.

Mit sechs Jahren besuchte ich meine erste Highrise-Diving™-Show. Ich erinnere mich an meine Aufregung, als wir in Zweierreihen aus dem Bus stiegen, mein ganzer Körper zittrig und angespannt.

Es war mein erster Ausflug mit dem Talent-Scout-Programm. Ein Blick in die Zukunft, wenn wir Glück hatten. Ein Motivation Trip™, der uns zu großen Zielen inspirieren sollte. Was willst du werden? Hochhausspringerin. Das Risiko des Falls eingehen, um hoch zu fliegen, wie unsere Career-Trainer sagten. Je näher man dem Tod kommt, desto lebendiger wird man.

Wir hatten billige Tickets. Keine Zuschauerbox, sondern Stehplätze am Boden. Immerhin nicht weit entfernt vom Fall Spot™, der abgesperrten Bodenfläche, der die Springer so nah wie möglich kommen sollen. Ich hatte damals die Videos von Unfällen, von technischem Versagen noch nicht gesehen. Blutbespritzte Zuschauer, Sichtschutzwände, die aus dem Boden fahren, Menschen in orangefarbenen Anzügen aus wasserabweisendem Material.

Damals gab es nur Vorfreude. Eingeklemmt zwischen Erwachsenen, die mich weit überragten. Der Geruch von Schweiß, ein Herdengeruch, der mir fremd war und den ich nicht erwartet hatte.

Die Sprungplattform hoch oben konnte man vom Boden aus nicht sehen. Durch einen Spalt zwischen zwei Männern hindurch blickte ich immerhin auf den Ausschnitt eines Monitors, der das Event aus verschiedenen Kameraperspektiven übertrug.

Ich spürte Schallwellen in meinem Körper. Das Jubeln des Publikums, als die erste Springerin auf der Plattform erschien. Wir streckten gemeinsam die Arme in die Luft, so weit wir konnten.

Dann der Schock, als die Springerin sich fallen ließ, ein Sturz mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Der fallende Körper, wie er direkt auf mich zusteuerte. Das Glänzen des Anzugs, die ausgestreckten Finger der Springerin, meine Erleichterung, als sie sich aufschwang, nur Zentimeter über dem Boden.

Unser gemeinsames Aufatmen und dann ihr Aufstieg, unter tosendem Applaus.

Wenn ich es noch nach Hause schaffen will, bevor der Nachtdienst meines Zweitjobs anfängt, sollte ich jetzt gehen. Fünfundvierzig Minuten Heimfahrt, fünfundsiebzig Minuten Abendessen und Mindfulness-Übungen.

Auf dem Monitor hat das Abendlicht eine andere Farbe als in meinem Büro. Das mag am Einfallswinkel liegen. Rivas und Astons Apartment liegt Dutzende Stockwerke höher, der Unterschied in der Beleuchtungsstärke ist messbar.

Meine rechte Hand reibt meine Schläfe. Die Geste hat sich verselbständigt, ist beinahe zu einer Art Tick geworden. Der Kopfschmerz allgegenwärtig, er schwillt an und ab wie die Gezeiten. Eine Folge von Stress, sagt Master. Meditation, Entspannungsübungen. Bewusst atmen. Lärm vermeiden.

Eine ausgewachsene Kopfschmerzattacke auf dem Heimweg wäre schwer zu ertragen. Ich müsste die Fahrt unterbrechen, mich auf die Rückbank legen. Die Augen schließen. Warten, bis sie vorbeizieht. Machtlos wie gegenüber einer Naturgewalt.

Vielleicht sollte ich lieber noch ein paar Minuten bleiben. Den Nacken massieren. Meine Herzfrequenz senken, die auf dem Activity Tracker mit dreiundachtzig angezeigt wird. Tief durchatmen. Lärm vermeiden.

Ich drehe den Lautstärkeregler des Monitors auf null. Riva hat wieder damit begonnen, den Kreisel rotieren zu lassen, und als das monoton schabende Geräusch verstummt, spüre ich eine Welle der Entspannung. Im Hintergrund nur noch das leise Summen meiner Geräte.

Ein grüner Haken im Chatfenster zeigt an, dass mein Assistent noch eingeloggt ist. Ich schicke ihm eine Nachricht.

Are you still there?

Yes.

You can sign off now.

