GUDRUN BURKHARD

DAS LEBEN IN
DIE HAND NEHMEN

Arbeit an der eigenen Biografie

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einführung

Erster Teil: Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Biografie

Allgemeiner Überblick

Biografie 1

Biografie 2

Die Entwicklung bis zum 21. Lebensjahr:
«Das Menschwerden» – Vorbereitung für das Leben

Das 21. Lebensjahr

Die Phase von 21 bis 42 Jahren:
«Menschsein» – die seelische Entwicklung

Brief eines zweiundzwanzigjährigen Medizinstudenten

Die Entwicklungsphase vom 21. zum 28. Jahr

Das 28. Lebensjahr: Krise der sterbenden Begabungen

Vom 28. bis zum 35. Lebensjahr: «Sterben und neu auferstehen»

Biografie 3 – Erlebnisse zwischen dem 30. und 33. Lebensjahr

Biografie 4

Das 35. Lebensjahr und die Phase von 35 bis 42 Jahren

Biografie 5

Die Krise um das 42. Lebensjahr

Biografie 6

Vom 42. bis zum 63. Lebensjahr:
«Die menschliche Erfüllung» – geistige Entwicklung

Vom 42. zum 49. Lebensjahr: Neue Kreativität und neues Schauen

Vom 49. bis zum 56. Lebensjahr: Neues Hinhören

Biografie 7

Vom 56. zum 63. Lebensjahr: Die «intuitive Seite»

Biografie 8 – Lebensbericht in Form eines Märchens

Die Geschichte eines Rosenstrauches

Die letzten Abschnitte im menschlichen Lebenslauf

Rhythmen und Spiegelungen in der Biografie

Zweiter Teil: Arbeit an der eigenen Biografie

Methodik

Die Lebensmotivation – das Geheimnis der Zielsetzungen

Schematische Anleitung für persönliche Zielsetzungen

Einige Fragen zur Arbeit an der eigenen Biografie

Autobiografie der Autorin

Drucknachweise

Literaturhinweise

Die Autorin

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Fußnote

Vorwort

Biografiearbeit ist heute sehr aktuell. Es erscheinen viele Bücher und Schriften zu dieser Thematik, und die angebotenen Kurse und Vorträge sind überfüllt. Denn diese Arbeit ist nicht nur für Menschen in Not- und Krisenzeiten wichtig oder aber als Hilfe zur Bewältigung eines Krankheitsschicksals. Vielmehr ist sie auch demjenigen eine Hilfe, der für seine Selbsterkenntnis Vertiefung sucht und zugleich sein Interesse und Verständnis für andere Menschen und ihre Lebenssituationen anregen und erweitern möchte.

Die Autorin hat ihr Buch ganz aus der praktischen Arbeit heraus geschrieben, wobei ihre ärztlichen Erfahrungen im Hintergrund deutlich spürbar sind. Sie spricht unmittelbar aus der von ihr individuell verarbeiteten anthroposophischen Menschenkunde heraus und den dort geschilderten biografischen Entwicklungsgesetzen. Es kommt ihr darauf an, die Lichtmomente jeder Biografie sowie deren Schattenseiten so ins Bewusstsein zu heben, dass es dem Menschen gelingt, Zugang zu diesen beiden Seiten des Lebens zu finden und auch die unguten und dunklen Aspekte zu integrieren und in ihrer Wertigkeit für die eigene Biografie erkennen zu lernen. Dabei geht sie in ihren Schilderungen und Beispielen immer von konkreten Lebenssituationen aus und führt den Leser so weit, dass er sich angeregt fühlt, selbst weiterzudenken und seine Biografie als Arbeitsfeld in die Hand zu nehmen.

Im zweiten Teil dieser Schrift sind methodische Hinweise für die eigene Arbeit an der Biografie gegeben, die es jedem ermöglichen, den Anfang damit zu machen.

Gudrun Burkhard ist die Begründerin der anthroposophischen Medizin in Brasilien und der dort erfolgreich tätigen «Clinica Tobias», die zum Zentrum der anthroposophisch-medizinischen Arbeit wurde. In den letzten Jahren hat sie sich ganz der Krebsnachsorge, der Diätetik sowie der Biografiearbeit gewidmet und dafür die Nachsorge- und Erholungsklinik «Artemisia» begründet. Seither hat sich auch ihre Kurs- und Vortragstätigkeit über Brasilien hinaus auf Europa ausgedehnt, wo sie insbesondere in der Schweiz, in Deutschland, Spanien und Portugal regelmäßig zur Biografiearbeit eingeladen war.

Es war Gudrun Burkhard stets ein Anliegen, ihre medizinische Arbeit in Brasilien im geistigen Zusammenhang mit den Zielsetzungen der Medizinischen Sektion am Goetheanum zu sehen und zu pflegen. Mögen ihre Gesichtspunkte zur Biografiearbeit sich konstruktiv in den Kreis der deutschsprachigen Publikationen zu diesem Thema einfügen.

Medizinische Sektion am Goetheanum

Dornach/Schweiz

August 1992  Michaela Glöckler

Danksagung

Dieses Buch ist meinen Lehrern Rudolf Steiner und Ita Wegman, Norbert Glas, Rudolf Treichler und Bernard Lievegoed mit Dank gewidmet, besonders auch Helmut J. ten Siethoff, der mir und meinem Mann vor beinahe dreißig Jahren die Grundlagen zur Biografiearbeit gegeben hat.

Vor allem auch sei den vielen Menschen gedankt, die sich unserer Arbeit anvertraut haben und aus deren Lebensreichtum dieses Buch entstehen konnte. Mein Dank gilt ebenso meinem ersten Mann und Gefährten Peter Schmidt und unseren vier Kindern wie auch meinem zweiten Mann Daniel Burkhard, mein Begleiter in glücklichen und schweren Zeiten, die wir Seite an Seite durchgestanden haben.

Dank auch allen Mitarbeitern der «Artemisia», der Stätte, die für unsere Arbeit in Brasilien eingerichtet wurde. Zum Zustandekommen der schriftlichen Arbeit haben Lily Wilda und Suzana H. Lüchow beigetragen. Die Zeichnungen stammen von Michael Seltz.

