Die blutroten Schuhe

Alana Falk

Für meine Mutter, die mir Flügel schenkte.
                       Vignette Tänzerin

Machandel Verlag
Charlotte Erpenbeck
2013
ISBN 978-3-939727-55-2
Cover-Künstlerin: Jenny Jinya
Sonstige Illustrationen: Francesco Abrignani/www.shutterstock.com


Kati - Jahr III


Lange Zeit glaubte ich, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wie konnte man nicht wissen, ob man wirklich Tänzerin werden wollte, und dennoch die ganzen Opfer auf sich nehmen, die mit der Ballettausbildung verbunden waren? Die blutigen Füße, die schmerzenden Glieder, die wenige Freizeit.

Die anderen Mädchen, die mit mir die Akademie besuchten, wussten genau, was sie wollten. Sie liebten das Tanzen, während es für mich immer nur ein notwendiges Übel war. Aber das war, bevor ich wusste, was Tanzen wirklich ist.

Als ich es zum ersten Mal spürte, war ich siebzehn. Ich trainierte bereits seit neun Jahren regelmäßig, anfangs zweimal die Woche, dann drei- und später sechsmal. Schließlich wurde ich sogar an der Akademie für Ballett und Tanz aufgenommen, obwohl mir der Ausdruck fehlte. Man gab mir eine Chance, weil meine Technik überdurchschnittlich war und mein Körperbau stimmte.

Damals ging es mir nicht um den großen Auftritt im Ballett. ;Es ging mir um die Arbeit an der Stange. Ich mochte die strenge Gleichförmigkeit, mit der wir jedes Mal aufs Neue alle Übungen der Reihe nach abarbeiteten. Ich mochte das Gefühl, meinen Körper vollkommen meinem Willen zu unterwerfen, ihn dazu zu bringen, sich über das normale Maß hinaus zu dehnen, zu formen und zu kräftigen.

Doch so sehr ich die Arbeit an der Stange genoss, so sehr hasste ich die Arbeit in der Mitte des Raumes. Ich fühlte mich ausgeliefert und haltlos, trotz der strengen Schrittvorgaben des klassischen Balletts. Die freie Improvisation in den Modern-Dance-Stunden war für mich die Hölle. Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ich mogelte mich irgendwie durch die Prüfungen, indem ich vorgab, etwas zu fühlen, aber mehr als einmal hatte ich wahrscheinlich einfach nur großes Glück.

Es wurde besser, als ich meinen Körper so gut beherrschte, dass ich die Übungen in der Mitte technisch perfekt ausführen konnte. Aber ich sehnte mich immer an die Stange zurück.

Bis zu jenem Moment, der alles veränderte. Ich stand allein in der Mitte des Saales, wieder einmal, genervt von den Schritten, die ich ausführen sollte und in denen ich keinen großen Sinn sah. Die anderen waren längst nach Hause gegangen, aber ich wusste, dass ich auch das Tanzen endlich meistern musste, wenn ich ein weiteres Jahr an der Akademie überstehen wollte.

Ich ließ nicht locker und arbeitete bis zur Erschöpfung daran, meinen Körper dazu zu bewegen, endlich zu tanzen. Aber mein Herz war nicht dabei. Das war es nie.

Ich wusste lange nicht, was an jenem Tag anders gewesen war. Es waren der gleiche Saal und die gleichen Bewegungen. Sogar die gleiche Musik. Sie kam von einem vorsintflutlichen Plattenspieler, der schrecklich rauschte, aber Madame weigerte sich, einen CD-Player anzuschaffen. Sie sagte immer, es käme nicht auf den perfekten Klang an, sondern auf die Seele der Musik.

Ein Stück aus dem Feuervogel, das ich nicht einmal besonders mochte, tönte aus den Lautsprechern, während ich mich mechanisch im Takt bewegte und die Bewegungen abspulte. Der Schweiß rann mir über die Stirn, die Füße taten mir weh, und ich hatte innerlich mit dem Training schon abgeschlossen.

Dann, von einer Sekunde auf die andere, rutschte alles an seinen Platz. ;Alles, was ich je gelernt, trainiert und verflucht hatte, ergab plötzlich einen Sinn. Aus den einzelnen Übungen, die ich aneinanderreihte, wurde ein große, allumfassende Bewegung; perfekt im Einklang mit der Musik. Ich tanzte wirklich und wahrhaftig, zum ersten Mal in meinem Leben.