Auf der Dateiliste meiner SecureCloud™ sehe ich, wie Master mein Dokument abruft. Wenn er noch im Büro ist, sollte ich vielleicht auch noch etwas bleiben, Einsatzbereitschaft zeigen. Er könnte aber auch schon vor mehreren Stunden gegangen sein und sich von zu Hause ins System eingeloggt haben, er verabschiedet sich selten. Vielleicht sollte ich unauffällig an seinem Büro vorbeigehen. Aber es ist das letzte Büro auf dem Gang, meine Intention wäre sofort zu erkennen.

Ich kann meinen Nachtdienst auch hier beginnen, warum nicht, zu Schichtbeginn rufen sowieso die wenigsten Klienten an. Abendessen und Meditationsübung kann ich ein wenig nach hinten verschieben, wenn nötig unterbreche ich sie eben für ein Beratungsgespräch.

Die Überstunden werden meine Werte im Mitarbeiterranking steigern. Ich bewege mich im oberen Drittel meiner Abteilung. Meine ersten fünf Berichte hat Master hoch bewertet. Wahrscheinlich, um mir einen Beginner-Boost zu geben. Es hat funktioniert. In Momenten der Müdigkeit motiviert mich der Blick auf meine Aufwärtskurve in der Tabelle mehr als meine Nootropika.

Als ich zum Live-Monitor schaue, sind Aston und Riva noch auf denselben Positionen. Aston mit seiner Kamera am Fenster, Riva auf dem Boden. Wäre der Kreisel nicht, der sich am Boden dreht, könnte man meinen, das Bild sei eingefroren.

Archiv-Nr: M14_b

Dateityp: M-Message™

Absender: @DomWuAcademy

Empfänger: @PsySolutions_ID5215d

Frau Yoshida,

wie besprochen hier mein Bericht zum erwähnten Gespräch mit Riva, zehn Tage vor ihrem Vertragsbruch. Ich habe versucht, Rivas Aussagen und meine Eindrücke möglichst wörtlich und detailliert zu schildern. Ich kann nicht garantieren, dass alle Angaben, sofern sie meine persönliche Wahrnehmung der Situation betreffen, hundertprozentig korrekt sind. Das Gespräch wurde bedauerlicherweise nicht auf Video, sondern nur als Audionotiz aufgezeichnet. Falls Sie Fragen haben, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. Wir hoffen, dass Sie Riva schnellstmöglich reanimieren können. Wie ich Ihnen bereits in der Lenkungsausschusssitzung gesagt habe, geht es mir nicht nur um den hohen finanziellen Schaden und den Gesichtsverlust meines Unternehmens und unserer Sponsoren, sondern in erster Linie um die Gesundheit Rivas.

Mit freundlichen Grüßen,

Dom Wu

Anhang: Report_Wu_Karnovsky_I.arc

Das Gespräch fand am 18. Juli um 17 Uhr 30 statt und dauerte knapp zwanzig Minuten. Ich bat Riva in mein Büro, um ihre aktuellen Scores zu besprechen. Sie hatte in den Wochen zuvor zwar keine Fortschritte, aber auch keine großen Defizite gezeigt, allerdings eine deutliche Veränderung ihrer Natur, d.h. ihres Sozialverhaltens und ihrer Stimmung. Obwohl sie zu allen Trainingseinheiten erschien, kam sie mir unmotiviert vor, was ihrer Persönlichkeit nicht entspricht. Von Beginn ihrer Karriere an war Riva eine sehr ehrgeizige, energetische Person. Sie hatte gute Sozialkontakte zu ihren Teamkolleginnen und beschäftigte sich neben dem Training mit Kunst und Literatur. Sie erschien mir ausgeglichen, weder übertrieben aufgedreht im Sinne des Manischen noch zur Traurigkeit tendierend. Wenn sie Turniere verlor oder im Training schlechte Ergebnisse erzielte, kam sie schnell über die erste Frustration hinweg und wandelte diese in Tatendrang um.

Ich sprach Riva direkt auf ihr verändertes Verhalten an. Sie reagierte ausweichend, versuchte das Gespräch auf die Ergebnisse umzulenken. Ich fragte sie, ob etwas vorgefallen sei. Sie verneinte, vermied aber direkten Augenkontakt.

Ich gebe unser Gespräch wieder, soweit es die Audioaufzeichnung erlaubt:

— Du kannst mir vertrauen. (Ich)

— Ich weiß. Ich vertraue dir. (Riva)

— Wenn dich etwas bedrückt, müssen wir darüber reden. Es schadet deiner Performance, wenn du persönliche Probleme nicht richtig verarbeitest.

— Ich weiß.

— Geht es dir nicht gut?

— Ich hab nur Kopfschmerzen. Ich fühle mich nicht so gut.

— Warst du beim Arzt?

— Es ist nicht so schlimm.