Gudrun Krökel-Burkhard

Einführung

Wenn sich zwei Freunde wieder begegnen, die sich lange nicht gesehen haben, dann erzählen sie sich meist aus ihrem Leben. Sie teilen sich Ereignisse und persönliche Erfahrungen bis zu dem Moment ihres Wiedersehens mit. Ihnen, liebe Leser, geht es sicher auch so.

Auf diese Weise werden längst vergessene Erinnerungen wieder wach. Man stellt Fragen oder äußert seine Beobachtungen und Erinnerungen zu dem Gehörten. Wie zwei Flüsse, die sich hier und da berühren, vermischen, austauschen und dann wieder ihren Weg nehmen, verläuft das Gespräch. Man könnte sich stundenlang auf diese Weise unterhalten. Warum ist dieses Gespräch so erquickend? Unsere Persönlichkeit und die des Gesprächspartners werden wie von einem Zauberstab berührt, sie werden ganz wach und gegenwärtig. Unsere Vergangenheit leuchtet in der Gegenwart in uns auf, und häufig entstehen dadurch neue Entscheidungen und Ziele für die Zukunft.

Wenn wir uns nun einmal diesen natürlichen Vorgang, den jeder erlebt, bewusster und klarer vor Augen halten und ihn in uns aufnehmen, können wir beginnen, an unserer Biografie zu arbeiten. Dieses Buch soll eine Anregung sein, sich in bestimmten Abständen – es können darüber Jahre vergehen – die Zeit zu nehmen, an seiner eigenen Biografie zu arbeiten – allein im stillen Kämmerchen, draußen in der Natur, mit Freunden oder zusammen mit anderen Menschen in einem Kurs. Es kommt ganz darauf an, in welcher Situation wir uns befinden: ob wir uns mehr auf uns konzentrieren wollen oder uns durch die Erfahrungen der anderen bereichern lassen wollen.

Es gibt die vielen Biografien berühmter Persönlichkeiten, aber für jeden Einzelnen ist seine eigene Biografie am wichtigsten. Wir können wohl sagen, dass von den über tausend Biografien, die wir in Gesprächen gehört haben, jede anders und einmalig und jede äußerst interessant ist.

Heute nützt es wenig, ein Genie zu sein oder außerordentlich begabt. Die eigene Genialität kann zwar anderen zugute kommen oder der Welt neue Errungenschaften bringen. Aber sie hilft einem wenig, wenn man sich im sozialen Zusammenleben unmöglich verhält, bei den anderen Menschen dauernd aneckt, mit ihnen nicht auskommt und die Entwicklungsarbeit an sich selbst nicht leistet. Die Genialität strömt aus der Vergangenheit, aber durch die Arbeit an uns selbst, durch die Begegnung mit anderen Menschen und unser Verhalten ihnen gegenüber schreiten wir, in ständiger Umwandlung begriffen, von der Gegenwart in die Zukunft. «Er ist ein Genie – aber im sozialen Leben unmöglich»: Das Verhalten eines Menschen, den man mit solch einem Satz charakterisiert, hat heute keine Berechtigung mehr. Ein weniger begabter Mensch, der sich im Leben Fähigkeiten abringen muss und an sich arbeitet, wird für die Zukunft mehr Früchte ernten als derjenige, der eine große Begabung mitbringt, sich selbst aber nicht läutert.

Nach einem Biografiekurs stellte eine Teilnehmerin die Frage: «Wie kann ich es verhindern, dass ich mich in meine eigene Biografie verliebe?» Dazu ist folgender Gesichtspunkt wichtig: Je mehr wir an unserer eigenen Biografie arbeiten und sie verstehen, desto mehr verstehen wir die anderen Menschen. Es sind sozusagen dieselben «Organe», die das Verständnis wecken. Rückblickend auf unser Leben spüren wir auch, wie viel wir anderen Menschen verdanken. Durch sie sind wir zu dem geworden, was wir heute sind. Und ein Dankbarkeitsgefühl wird uns erfüllen. Wir können diesen Gedanken unendlich erweitern. Wie viel verdanken wir unserem Engel und den Wesen, die den Menschen erschaffen haben? Wie viele Male befanden wir uns in einer Lebensgefahr und sind im letzten Moment aus ihr gerettet worden? Viele Situationen verdanken wir den erhabenen Schicksalsführern, die weiser sind als wir selbst. Und wenn wir auf diese Lebenslagen ganz besonders mit Dankbarkeit zurückschauen, erkennen wir: Allein von mir aus hätte ich das nie geschafft!

Abb. 1

Immer mehr Menschen leiden heute an Einsamkeit. Die gegenwärtige Zeit hat uns dahin geführt, dass wir von der geistigen Welt abgeschnitten sind. Unsere Vorfahren hatten noch ein natürliches Verhältnis zum Religiösen. Als moderne, wissenschaftliche Menschen haben wir diese Beziehung verloren. Überdies haben wir uns aus den alten Banden der Familienzugehörigkeit herausgelöst. Jeder will heute seine eigenen Wege gehen. Es wird immer seltener, dass die junge Generation in die Aufgaben und Arbeiten der Älteren einsteigt oder dass gar ein Sohn den Betrieb des Vaters übernimmt. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem eigenen Land, mit dem eigenen Volk nimmt immer mehr ab. Mehr und mehr werden wir zu Erdenbürgern im weiten Sinne des Wortes. Die modernen Kommunikationsmittel erlauben uns, in wenigen Sekunden alles wahrzunehmen, was auf der ganzen Welt geschieht. Auch den natürlichen Kontakt zur Erde, zur Natur und zu ihren Gegebenheiten, den unsere Vorfahren noch besaßen, haben wir verloren. Ja, wir zerstören sogar die Natur um uns herum.

Obwohl wir ständig unter Menschen sind, fühlen wir uns einsam und haben wenig Kontakt mit ihnen. Die große Frage stellt sich uns: Wie können wir diese Einsamkeit überwinden? Allein durch einen bewussten Kontakt mit dem Geistigen, durch eine neue Form der Beziehung zur Familie, zur Natur – und vor allem zu unseren Mitmenschen. Der erste Schritt in diese Richtung besteht darin, sich für den anderen Menschen zu interessieren, sich ihm zuzuwenden und nicht zu warten, bis er auf uns zukommt, und nun zu versuchen, seine Individualität besser zu verstehen. Dazu ist es eine gute Hilfe, wenn man den Lebenslauf des Mitmenschen kennt und sich seiner Biografie nicht mit Kritik, sondern mit einer Haltung der Bewunderung zuwendet. Wie großartig und einmalig jede Biografie doch ist und wie sehr jeder Einzelne dieses oder jenes Problem auf eine ganz besondere Art gelöst hat! Wir kommen hier ins Staunen.