Viele Menschen erleben diesen Moment nie, und das ist der Grund, warum sie irgendwann aufhören zu trainieren. Sie finden, dass es das Opfer nicht wert ist. Diejenigen aber, die einmal wirklich getanzt haben, würden ohne zu zögern alles dafür opfern.

Fast alles.

Es war dieser Moment, der in mir das unstillbare Verlangen weckte, Tänzerin zu werden. Nur aus dem einen Grund: dieses Gefühl wieder und wieder, so oft wie nur möglich zu spüren.

An jenem Tag trug ich die roten Schuhe.



Danksagung


Die unglaubliche Willenskraft der Tänzer und ihre völlige Hingabe an den Tanz haben mich schon immer fasziniert. Seit ich angefangen habe zu schreiben, wollte ich das in Worte fassen. Dass ich mir diesen Wunsch erfüllen konnte, ist nicht allein mein Verdienst und ich möchte allen ganz herzlich danken, die auf ihre Weise dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstanden ist.
Einen großen Anteil daran hat meine Mutter, die mir nie gesagt hat: Das kannst du nicht. Was immer ich auch tun wollte, sie hat es unterstützt, hat mich ermuntert, alles auszuprobieren, egal wie verrückt, bis ich schließlich gefunden habe, was ich wirklich machen will. Dafür kann ich dir gar nicht genug danken.
Außerdem danke ich meinem Mann, der meine Plots zerlegt, bis die Logik stimmt, und wahrscheinlich mehr an mich glaubt als ich selbst. Danke für deine endlose Geduld, deinen Zuspruch und dein Verständnis. Ohne dich wäre ich nicht, wer ich heute bin.
Auch meinen Schwiegereltern sage ich Danke, dafür dass sie mir immer den Rücken freihalten und mit mir mitfiebern.
Niemand außer mir selbst hat wohl so viel Anteil an der Entstehung dieses Buches wie Iris Leonard. Von der ersten Idee bis zum fertigen Roman war sie an meiner Seite. Danke, Iris, dass du mich im Kampf gegen die zwei Zeitlinien unterstützt hast, den Füllwörtern an den Kragen gegangen bist und meine panischen Emails geduldig ertragen hast.

Bei einem Roman über das Ballett ist nichts so wertvoll wie ein Insider, der möglichen fachlichen Fehlern auf die Spur geht. Danke, Dorothea Schuster, dass du mein Buch akribisch danach abgesucht hast.
Auch meinen anderen Betalesern sage ich danke, allen voran Melanie Leeb, deren Kommentare ich nicht mehr missen möchte. Außerdem Tamara Guidolin, Raquel Fernandez und Maria Stamm. Ihr wart mir eine große Hilfe.
Ganz herzlich danke ich Katharina Dielenhein für das wunderschöne Cover, das sie gestaltet hat, und über das ich mich immer noch jedesmal freue, wenn ich es sehe.
Lange Zeit galt das Autorendasein als einsames Los. Das ist zum Glück längst vorbei. Ich danke all den wunderbaren Menschen aus dem Tintenzirkel, ohne die ich wahrscheinlich nie entdeckt hätte, wie sehr ich das Schreiben zum Leben brauche. Hier möchte ich ganz besonders den Münchner Autorenstammtisch erwähnen. Ohne euch wäre alles langweilig und hätte viel zu viel U.
Zum Schluss gilt mein Dank noch meiner Verlegerin Charlotte Erpenbeck, die mir nicht nur diese Chance gegeben hat, sondern auch immer für mich da war. Danke für die wunderbare Zusammenarbeit und dafür, dass du an Cristan und Kati glaubst.

Vignette Ballerina

Der Fluch des Engels auf Seite 225 und 291 ist ein Zitat aus „H.C. Andersen´s sämtliche Märchen" von 1876 in der Übersetzung von Julius Reuscher, Verlag Ernst Julius Günther.





Cover Die blutroten Schuhe


Cristan - Jahr I


Vor einer Weile hatte „Mrs. Simmons’ Ballettboutique” Kati mit Haut und Haar verschlungen. Der Laden lag in einem winzigen Hinterhof, überragt von Altbauten mit schmutzigweißen Simsen. Es sah aus, als würden die Häuser die Köpfe zusammenstecken und sich ächzend über die Gebrechen ihres jahrhundertealten Mauerwerks unterhalten.