Rivas letzte Pflichtuntersuchung war vier Tage zuvor gewesen. Ihr Vital Score Index™ war hoch wie immer. Riva hat selten mit Verletzungen oder anderen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen gehabt. Sie hat einen sehr gesunden Körper.

— Ich mache mir Sorgen um dich. (Ich)

— Das musst du nicht. (Riva)

Ungefähr an diesem Punkt des Gesprächs nahm Riva meine Hand und drückte sie. Wie bereits zu Protokoll gegeben, standen wir uns immer sehr nahe. Riva hat sich mir oft in privaten Dingen anvertraut, und die Tatsache, dass es ab und zu in den Medien falsche Berichte über eine Affäre zwischen uns gab, hat bestimmt auch damit zu tun, dass wir über die vielen Jahre unserer professionellen Zusammenarbeit eine familiäre Nähe aufgebaut hatten, die sporadische Umarmungen und ähnliche Körperkontakte einschloss. Ich fühle ich mich ihr auf beinahe väterliche Weise verbunden, wobei ich mich auf ein altmodisches, romantisierendes Ideal von Bioväterlichkeit beziehe. Es fällt mir aber kein besserer Vergleich ein. Ich begleite Riva seit ihrem neunten Lebensjahr, und auch wenn ich die anderen Mädchen nicht weniger schätze, so ist sie für mich doch immer etwas Besonderes gewesen. Das mag natürlich auch mit ihrer überragenden Leistungsfähigkeit zu tun haben.

Ich drückte ihre Hand und fragte sie noch einmal, was mit ihr los sei. Ich konnte spüren, dass ihr anfänglicher Widerstand sich etwas gelöst hatte. Sie gab mir eine lange Antwort:

 Kennst du das Gefühl, wenn dein Credit-Level gestiegen ist und du höhere Wohnraumprivilegien bekommst? Du ziehst um und kommst in deine neue Wohnung, schaust dir die neue Umgebung an, gehst vielleicht in den Roof Garden. Du siehst das alles zum ersten Mal, und es begeistert dich, deine weiten Fenster, dein Blick über die Stadt, die sauberen Straßen, die schön beschnittenen Buchsbäume im Roof Garden, die kleine Anhöhe mit der Bank und so weiter. Dann siehst du es jeden Tag, dreimal die Woche sitzt du auf dieser Bank und mit jedem Mal verliert das Bild ein bisschen an Farbe, bis dich irgendwann alles — das Fenster, die Straße, der Park — nur noch ankotzt, du kannst es nicht mehr sehen.

 Das ist völlig normal, dass einem die Dinge langweilig werden. Vielleicht solltet ihr noch mal umziehen.

 Darum geht es nicht! Ich meine nicht nur die Wohnung, ich meine mein ganzes Leben. Das Springen, Aston, alles.

 Jetzt übertreibst du aber. Du hast schlechte Laune. Vielleicht nimmst du dir einen Tag frei, unternimmst was Schönes, lässt dich von Aston groß ausführen. Oder ich buche dir ein Glückstraining™. So was.

 Du verstehst nicht, was ich meine.

 Natürlich verstehe ich dich, Riva. Du springst seit fünfzehn Jahren, du machst dir Gedanken. Du langweilst dich. Vielleicht denkst du darüber nach, was du machen sollst, wenn dein Körper irgendwann nicht mehr mitmacht. Aber du bist kerngesund. Du führst alle Bestenlisten an. Die Jüngeren können dir nichts anhaben. Du hast realistische Chancen, die World Championships zu gewinnen.

— Welchen Unterschied macht es, ob ich die World Championships gewinne oder nicht?

Ich versuchte, Riva aufzubauen, aber sie zweifelte alles an, sie erschien mir festgefahren in ihrer Haltung, verbittert. Ich ging davon aus, dass es sich nur um eine Phase handelte, also setzte ich ihr nicht zu sehr zu. Im Rückblick erkenne ich, dass ich vermutlich hätte hartnäckiger sein und ihr das Glückstraining™ einfach hätte verordnen sollen.

Riva beendete das Gespräch. Sie sagte, sie habe Kopfschmerzen und wolle sich hinlegen. Wir gingen noch kurz den Trainingsplan für den nächsten Tag durch, wobei sie sich wieder etwas zu fangen schien.

Ich nahm noch einmal ihre Hand, sie entzog sie mir schnell, lächelte mich dabei aber an.

— Everything’s gonna be okay.™ (Ich)

— Das hast du schon lange nicht mehr zu mir gesagt. (Riva, immer noch lächelnd)

— Du hast es schon lange nicht mehr gebraucht.