Bewusst an seiner eigenen Biografie zu arbeiten bildet in uns das Verständnis für die Biografie des anderen Menschen aus – und damit bauen wir neue Brücken zu ihm. In Goethes «Märchen» fragt der König die Schlange: «Was ist herrlicher als Gold?»–«Das Licht», antwortete die Schlange. «Was ist erquicklicher als Licht?», fragte jener. –«Das Gespräch», antwortete diese.

Ein bewusst geführtes Gespräch trägt ein verbindendes Element in sich – es baut neue Brücken!

Die in diesem Buch erarbeiteten Gesichtspunkte entspringen einer langjährigen Tätigkeit, bei der meine Mitarbeiter und ich mit vielen Menschen in Gruppen gearbeitet haben. Seit 29 Jahren bieten wir in Brasilien Kurse über Biografiearbeit und über biografische Gesetzmäßigkeiten an. Wie ich zu dieser Arbeit gekommen bin, ist in der Autobiografie am Ende des Buches nachzulesen. Diese Kurse entspringen einem therapeutischen Impuls. Sie stehen allen offen, werden aber besonders für Menschen gehalten, die sich in einer schwierigen Lebenssituation seelischer oder physischer Art befinden. Auch viele Menschen, die in Berufs- oder Lebenskrisen stehen, besuchen unsere Kurse. Die einzelnen Biografien, die in diesem Buch abgedruckt sind, sind authentisch. Sie wurden von einzelnen Teilnehmern der Biografieseminare verfasst.

Der erste Teil des Buches schildert Beobachtungen zum menschlichen Lebenslauf und gibt einen Überblick über biografische Gesetzmäßigkeiten. Wie wir methodisch in unseren Kursen vorgehen und wie jeder Einzelne an seiner Biografie arbeiten kann, geht dann aus einem zweiten Teil des Buches hervor. Die Gedichte zwischen den einzelnen Kapiteln können als Leitmotive für die Arbeit an der Biografie dienen.

Erster Teil:
Gesetzmäßigkeiten
der menschlichen Biografie

Gesang der Geister über den Wassern

Des Menschen Seele

Gleicht dem Wasser:

Vom Himmel kommt es,

Zum Himmel steigt es,

Und wieder nieder

Zur Erde muss es,

Ewig wechselnd.

Strömt von der hohen,

Steilen Felswand

Der reine Strahl,

Dann stäubt er lieblich

In Wolkenwellen

Zum glatten Fels,

Und leicht empfangen

Wallt er verschleiernd,

Leisrauschend

Zur Tiefe nieder.

Ragen Klippen

Dem Sturz entgegen,

Schäumt er unmutig

Stufenweise

Zum Abgrund.

Im flachen Bette

Schleicht er das Wiesental hin,

Und in dem glatten See

Weiden ihr Antlitz

Alle Gestirne.

Wind ist der Welle

Lieblicher Buhler;

Wind mischt vom Grund aus

Schäumende Wogen.

Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!

Johann Wolfgang von Goethe

Allgemeiner Überblick

Bevor wir uns mit Einzelfragen der Biografie beschäftigen, ist es hilfreich, sich einen Überblick über Gesetzmäßigkeiten des gesamten Lebenslaufes zu verschaffen. Wir skizzieren daher zunächst die menschliche Biografie mit einem groben Schema.

Der Lebenslauf des Menschen lässt sich in drei große Abschnitte gliedern:

Die erste Phase des menschlichen Lebens ist besonders von der körperlichen Entwicklung geprägt. Hier ist unsere Individualität vor allem mit dem Aufbau unseres Leibes und der physiologischen Reifung unserer Organe beschäftigt. Dieser Zeitraum reicht von der Empfängnis bis etwa zum 21. Lebensjahr. Wir können ihn auch die «empfangende Phase» oder die «Vorbereitung» nennen. In ihm wirken wir selbst noch wenig an unserem Schicksal mit. Das Schicksal ist uns vielmehr von unserer Vergangenheit mitgegeben worden.

Dann durchleben wir eine mittlere Phase, in der wir uns vornehmlich seelisch entwickeln. In dieser Phase stellt sich uns die große Aufgabe der Selbsterziehung und der Selbstentwicklung. Unsere Individualität ist nicht mehr in dem gleichen Maße wie zuvor leibgebunden. Sie wird mit dem 21. Lebensjahr «mündig» und kann jetzt das Leben in Selbstverantwortung gestalten. Wir leben nun in der Phase der großen «Expansion», in der wir eine Familie gründen, ein Haus bauen, den Beruf ausüben, Karriere machen. Zugleich ist dies die Phase, in der wir es mit vielen Menschen zu tun haben – also eine am sozialen Leben ausgerichtete Phase. Wir lernen an dem anderen Menschen. Wir erleben im zwischenmenschlichen Umgang Konfrontation, Liebe, Begeisterung, Antipathie – Gefühle, mit denen wir leben lernen und die wir unter die Kontrolle unseres Ich bringen müssen. Durch all diese Daseinskämpfe wird unsere Seele immer mehr geschliffen; wir erreichen unsere psychische Reife. In dieser Zeit realisieren wir uns als Persönlichkeit in der Welt. Erst nach diesem Lebensabschnitt sind wir im vollen Sinne erwachsen. Wir sind dann etwa 42 Jahre alt. In dem Zeitraum der seelischen Entwicklung halten sich Aufbau- und Abbauprozesse in unserem Leib das Gleichgewicht; daher können wir nach außen hin außerordentlich produktiv sein.