Einen Moment lang fixierte ich die geschlossene Tür und erwog, sie einfach zu durchschreiten. Dazu hätte ich jedoch vollständig verblassen müssen, und das war ein zu großes Risiko; schon jetzt waren meine Fingerspitzen völlig gefühllos.

Also öffnete ich die Tür schließlich auf herkömmliche Art, um hindurchzugehen. Der Verkaufsraum war ohnehin verwaist. Mrs. Simmons, die in Wirklichkeit Frau Müller hieß und hoffte, ihrem Laden durch den englischen Namen mehr Flair zu verleihen, stand nicht am Tresen. Wahrscheinlich war sie bei Kati im Hinterzimmer.

Es war kein Zufall, dass ich mir gerade Kati ausgesucht hatte. Schon als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich gewusst, dass nur sie infrage kam. Und ich wusste auch, wozu ich sie verdammte, indem ich sie wählte. Das war schließlich der Sinn des Ganzen. Ich würde die Verdorbenheit freilegen, die sie in sich trug, und sie würde bekommen, was sie verdiente. Genau wie alle anderen.

Eine dichte Reihe von Kleiderständern mit Balletttrikots, langen, bunten Röcken und Strickjacken warf sich mir in den Weg, als wollte sie mich daran hindern, in den Bereich des Ladens vorzudringen, zu dem einem normalerweise nur die Besitzerin Einlass gewähren konnte. Natürlich war ich nicht auf ihre Erlaubnis angewiesen. Ich schritt an Regalen mit CDs, Büchern, Beinwärmern und Strumpfhosen vorbei durch einen langen dunklen Gang bis zu einem kleinen Zimmer, das bis unter die Decke mit rosa glänzenden Spitzenschuhen vollgestopft war.

„Ich glaube, ich brauche schon wieder ein härteres Modell, Mrs. Simmons.” Die Stimme klang jung und verletzlich. Vielleicht hätte sie Mitleid in mir hervorgerufen oder ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir nicht absolut sicher gewesen wäre, dass ich das Richtige tat.

Kati stand vor einem großen Spiegel mit abgenutztem Holzrahmen und betrachtete mit gerunzelter Stirn die rosa Spitzenschuhe an ihren Füßen.

„Ja, das dachte ich mir schon. Deine Füße entwickeln sich schnell. Jetzt schon so harte Schuhe und dabei bist du erst fünfzehn. Warte.“ Die Verkäuferin verschwand in einen weiteren Nebenraum des Ladens, der zwar winzig wirkte, sich aber labyrinthartig in das Erdgeschoss des Hauses hineinfraß.

Ich sah Kati dabei zu, wie sie die Schuhe auszog, kurz ihre nackten Füße betrachtete und sich vor dem Spiegel auf halbe Spitze stellte. Und dann, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die ganze. Etwas, das ich schon länger nicht mehr gefühlt hatte, durchströmte mich. Vorfreude.

Mrs. Simmons kam bald mit einem Korb voll von rosa Schuhen zurück und kniete sich vor Kati auf den Boden.

„Hier, probier die. Die sind besonders geeignet für den russischen Stil.“

Kati nickte ernst. Sie nahm einen der Schuhe und schlüpfte hinein. Es sah perfekt aus, wie ihr Fuß in den Schuh glitt. Aber noch bevor der Schuh ganz an ihrem Fuß saß, schüttelte sie den Kopf. „Nein, das geht zu leicht. Da habe ich nachher bestimmt keinen Halt.“

Sie probierte viele Modelle durch, von denen die meisten nicht einmal im Sitzen ihre Zustimmung fanden. Schließlich behielt sie doch ein Paar an, stellte sich mittig vor den Spiegel, hob die Arme und sprang blitzschnell auf die Spitze. Die Arme bildeten einen anmutigen Bogen, wobei sich die Fingerspitzen über dem Kopf nicht berührten, und die Beine waren perfekt gestreckt. Als Kati in den Spiegel sah, kontrollierte sie sofort ihre Haltung. Erst ihr zweiter Blick galt den Schuhen. Ich verzog unwillkürlich den Mund zu einem Lächeln. Ja, es steckte in ihr. Tief verborgen, aber es war da.

„Und? Wie sind die?”, fragte die Verkäuferin.

Obwohl die Schuhe wie alle neuen Spitzenschuhe keine Satinbänder hatten, die sie am Knöchel fixierten, saßen sie fest am Fuß, bis auf die Sohle, die noch hart und unnachgiebig war und leicht abstand, anstatt der Rundung des Spanns zu folgen.