 Mach dir keine Sorgen, Dom.

Mit diesem Satz verließ sie mein Büro.

Ich ging mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch, weil ihr Lächeln mir authentisch vorkam, als hätte sich etwas Grundsätzliches in ihr gelöst.

2

Das Klingeln meines Tablets weckt mich um 2 Uhr 33. Seit ich regelmäßig im Nachtdienst arbeite, brauche ich nur Sekunden, um die Schwere des Schlafs aus den Gliedern zu schütteln. Wie ein Vogel, der nur mit einer Gehirnhälfte schläft.

Ich bin noch im Büro. Ich muss beim Sichten der Archivdokumente eingeschlafen sein. Mein Nacken schmerzt von der unvorteilhaften Schlafposition. Ich habe mit dem Kopf auf dem Schreibtisch gelegen, die Kante meines Tablets hat einen Abdruck auf meiner rechten Wange hinterlassen.

— Was kann ich für Sie tun?

Obwohl sich die Anruferin über die interne Call-a-Coach™-Hotline ihres Arbeitgebers eingewählt hat, werden weder ihre Identifikationsnummer noch ihr Sprachprofil vom System erkannt. Ich verstehe ihren Namen nicht, die Stimme ist verzerrt und wird unterbrochen von Schluchzern.

— Von wo rufen Sie an?

— Von zuhause, ich bin zuhause.

— Von Ihrem Tablet? Ihre Nummer ist nicht registriert.

— Sie ist neu. Es ist ein neues Gerät.

— Okay, verstehe.

— Ist das schlimm?

— Nein. Natürlich nicht. Was ist passiert?

Immer wieder Nasehochziehen. Das Geräusch veranlasst meinen Körper dazu, sich zu versteifen. Muskel für Muskel spanne ich mich in eine Starre hinein, die meine Nackenschmerzen verstärkt. Ich kann das Bild nicht abschütteln, wie der herablaufende Nasenschleim der Anruferin immer wieder nach oben gezogen wird.

— Versuchen Sie, ruhig zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Sehen Sie.

— Was soll ich jetzt tun?, fragt sie mit leiser, gepresster Stimme. Was soll ich denn jetzt machen?

— Darf ich Sie bitten, mir die Situation einmal von Anfang an zu schildern? Ich konnte leider Ihren Namen nicht verstehen.

— Talin, sagt sie in unerwartet offiziellem Ton. Omega Talin.

Meine Suchanfrage des Nachnamens liefert fünfzehn Ergebnisse auf der Mitarbeiterliste im Intranet ihres Arbeitgebers, aber keinen mit diesem Vornamen.

— Frau Talin, für welche Abteilung arbeiten Sie?

— Kash Talin, sagt sie mit langsam ausblendender Stimme, als reduziere jemand die Audiolautstärke. Ich bin die Partnerin von Kash Talin, Abteilungsleiter Media Relations App Content.

— Was genau ist vorgefallen?

Sie atmet, schluckt, zieht wieder den Schleim in ihrer Nase hoch.

— Er betrügt mich. Er hat eine andere. Er ist nicht nach Hause gekommen. Ich habe seine Nachrichten gelesen. Was soll ich denn jetzt machen? Wenn er mich verlässt, muss ich zurück in die Peripherien. Wir haben eine Credit Union. Ich habe vor drei Wochen meinen Job verloren. Mein Leben ist vorbei.

Im Online-Feedbackformular verorte ich die akute Suizidgefahr bei vierzig Prozent, korrigiere sie dann aber auf dreißig herunter. Unter Anlass des Anrufs trage ich ein: Affäre Partner, unter Next Actions: Leitung Media Relations informieren.

Ich tippe eine kurze Nachricht an Kash Talin, Betreff: urgent!

— Sind Sie sich denn ganz sicher, dass die Nachrichten echt sind? Frau Talin? Omega?

Ihre Frau vermutet Affäre. Rufen Sie mich an. Ich drücke Senden.

Frau Talin atmet, aus, ein, aus. Ich stelle mir vor, wie ihre Brust sich hebt und senkt unter ihrem dünnen Nachthemd. Feucht vom Angstschweiß, von der körperlichen Anstrengung der Panik.

— Ich weiß nicht. Sie sind an seinen privaten Account … Er ist nicht nach Hause gekommen.

Die Eingangsbestätigung kommt sofort. Still on the phone with her, tippe ich die Antwortvorlage an und füge hinzu: Ich sage Bescheid, wenn die Leitung frei ist.