Nun treten wir in die dritte Phase ein, die Phase der geistigen Entwicklung. Wie bei der Pflanze, die sich ausgebreitet und Blüten und Früchte getragen hat, müssen auch bei uns die Früchte des Lebens sichtbar werden. Wir müssen sie zur vollen Reifung kommen lassen. In dieser Zeit lassen die biologischen Kräfte schon allmählich nach, die Abbaukräfte des Leibes gewinnen die Oberhand. In unserer seelisch-geistigen Entwicklung setzen wir uns nicht nur eigene Ziele, sondern wenden uns größeren Zielen zu. Mit anderen Worten: Wir setzen uns Menschheitsziele. Außerdem beginnen wir uns immer stärker mit den nachfolgenden Generationen zu beschäftigen. Unsere Entwicklungsziele zu erreichen erfordert eine größere Anstrengung, weil wir in der Phase, in der wir uns jetzt befinden, nicht mehr von den Lebenskräften des Leibes getragen werden. Gerade das ermöglicht uns andererseits, ein größeres Bewusstsein zu entfalten, denn die Aufbauprozesse des Leibes dämpfen das Bewusstsein herab. Nach der Mahlzeit beispielsweise fühlen wir uns schläfrig; ein Säugling schläft fast die ganze Zeit und verdoppelt innerhalb eines halben Jahres sein Gewicht. Je mehr dagegen der Abbau des Leibes fortschreitet, desto mehr Bewusstsein entwickeln wir. Dank der Abbauprozesse werden in dieser Periode mehr Lebenskräfte frei, die als Bewusstseinskräfte zur Verfügung stehen. (In Abbildung 2, auf Seite 23, haben wir diese Entwicklung durch die Linie a dargestellt.)

In dem jetzigen Lebensabschnitt können die seelischen Kräfte entweder den Aufstieg unserer Bewusstseinskräfte mitvollziehen oder aber, wenn wir nicht bewusst an uns arbeiten, dem Abbau unseres Leibes verfallen. Natürlich kann man auch den Abbauprozess seines Körpers ignorieren und weiterhin mit maximaler Spannkraft arbeiten. Das kann dann allerdings nach einigen Jahren zu einem gewaltigen Zusammenbruch führen – mit Krebs, Herzinfarkt, Stress- oder Erschöpfungssymptomen usw. –, und man wird zu einer Pause in seinem Leben genötigt. Danach muss man dann gezwungenermaßen sein Leben neu gestalten. (Vergleiche die Linie b in der Abbildung 2.)

In der Tierwelt können wir beobachten, dass die Tiere in dieser Lebensphase unnütz und unnötig werden und auf den Tod warten. Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten schildert diesen Vorgang in treffender Weise.

Wenn ich als Mensch die Einstellung habe: «Ach, jetzt bin ich schon fünfundvierzig, es lohnt sich doch nicht mehr, etwas Neues zu beginnen», dann falle ich in meiner seelischen Entwicklung ab. (Vergleiche dazu die Entwicklungslinie c in der Abbildung 2.)

Da der Mensch jedoch nicht nur ein biologisches Wesen, sondern auch ein geistig-seelisches Wesen ist, hat er in dieser Lebensphase große Entfaltungsmöglichkeiten: «Das Leben beginnt mit vierzig!» ist ein treffender Spruch für diese Tatsache. In dieser Zeit lösen sich die seelisch-geistigen Kräfte immer mehr vom Leib, und wir können neue Geistesanlagen in immer größerer Freiheit entfalten.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich findet auch in den ersten 21 Jahren eine seelische Entwicklung statt. Diese ist aber stark körpergebunden. Auch das geistige Element der Persönlichkeit leuchtet in dieser Zeit langsam immer mehr auf. Und selbstverständlich geht auch in der Phase der geistigen Entwicklung, also in dem dritten Abschnitt unseres Lebens, die seelische Entwicklung weiter, und vieles, was in den vorhergehenden Jahren verpasst wurde, kann noch nachgeholt werden. Man kann zudem die seelische Entwicklungsphase nicht verstehen, wenn man nicht auch den Blick auf das Ich richtet, das ständig an der Umgestaltung und Umformung der Seele arbeitet. Immer also wirken Körper, Seele und Geist (Ich) zusammen.

Die drei großen Phasen des Lebens könnten wir auch wie folgt charakterisieren:

Von alters her kennt man diese verschiedenen Phasen; sie werden als auch Frühling, Sommer und Herbst des Lebens bezeichnet. Ein Gärtner, der die Jahreszeiten gut kennt, weiß, wann er dieses oder jenes säen muss und wann er es ernten kann. Auch der Mensch, der von den Lebensphasen ein Bewusstsein hat, wird wie der gute Gärtner nicht ernten wollen, bevor der Baum nicht gewachsen ist und geblüht hat. Im Frühling sind alle Pflanzen noch im Keimen und benötigen viel Kraft zum Wachsen. Im Sommer breiten sich die Pflanzen in der Natur ganz aus, und im Herbst reifen die Früchte und bringen Samen. Im Winter dann ruhen die Samen in der Erde und warten auf neues Leben.

Wenn wir das menschliche Leben in zwei Hälften teilten, könnten wir sagen: Bis etwa zum 35. Lebensjahr ist alles auf Vorbereitung eingestellt – es ist wie ein großes Einatmen. Der Körper atmet seine geistige Individualität ein. Diesen Prozess können wir als Inkarnation bezeichnen (siehe Abbildung 2).

Ab dem 35. Lebensjahr ist alles stärker auf Geben eingestellt – wir geben dem Leben und den Menschen, die uns umgeben, dasjenige, was wir empfangen haben, und machen es für die Welt fruchtbar. Das große Ausatmen beginnt. Die jetzige Entwicklung lässt sich als ein Prozess der Exkarnation charakterisieren (vergleiche wiederum die Abbildung 2). Es ist interessant, dass zu diesem Zeitpunkt (etwa mit 35 Jahren) unsere Lunge die größte Ausdehnungsmöglichkeit besitzt. Ihre Elastizität hat das maximale Volumen erreicht, das sich dann langsam wieder verringert. Auch das Leistungsvermögen eines Sportlers lässt nach dieser Zeit deutlich nach.

Abb. 2

Man kann die menschliche Biografie auch mit einem Tagesrhythmus vergleichen. Wir kommen aus dem Schlaf, wir wachen langsam auf, wir öffnen uns der Welt, wir müssen unseren Körper erst anwärmen, damit wir völlig in ihm sind und ihn ganz beherrschen – so wie sich ein Musiker erst einspielen muss, bevor er sein Instrument ganz beherrscht und er ihm die schönsten Töne entlocken kann. Oder wie der Sportler, der sich auch erst anwärmt, bevor er an einem Wettbewerb teilnimmt. Dann kommen die produktiven Stunden des Tages, gleich den produktivsten Jahren im Leben der mittleren Phase. Abends ziehen wir uns langsam von unserem Körper zurück, wir werden müde, bis wir in den Schlaf übergehen – oder in der Biografie in den Tod.