Schon bevor Kati den Kopf schüttelte, sah ich es an ihrer kraus gezogenen Nase.

„Ich fühle mich darin einfach nicht wohl.” Sie ließ sich erst auf den ganzen Fuß und dann auf den Stuhl sinken. „Tut mir leid.” Sie seufzte. „Langsam glaube ich, dass es den richtigen Schuh für mich einfach nicht gibt. Egal, wie gut er im Laden passt, später drückt er doch wieder.“

Mrs. Simmons hob nur stoisch die Schultern. „Wir finden schon einen brauchbaren Schuh für dich, Kati. Und wenn wir bis heute Nacht hier sitzen.”

Ich konnte nur hoffen, dass es nicht so lange dauern würde, denn die Taubheit in meinen Fingerspitzen kroch bereits meine Arme hinauf und näherte sich meiner Brust. Lange konnte ich nicht mehr warten, aber zuerst musste ich mit Kati alleine sein.

Kati lächelte schief. „Ich fürchte, das würde auch nichts bringen.”

In diesem Moment schallten aus dem Verkaufsraum ein paar elektronische Töne zu uns herüber. Erleichtert erkannte ich das Thema von „Don Quichotte”. Die Ladenbesitzerin bekam diesen Anruf jede Woche, nahm ihn immer an, und er zog sich jedes Mal unendlich lange hin. Es war nicht schwer gewesen, Kati dazu zu bringen, genau zu diesem Zeitpunkt hierherzukommen.

„Oh, das ist sicher mein Vater. Ich bin gleich wieder da.” Als sie an mir vorbeikam, hielt sie kurz inne. Sie verengte die Augen, drehte den Kopf ein wenig hin und her, lauschte und streckte schließlich eine Hand aus. Sie spürte mich. Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Natürlich griff sie ins Leere. Im letzten Moment war ich vollständig verblasst, auch wenn ich es wahrscheinlich bereuen würde.

Kopfschüttelnd verschwand die angebliche Mrs. Simmons aus dem Zimmer und ließ mich mit Kati allein. Endlich. Ich wurde wieder körperlich. Die Taubheit wich langsam aus meiner Brust und meinen Gliedern, aber nicht ganz. Sie war meinem Herzen diesmal viel zu nahe gekommen.

„Es ist wohl nicht einfach, die richtigen Schuhe zu finden?”, sagte ich und trat einen Schritt in den kleinen Raum hinein.

Kati fuhr hoch, einen Schuh in der Hand. Ganz kurz wurden ihre Augen größer. Grauer. Dann atmete sie erleichtert auf und nickte.

„Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.” Ich ließ ein freundliches Lächeln um meine Lippen spielen.

„Schon gut.” Sie deutete auf die vielen Schuhe, die um sie verstreut lagen. „Es ist sehr wichtig, die richtigen Schuhe zu haben. Die falschen Schuhe können großen Schaden anrichten.”

Ich lenkte meinen Blick auf ihre nackten Füße. „Das sehe ich.”

Ein rosa Schimmer legte sich über ihre helle Haut, und sie schob die Füße unter den Stuhl.

Ich verkniff mir ein zynisches Grinsen. Ich kenne deine Füße wahrscheinlich besser als du selbst. Jede Schwiele, jede Blase und auch die Stelle vorne am großen Zeh, die nach dem Training immer blutet, egal, was du unternimmst, um es zu verhindern.

„Kein schöner Anblick, ich weiß”, flüsterte sie.

„Kein Grund, sich zu schämen”, sagte ich. „Ich bin sicher, jede Blase ist hart erarbeitet.”

Das brachte sie zum Lächeln. Es war ein echtes Lächeln, aber es berührte ihre Seele nicht. Nur ihren Verstand. Immerhin zog sie ihre Füße langsam wieder unter dem Stuhl hervor. „Ich finde einfach keine Schuhe, die mir richtig passen. Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht soll ich nicht Tänzerin werden.”

„Willst du denn Tänzerin werden?”, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

„Ich weiß nicht. Ich …” Ihre Stimme erstarb und sie sah mich ein wenig ratlos an, als hätte die Frage ihr in letzter Zeit schlaflose Nächte bereitet. Im Gegensatz zu mir kannte sie die Antwort nicht. Sie ahnte noch nichts von dem Verlangen, das tief in ihr schwelte. Ihr sehnlichster Wunsch und meine Waffe.

Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber dann richtete sie sich auf, fixierte mich und verengte die Augen. „Warum interessiert Sie das alles? Wollen Sie auch Spitzenschuhe kaufen?” Der Spott ließ ihre Augen schimmern wie flüssiges Blei. „Es gibt mittlerweile auch Herrengrößen.”

Gut. Ich hatte schon befürchtet, sie würde es mir doch zu einfach machen. Das wäre nach all der Vorbereitung eine ziemliche Enttäuschung gewesen. „Vielleicht ein andermal. Ich bin eigentlich auf der Suche nach einer bestimmten CD und habe mich ein wenig verlaufen.”

„Ja, das kommt vor. Man munkelt, dass der Laden eine Präzisionsfalle ist. Wer sich darin verirrt, muss Mrs. Simmons für alle Ewigkeit dienen.”

„Wirklich teuflisch.” Nicht, dass es so abwegig gewesen wäre.

„Ja. So ist sie. Ich frage mich, wo sie bleibt.” Kati betrachtete die Spitzenschuhe in ihrer Hand. Hautfarbener, glänzender Satin, straff über eine Konstruktion gespannt, die den Fuß stützen sollte, wenn er auf den empfindlichen Zehenspitzen stand. Die Schuhe wirkten starr und unnachgiebig. Kaum vorstellbar, dass es möglich war, darin zu tanzen. „Ohne sie kann ich nicht weiter machen. Und ich muss doch zum Training.”

„Vielleicht kann ich ja helfen.”

Sie verzog den Mund. „Kaum. Das ist eine Wissenschaft für sich.”

„Manchmal ist eine neue, unverdorbene Perspektive hilfreich.” Ich ging zu einem Regal und streckte die Hand aus.

„Nicht!”

Ich hielt inne und drehte mich zu Kati um. „Warum nicht?”

Sie sah schockiert aus. „Das ist Mrs. Simmons’ Heiligtum. Niemand darf sich hier selbst Schuhe nehmen.”

„Das Risiko nehme ich auf mich. Du kannst mir die ganze Schuld zuschieben, falls sie wütend wird.” Ich zwinkerte ihr zu. Ohne ihren zweifelnden Blick weiter zu beachten, zog ich willkürlich ein Paar Schuhe aus dem Regal und hielt es ihr hin.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich warte lieber.”

Aus dem Nebenraum klang Mrs. Simmons’ Stimme zu uns herüber. „Ja, Vater, jede Woche, das weiß ich, aber ich habe eine Kundin …” Ein Geräusch von auf Holz trommelnden Fingern und dann ein Seufzen. „Doch Vater, natürlich habe ich Zeit für dich. Ja, auch wenn es länger dauert.”

Kati stöhnte und sah auf die Uhr.

Ich hob eine Augenbraue. „Willst du wirklich warten, bis sie wiederkommt? Das hört sich nach einem längeren Gespräch an.” Ich hielt ihr noch einmal die Schuhe hin.

Etwas ungnädig betrachtete sie den Aufkleber. „Das ist nicht einmal die richtige Größe.”

Natürlich nicht. Ich wollte ja nicht, dass sie Verdacht schöpfte. „So ein Pech. Moment.” Ich nahm ein Paar vom Boden und tat so, als würde ich die Größenangabe auf dem Aufkleber lesen. Dann suchte ich erneut ein Paar Spitzenschuhe aus und hielt es ihr hin.

„Sie geben wohl nicht auf, was?”

„Ich versuche nur, einer Dame in Not zu helfen.”

Sie verdrehte die Augen. Aber als ich mich nicht rührte, nahm sie die Schuhe und sah sie sich an. Dann warf sie mir einen amüsierten Blick zu. „Gar nicht schlecht. Das ist das Modell, das ich die letzten Monate benutzt habe. Aber jetzt wird es mir zu schnell weich, und Blasen bekomme ich davon auch.” Sie drückte mir die Schuhe wieder in die Hand.

Ich setzte ein verzweifeltes Gesicht auf. „Du machst es mir wirklich nicht leicht. Aber gut, einen Versuch wage ich noch.”

Zugegeben, mein Vorgehen war einfach. Man musste kein kriminelles Genie sein, um so etwas zu planen. Aber einfach funktionierte eben meistens am besten.

Ich ging in den Nebenraum, der eigentlich nur ein Gang voller Kartons mit Schuhen war, und kam mit einem Beutel in der Hand zurück. Einem Beutel aus schwarzem Satin, den ich zuvor dort versteckt hatte.