— Frau Talin, wir machen jetzt Folgendes. Wir absolvieren gemeinsam eine Entspannungsübung, eine Visualisierung, eine kleine innere Reise. Um Ihrem Körper und Geist ein wenig Ruhe zu gönnen. Um wieder klar denken zu können. Okay?

— Okay.

Ihre Stimme immer noch unter Zimmerlautstärke.

— Wir kriegen das hin.

— Okay.

— Wir kriegen das alles wieder hin.

Nachdem ich aufgelegt habe, spreche ich kurz mit Kash Talin.

— Beenden Sie Ihre Affäre, sage ich, Sie wissen, was das Ende einer Primärbeziehung mit der Produktivität macht. Überlegen Sie sich, zu wie viel Prozent Sie in Ihrer Beziehung bleiben möchten. Wenn es über fünfzig Prozent sind, tun Sie etwas dafür.

Ich schicke ihm Links zu Partner-Coachings und Online-Guides für Langzeitbeziehungen.

Mein Ranking in der Call-a-Coach™-Applikation auf meinem Tablet aktualisiert sich sofort. Ich habe sowohl in der Kundenbewertung als auch bei der Bewertung durch den Auftraggeber im Trackingtool den Höchstwert erhalten. Es wird nur noch wenige Coachings brauchen, bis ich im Profil zum MasterCoach aufsteige. Ich verbringe den Rest der Nacht in einer freien Schlafkoje im RoomOfRest™, weil es sich nicht lohnt, noch nach Hause zu fahren.

3

— Ich verstehe dich nicht, sagt Aston.

Wenn er mit Riva spricht, lässt er in letzter Zeit häufig Lücken, in die Antworten hineinpassen würden. Als ob man sie später noch nachtragen könnte.

— Du hast doch alles, sagt Aston. Uns geht es doch gut. Warum willst du das einfach so wegwerfen?

Er lässt seinen Blick über die Designmöbel streifen, das ausladende, von einem bekannten Innenarchitekten gestaltete Wohnzimmer, das schon mehrfach auf Architekturblogs gefeaturt wurde. In einem der begehrtesten Distrikte, reserviert für VIPs und Bestverdiener. Riva und Aston wohnen nur drei Stockwerke unter dem Penthouse. Ihr Blick über die Stadt ist atemberaubend. Das hereinfallende Licht heute besonders intensiv. Ich muss die Bildschirmhelligkeit ständig anpassen, wenn ich die Kameraansicht wechsle. Ich stelle mir vor, wie das Tageslicht mit jedem Stockwerk unter ihnen langsam abnimmt und im untersten Stock nur noch Kunstlicht existiert.

— Du hast dir das doch alles erarbeitet, sagt Aston. Du hast so hart gearbeitet.

Riva schweigt. Sie sitzt wieder am Boden, heute näher am Fenster, so dass sie hinausschauen kann. Der Kreisel ist nirgends zu sehen. Man kann nicht erkennen, ob sie wirklich nach draußen schaut oder in inneren Bildern versunken ist.

— Was, wenn ich nicht hart arbeiten will, sagt sie irgendwann.

Ich markiere den Satz hellgelb.

— Was willst du dann?

Riva schweigt. Ich setze den Tageszähler ihrer gesprochenen Sätze auf eins.

Dem Beziehungsprofil zufolge, das der Datenanalyst angelegt hat, haben sich Aston und Riva vor knapp fünf Jahren bei einer Matinee kennengelernt, der Ausstellungseröffnung eines Fotografen, der gerade ein Editorial von Riva herausgebracht hatte. Ein ehemaliger Studienkollege von Aston, zu diesem Zeitpunkt erfolgreicher und bekannter als er.

Von ihrem ersten Treffen gibt es viele Fotos, aber verhältnismäßig wenige Papavids™. Nach der Etablierung der Marke Rivaston™ wurde das dürftige Videomaterial in den Lifestyle-Medien und in Rivas Brand-Apps in immer neuen Versionen gepostet, neu geschnitten und kommentiert.

Aston muss sie schon von weitem erkannt haben, Riva Karnovsky, die Hochhausspringerin. Die Pressefotos der Veranstaltung inszenieren sie als Inbegriff von Jugendlichkeit. Lebhaft und ungestüm, wie ein Teenager in einem zu teuren Designerkleid. Ihre Wangen rosig, wahrscheinlich vom Alkohol, den ihr Ernährungsprofil nur für besondere Anlässe erlaubt.

Ein paar Tage später erzählte Riva auf einem Society-Blog von ihrem ersten Gespräch mit Aston, laut Redakteurin mit »glühendem Gesicht«.