In der Mitte unseres Lebens findet sozusagen eine Umkehrung der Werte statt. Wir haben vorher Wissen von außen eingesogen, in uns eindringen lassen, und geben diese empfangenen Werte nun in umgewandelter, in geläuterter Form wieder als Weisheit nach außen, an unsere Umwelt, zurück.

Man erlebt oft, dass ein kleines Kind von einer Art «Aura» umgeben wird. Es begegnet der Welt ganz unschuldig und wie verzaubert. Bei manchen älteren Menschen dagegen erleben wir – wenn dieser Mensch eine innere geistige Zufriedenheit und Ausgeglichenheit besitzt – ein Strahlen, ein Leuchten, das von innen heraus kommt. Dasjenige also, was außen war, wird am Ende des menschlichen Lebens von innen heraus ergriffen.

In der ersten Hälfte seines Lebens kommt der Mensch immer mehr auf die Erde. Erziehung und Umgebung müssen dazu beitragen, dass der Körper gesund und stark wird, dass man sozusagen Boden unter die Füße bekommt. Der gesunde Körper bildet dann die Voraussetzung dafür, dass dieser Mensch ein ausgeglichenes seelisches und geistiges Leben führen kann. In der zweiten Hälfte des Lebens ist es stärker das geistige Bewusstsein des Menschen, das zur Harmonie seines Daseins beiträgt, auch wenn der Körper manchmal schon von Krankheit oder Altersbeschwerden befallen ist. In dieser Lebensphase ist ein ausgeglichenes seelisches und geistiges Verhalten Voraussetzung für das körperliche Wohlbefinden des Menschen.

Diese drei großen Phasen können nun jeweils in drei kleinere Phasen unterteilt werden, und so ergibt sich eine Periode von jeweils sieben Jahren, ein «Jahrsiebt». Wir bemerken nach sieben Jahren wesentliche Veränderungen im Lebenslauf, und wir werden lernen müssen, unser Augenmerk auf sie zu richten.

Schon früher hat man den Lebenslauf in Jahrsiebte (den Zeitraum von sieben Jahren) eingeteilt; Rudolf Steiner hat diese Betrachtungsweise wieder aufgegriffen und durch geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte fundiert. Am Anfang oder am Ende jedes Jahrsiebts finden besondere Umwandlungen statt, die in der ersten großen Lebensphase vor allem leiblich, dann in der zweiten stärker seelisch und in der dritten Phase in erster Linie geistig-seelisch sichtbar werden. In dem Kapitel Rhythmen und Spiegelungen in der Biografie (siehe S. 171 ff.) werden wir näher darauf eingehen. Wir werden die Jahrsiebte in den geschilderten beispielhaften Biografien besonders berücksichtigen. Um nicht einen rein theoretischen Weg zu gehen, werden wir immer wieder Biografien betrachten und uns langsam die theoretischen Begriffe erarbeiten.

Wir wollen nun versuchen, uns anhand einiger Lebensläufe in das Element des Biografischen einzufühlen.

Biografie 1

Ich wurde in Portugal geboren, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Coimbra. Dort gab es viel Grün, viele Bäume, und das Gebirge war auch nicht weit entfernt. Es war ein sehr schöner, ruhiger Ort. Ich bin das dritte Kind und habe einen drei Jahre älteren und auch noch einen vierzehn Monate älteren Bruder.

Meine erste Erinnerung:

Es war um meinen zweiten Geburtstag herum, als meine kleinere Schwester geboren wurde. Ich hörte das Schreien meiner Mutter, die wohl in den Wehen lag. Meine älteren Brüder waren außer Hause, und ich fühlte mich sehr einsam. Ich kletterte auf einen Stuhl, um aus dem Fenster zu schauen. Man blickte über Berge und Täler. Da sah ich plötzlich die Mutter Gottes mit einem roten Kleid und blauen Mantel. Ich erschrak sehr und lief davon.

Als ich mit 68 Jahren wieder in jenes Haus zurückkam, sah ich genau das Fenster und den Stuhl und fühlte einen leichten Schauer. Ich sehe das Bild noch wie damals vor mir.

Nach drei Jahren wurde eine weitere Schwester geboren.

Als ich drei Jahre alt war, verlor mein Vater sämtliches Hab und Gut. Wir zogen in das Haus meiner Großeltern in Aveiro; mein Vater siedelte dann nach Brasilien, nach Bahia, um. Ich war damals vier Jahre alt. Schließlich sind auch wir, meine Mutter, die wieder schwanger war, und die vier Geschwister nach Salvador (Bahia) dem Vater nachgezogen. Dort starben innerhalb einer Woche meine beiden jüngeren Schwestern an einer bazillären Durchfallerkrankung, nachdem wir unreines Wasser getrunken hatten. In der Woche darauf wurde meine Mutter von einem anderen Kind, meinem neuen Schwesterchen, entbunden. Da die Kleine, um den Verlust der beiden anderen Kinder auszugleichen, mit großem Eifer umsorgt wurde, war ich natürlich sehr eifersüchtig.

Als ich fünf Jahre alt war, zog die ganze Familie nach Rio de Janeiro, aber dort war alles schwierig. Um die Gesundheit meiner Mutter stand es auch nicht gut. So entschloss sie sich, mit den vier Kindern nach Portugal zurückzukehren, und wir alle lebten wieder im Haus meiner Großeltern in Aveiro. Mein Vater blieb in Brasilien und war im Vertretungsgeschäft tätig. Später zog er nach São Paulo um.

Aveiro ist eine sehr schöne Stadt, mit vielen Blumen, und sehr sauber. Die Stadt wird von einem Flussarm durchquert, der besonders für uns Kinder eine große Attraktion darstellte, denn dort verkehrten viele Schiffe und Boote, die mit Zeichnungen geschmückt waren. Es war ein besonders buntes Leben. Meine Brüder gingen in Aveiro in die Vorschule, und ich besuchte in einem Schwesternkolleg die Primarschule. Nach den ersten vier Jahren kam ich in eine andere Schwesternschule, in der ich gut Portugiesisch und auch Handarbeiten lernte. Dann, mit elf Jahren, wurde ich krank: Ich bekam Paratyphus.

Mein Vater hatte inzwischen in São Paulo eine Keramikfabrik gegründet und stellte Wasserfilter her. Später kaufte er dann die Firma «Salus» auf, die Wasser reinigte und sterilisierte. Er stellte also Filter her, um Wasser zu sterilisieren.

Es ist interessant, wie eine negative Erfahrung im Schicksal – Tod der beiden Töchter durch verseuchtes Wasser – sich hier umwandelt und zu etwas Positivem wird.

In Aveiro war meine Kindheit etwas traurig, denn meine kleinere Schwester hatte alle Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und ich fühlte mich immer etwas zurückgestellt. Heute verstehe ich, dass dieses Kind wie ein Engel für meine Mutter war, da sie doch die beiden anderen Kinder verloren hatte.

Nach sechs Jahren reisten wir erneut nach Brasilien, aber jetzt direkt nach São Paulo. Damals war ich fast zwölf Jahre alt. Mein Vater besaß, wie gesagt, die Filterfabrik. Mit zwölf Jahren bekam ich meine erste Menstruation. Auch kam ich wieder in eine

Schwesternschule, São José, um das vierte Vorschuljahr zu wiederholen. An diese Schulzeit habe ich keine gute Erinnerung. Ich wurde dort wieder zurückgestellt, fühlte mich als Fremde und auf die Seite gedrängt. Als ich nämlich aus Portugal zurückkehrte, hatte ich einen sehr starken portugiesischen Akzent.

Man muss dazu bemerken, dass die Brasilianer ein ganz anderes, viel weicheres Portugiesisch sprechen.

Und so wurde ich ein Opfer der Spötteleien meiner Mitschüler. Im Geschichtsunterricht hatte die Nonne immer etwas an den Portugiesen auszusetzen. Ich wurde darüber sehr böse und empört und machte meinem Vater Vorwürfe, dass er mich aus Portugal weggeholt hatte. Ich schmiedete sogar heimlich Reisepläne, um dorthin zurückzukehren. In dieser Zeit habe ich mich sehr nach innen gekehrt und mich in mich verschlossen.

Mit 14 Jahren begann ich einen Sekretariatskurs, um Sekretärin zu werden. Meine Mutter arbeitete in dieser Zeit in einem Geschäft. Als ich 16 Jahre alt war, gründete meine Mutter eine Verkaufsstelle für die Wasserfilter. Es war die «Casa Salus», und ich begann für meine Mutter in diesem Geschäft nachmittags zu arbeiten. Vormittags nahm ich Englisch- und Klavierunterricht. Schon damals wurde ich verantwortlich für die Kasse und alle schriftlichen Arbeiten sowie für die Buchhaltung des Geschäfts. In dieser Zeit fühlte ich mich sehr glücklich, ging in meiner Arbeit auf und kam mir sehr wichtig vor. Auch finanziell war ich unabhängig.

Etwa mit 18 Jahren unternahm ich mit meinen Eltern und Geschwistern eine lange und schöne Reise nach Portugal. Es war für mich eine große Freude, meine Verwandten und die Orte meiner Kindheit zu besuchen. Als ich zurückkehrte, arbeitete ich weiter, nahm wieder meine Studien auf, bekam mein Geld und konnte mir kaufen, was ich wollte, meistens importierte Sachen. Ich fühlte mich glücklich, unabhängig und wichtig. Trotzdem begann ich aber auch gleichzeitig eine große Leere in meinem Leben zu spüren. Das stimmte mich traurig. Irgendwie fühlte ich mich unnütz, oberflächlich und leer. Ich wollte gerne helfen und das Gefühl haben, dass jemand mich brauchte. Ab und zu reiste ich mit meinem Vater nach Rio de Janeiro, denn auch dort hatten wir eine Filiale, und mein Vater musste das Geschäft besuchen. Das Familienleben lief so weiter – meine Brüder heirateten, und ich bekam auch schon Neffen.

Erst in meinem 25. Lebensjahr begegnete ich dem Mann, den ich später heiratete und der nun meinem Leben einen Sinn gab. Ich war nicht toll verliebt, aber ich hegte eine große Sympathie und Bewunderung für ihn. Allmählich entstand eine tiefere Liebe, eine solide und schöne Liebe. Ich heiratete aber erst mit 28 Jahren. Gerade am Tag meiner Hochzeit war mein Vater abwesend und bekam auf seiner Reise einen Schlaganfall. Er reiste in diesem Jahr noch einmal nach Portugal und starb, als ich 29 Jahre alt war, in Aveiro im Haus meiner Großeltern. Dort wurde er auch begraben.

Mein Leben verlief in derselben Weise zwischen Arbeit und Haushalt weiter.

Ich bewunderte die Intelligenz meines Mannes sehr, seine Art zu arbeiten, seinen Charakter und seine Moral. Er war sehr gütig, aber auch sehr eifersüchtig.

Als ich 31 ½ Jahre alt war, bekam ich eine starke Darminfektion und hatte über 40 Grad Fieber. Da hatte ich wieder denselben Traum wie während meiner Kinderkrankheiten, also bei den Masern und beim Paratyphus. Ich träumte, dass ich höher und höher stieg und bis zum Himmel gelangte. Dort kam mir Petrus entgegen, ein sehr netter alter Mann mit Bart und weißen Haaren, und machte mir die Tür zum Himmel auf. Es war wunderschön. Wunderbare Töne, weiße Blumen. Auch der heilige Antonius ging mir entgegen, und er war unvergesslich und unbeschreiblich schön. Auf einmal sagte mir jemand, dass ich noch nicht hier bleiben könne, dass ich zurück müsse. Da wachte ich auf und schrie. Ich fiel und fiel immer schneller, fiel auf Stacheldraht und wurde ganz blutig. Danach empfand ich jedes Mal, wenn ich aufwachte, Angst und Entsetzen. Seit meiner Kindheit, etwa seit ich sechs Jahre alt war, hatte ich immer diesen selben Traum mit denselben Einzelheiten. Mit 31 ½ Jahren, nach jener starken Darminfektion, wurde mir dies bewusst. Ich verbrachte dann einige Zeit im Haus meiner Mutter, wo ich mich von der Krankheit erholte. In demselben Jahr, als ich 32 Jahre alt war, bekam mein Mann eine Art Polyneuritis und musste sich einer Punktion der Wirbelsäule unterziehen. Es dauerte lange, bis man schließlich die genaue Diagnose stellen konnte. Drei Jahre später begann mein Mann – man hatte ihm noch nicht die richtige Krankheitsdiagnose gestellt –, spiritistische Sitzungen zu veranstalten und alles mögliche auszuprobieren. Man vermutete, er leide an infektiösem Rheumatismus, aber die Untersuchungen brachten alle keine positiven Resultate. Mein Mann war extrem aggressiv, rebellierte und wollte sich sogar das Leben nehmen. In dieser Zeit kam Dr. Alexander Leroi zu einer Vortragsreise nach Brasilien. Er vermutete, mein Mann habe multiple Sklerose. Die Vermutung bewahrheitete sich. 15 Jahre lang litt mein Mann an dieser Krankheit. Damit hatte ich die Aufgabe, die ich mir gewünscht hatte: nützlich zu sein und jemandem helfen zu können.

In meinem 36. Lebensjahr fuhren wir in die Schweiz. Mein Mann war neun Monate lang in der Ita-Wegman-Klinik in Arlesheim untergebracht. Wir haben dort bedeutende Menschen getroffen und begannen nun auch, Anthroposophie zu studieren. Als ich 37 Jahre alt war, waren wir noch einige Monate in Portugal, wieder im Haus meiner Großeltern in Aveiro. Danach kehrten wir wieder nach Brasilien zurück. Mein Mann musste damals schon den Rollstuhl benutzen. In São Paulo führte er die anthroposophische Behandlung weiter, auch mit Massagen und Heileurythmie. Er fühlte sich manchmal besser, manchmal aber auch schlechter. Während ich ihn pflegte, spürte ich, dass ich mich sehr verändert hatte. Zwischen uns entstand eine wunderbare geistige Liebe, die so stark war, dass sie nie zu Ende gehen wird. Morgens pflegte ich meinen Mann, und nachmittags ging ich meiner Arbeit nach. In den 15 Jahren seiner Krankheit war er das Instrument meiner Reinigung, meiner geistigen Erhöhung, Reifung und Läuterung. Nie mehr im Leben kam ich mir unwichtig, leer oder unglücklich vor. Ich spürte eine große innere Harmonie, und diese starke Verbindung mit meinem Mann reichte über den Tod hinaus und stärkt, beschützt und führt mich bis heute.

Als ich 43 Jahre alt war, kam meine Mutter zu uns, um bei uns zu wohnen. Ein Jahr später waren mein Mann und ich noch einmal zusammen auf einer Farm bei meinen Verwandten. Dort ging es meinem Mann schlecht, und seitdem verließ er sein eigenes Haus nicht mehr.

Wiederum ein Jahr später kam mein Neffe mit 19 Jahren bei einem Autounfall tragisch ums Leben. Bei der Hochzeit eines anderen Neffen waren wir Trauzeugen. Ein weiterer Neffe vertrat meinen Mann am Altar. Ich war 47 Jahre alt, als meine Mutter Herzbeschwerden bekam; außerdem litt meine Hausangestellte, die schon jahrelang bei uns war und die meinen Mann bereits als Kind gepflegt hatte, unter stark geschwürigen Krampfadern und musste operiert werden. So übernahm ich im Haus die Pflege von drei Personen. Die Lähmung meines Mannes schritt immer weiter voran. Schließlich ist er am 4. Juni 1970 gestorben. Damals war ich gerade 48 Jahre alt. 22 Jahre sind wir zusammen gewesen. Er war mein bester Freund.

Nach dem Ableben meines Mannes stürzte ich mich ganz in die Arbeit und baute in der Firma einige Filialen auf. Schließlich hatte ich vier große Häuser unter mir, die ich verwaltete. Ab dem 56. Lebensjahr gab ich die Arbeit langsam wieder ab und behielt schließlich nur noch einen Betrieb bei.

Nachtrag (1985, mit 63 Jahren geschrieben):

Immer noch leite ich dieses eine Geschäft. Endlich habe ich gelernt, den anderen Menschen mehr Autonomie zu geben. Ich liebe den Kontakt mit den Kunden. Abends gehe ich nach Hause, wo ich allein lebe. Ich fühle mich etwas faul und «zu etabliert». Ich möchte mir nicht unnütz vorkommen und möchte noch eine neue Aufgabe finden. Seit neun Jahren habe ich keine Ferien gehabt. Ich möchte noch einmal in die Schweiz und nach Portugal reisen.

Diese Ferien kamen aber erst nach weiteren drei Jahren zustande, und 30 Jahre nach ihrem Aufenthalt in der Schweiz kam Frau L. wieder nach Arlesheim, besuchte die Klinik und das Goetheanum und studierte dort hauptsächlich die holzgeschnitzte Statue des «Menschheitsrepräsentanten» von Rudolf Steiner. Auf der Rückreise durch Portugal übernachtete sie noch einmal in dem Haus, in dem sie geboren war. Nach ihrer Rückkehr nach Brasilien entschloss sie sich, das letzte ihrer Geschäfte zu verkaufen. Schließlich hatte sie 28 Jahre hintereinander, von 1960 bis 1988, gearbeitet. Das Geschäft ihrer Eltern wurde einem Neffen übergeben.

Hauptdaten der Biografie:

2 Jahre:

Erste Erinnerung (geistiges Erlebnis).

3 Jahre:

Der Vater siedelt nach Brasilien um.

4 Jahre:

Sie selbst kommt nach Brasilien – Verlust zweier Geschwister.

5 Jahre:

Nach Portugal zurück.

11 Jahre:

Paratyphus.

12 Jahre:

Zurück nach São Paulo, Brasilien.

14 Jahre:

Ausbildung als Sekretärin.

16 Jahre:

Sie beginnt zu arbeiten.

18 Jahre:

Reise nach Portugal, Besuch der Orte ihrer Kindheit.

25 Jahre:

Sie lernt ihren zukünftigen Mann kennen.

28 Jahre:

Heirat, Tod des Vaters.

31 ½ Jahre:

Darminfektion – übersinnliches Erlebnis.

32 Jahre:

Erkrankung des Mannes.

36 Jahre:

Neuer Einschnitt – sie lernt in Arlesheim die Anthroposophie kennen.

37 Jahre:

Reise nach Aveiro, Portugal.

43 Jahre:

Die Mutter kommt ins Haus.

48 Jahre:

Tod des Mannes – Aufbau der Geschäfte.

56 Jahre:

Allmähliche Abgabe der Geschäfte, von denen sie nur noch eines behält (ohne Ferien).

63 Jahre:

Intensive Arbeit in einem Geschäft (ohne Ferien).

66 Jahre:

Reise zum Goetheanum, in die Ita-Wegman-Klinik und nach Portugal – Entschluss, auch das letzte Geschäft zu verkaufen (Übergabe an den Neffen).

Man könnte diese Geschichte als einen Lebenslauf ohne große Dramatik bezeichnen. Warum haben wir sie dennoch gewählt? Weil wir Frau L. als Patientin über lange Jahre verfolgt haben und weil sie während einiger Jahre auch an ihrer eigenen Biografie arbeiten konnte. Einige typische Gesetzmäßigkeiten können an diesem Lebenslauf beobachtet werden.

Betrachten wir die Gesetzmäßigkeiten der ersten drei Jahrsiebte: Das Lebensfeld von Frau L. wird immer mehr erweitert. Haus, Schule, Leben (Beruf) sind drei Schritte, in denen sich die Heranwachsende immer mehr entfaltet. In ihrem zwölften Lebensjahr, durch den Spott der Kinder und weil sie sich «anders» fühlt, wird sie schüchtern, und sie kehrt sich nach innen. Mit 16 Jahren fängt Frau L. an zu arbeiten, und man hat den Eindruck, dass ihr Lebensmotiv, der Handel, hier einsetzt. Trotzdem fühlt sie sich unglücklich und leer.

Mit 28 Jahren verliert sie den Vater, und sie heiratet – das Alte bleibt zurück, Neues beginnt. Die Verbindung mit ihrem Lebensgefährten stellt sie nach dreieinhalb bis vier Jahren vor neue Aufgaben: die Pflege eines Kranken durch 15 Jahre hindurch, die ihr ermöglicht, zu einer spirituellen Weltanschauung zu kommen und ihr Wesen in Hingabe und Liebe zu läutern.

Erst nach dem Tod ihres Mannes greift Frau L. ihr Leitmotiv wieder auf, den Handel. Ihre Geschäfte dehnt sie im Laufe von sieben Jahren (vom 49. bis zum 56. Lebensjahr) nach und nach zu vier großen Verkaufszentren aus, um sich dann, nach dem 56. Lebensjahr, wieder allmählich aus der Arbeit zurückzuziehen. Das eine Geschäft, das sie beibehält, führt sie noch sieben Jahre weiter.

In der Biografie von Frau L. fallen uns auch noch die Einschnitte der Mondknoten auf. (Alle 18 ½ Jahre wiederholt sich in der menschlichen Biografie ein Mondknoten – auf diese Gesetzmäßigkeit kommen wir in dem Kapitel Rhythmen und Spiegelungen noch zu sprechen.) Zu diesen Zeitpunkten entwickelt sich bei Frau L. ein stärkerer Drang, ihre Heimat, das Haus der Großeltern, den Ort ihrer Kindheit zu besuchen. Das geschieht sowohl mit 18 wie mit 37 Jahren! Auch mit 56 Jahren taucht der Wunsch wieder auf, realisiert sich aber erst mit 66 Jahren.

Im Leben von Frau L. ist zudem ein Saturnrhythmus (ein Einschnitt oder eine Wiederholung nach jeweils 30 Jahren) sichtbar: Nach 30 Jahren sucht sie die Stelle ihrer geistigen Heimat wieder auf, die Ita-Wegman-Klinik und das Goetheanum.

Biografie 2

Ich war unter zwölf Geschwistern das siebte Kind. Mein Vater war ein Indianer, meine Mutter Portugiesin. Ich lebte mit meiner Großmutter zusammen in einer kleinen Indianerhütte hinter dem Haus der Familie. Wir, Oma und Enkelin, gingen Tag für Tag in den Wald, um Kräuter und essbare Früchte zu sammeln und vor allem nach Tabakpflanzen zu suchen. Ich musste für meine Großmutter die Fäden drehen, die sie für ihre Weberei brauchte. Wenn der Tabak reif war, wurden die Blätter gepflückt. Ich musste sie aufrollen, und die Großmutter drehte große schwarze Würste daraus. Der Tabak wurde für Heilzwecke gebraucht, aber auch für die Pfeife meiner Großmutter. Sie war eine Heilerin; viele Indianer kamen zu ihr, um sich bei ihr Rat und Kräuter für ihre Krankheiten zu holen. Alle Patienten wurden mit einem Sprüchlein behandelt. So lernte ich früh die Heilkräuter und auch die Sprüche für jede Wunde kennen. Die Großmutter hatte mich zu ihrer Nachfolgerin ernannt, obwohl ich nicht ihre liebste Enkelin war. Sie liebte vor allem eine meiner hellhäutigeren Schwestern, die sie öfters auf den Schoß nahm und liebkoste. Meine Schwester durfte aber nicht das Haus der Großmutter betreten; ich war die Auserkorene, die die Nachfolgerin der Heilpraktikerin werden sollte.

Jeden Abend guckte ich durch die Ritzen der «Oca» (des Indianerhauses), wohin die Indianer für das Abendritual zu ihren Gesängen kamen. Da durfte niemand dabei sein. Der Rest der Familie musste sich im Haus verstecken.

Mit sechs Jahren brachte ich mir selbst das Schreiben und das Lesen bei, und mein Vater lehrte mich das Rechnen und andere Künste.

Als ich neun Jahre alt war, kam eines Abends meine Großmutter aus dem Wald. Sie war müde und legte sich in die Hängematte, ließ ihren Sohn rufen und sagte ihm, dass sie jetzt sterben werde. Sie nahm kein Sterbesakrament an. Nach ihrem Tod wurde sie  von der Familie im Haupthaus aufgebahrt. Als sie beerdigt worden war, geschah das Unerwartete: Mein Vater zündete ihre ganze Hütte an. Alles verbrannte, nur ein Rest Asche blieb übrig. Was wurde nun aus mir?