„Da steht nichts drauf, aber ich hab so ein Gefühl, dass es die richtige Größe ist.” Mit einem Zwinkern hielt ich ihr den Beutel hin.

Sie nahm ihn, zog die Öffnung auseinander und sah hinein. „Oh. Das ist …” Sie schluckte. Lange sagte sie nichts, starrte nur die Schuhe an. Schließlich fuhr sie mit einer Hand hinein und berührte den Satin. Ich konnte die Liebkosung fast spüren. Ihr Atem stockte und ihre Augen weiteten sich. Erregung ergriff mich. Dies war der Moment, auf den ich so lange hingearbeitet hatte. Der Anfang. Ihre Hand schwebte jetzt über den Schuhen, als wollte sie sie herausnehmen. Doch dann zog sie entschlossen die Hand zurück und schloss den Beutel. „Nein. Das geht nicht.”

Ich hob die Augenbrauen. „Warum nicht?”

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Die könnte ich niemals tragen. Und ich brauche so dringend neue. Für so was habe ich kein Geld.” Sie drückte mir die Schuhe vor die Brust. „Ich sehe besser mal nach, wo Mrs. Simmons bleibt.” Sie stand auf und wollte zur Tür gehen, aber das konnte ich natürlich nicht zulassen.

„Willst du sie nicht wenigstens anprobieren?”

Sie drehte sich zu mir um und eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Wozu?”

„Um zu sehen, ob sie sich anders anfühlen?” Ob du dich vielleicht anders fühlst?

Sie biss sich auf die Lippen und warf mir unter den Wimpern hervor einen Blick zu. „Warum sollten sie sich anders anfühlen?” Ich wusste genau, dass das Gefühl noch in ihren Fingerspitzen saß. Die Hoffnung, dass diese Schuhe etwas verändern würden. Betont gleichgültig zuckte sie die Achseln. „Und selbst wenn, warum sollte ich sie anprobieren, wenn ich sie mir doch nicht leisten kann?”

„Weil du hoffst, dass es an den Schuhen liegt, und weil du dich sonst dein Leben lang fragen wirst, ob du es in diesen Schuhen vielleicht gespürt hättest.”

Sie sog überrascht die Luft ein. „Woher …?”

„Probier sie doch einfach. Dann weißt du es. Vielleicht gibt es sie ja auch noch in einer anderen Farbe.”

Sie biss sich auf die Lippen und starrte einen Moment lang den Beutel an. Dann packte sie ihn und riss ihn auf. „Also gut.”

Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, griff vorsichtig in den Beutel und holte einen der Schuhe heraus. In diesem Raum aus rosa Satin wirkte der rote Schuh wie eine pulsierende Wunde in blassem Fleisch.

„Ich habe noch nie so eine Farbe gesehen. So rot… so intensiv, wie flüssige Rubine. Wunderschön.” Sie nahm sich Zeit, betrachtete den Schuh von allen Seiten, bevor sie ihn an ihren Fuß hielt. Sie drückte die Zehen in die Öffnung und glitt langsam hinein. Sofort schmiegte sich der Schuh um ihre Ferse. Katis Blick zuckte zu mir.

Ich machte ein unbeteiligtes Gesicht, ließ mir nichts anmerken. Ich wusste genau, dass die Schuhe sich für sie wie eine zweite Haut anfühlten, nicht fremd, sondern wie ein Teil von ihr. Sie zog den anderen Schuh an, stellte sich vor den Spiegel, hob die Arme und ging auf Spitze. Diesmal ruhte ihr Blick von Anfang an auf den Schuhen. Der Stoff auf der Oberseite ihres Fußes reichte gerade so weit, dass er ihre Zehen bedeckte, und nach vorne hin wurden die Schuhe etwas schmaler, was ihren unterschiedlich langen Zehen perfekten Halt bot.

„Die Schuhe fühlen sich an, als …” Sie suchte nach den richtigen Worten. „... als wären sie für mich gemacht.”

Sie sind für dich gemacht.

„Das ist wirklich unglaublich”, flüsterte sie.

Ich lächelte. Komplimente nahm ich immer gerne entgegen.

Sie probierte vorsichtig ein paar Schritte, soweit es auf dem engen Raum möglich war, und drehte am Ende sogar eine Pirouette. Dann ließ sie sich auf den flachen Fuß sinken und betrachtete mit gerunzelter Stirn die Schuhe im Spiegel. Sie hatte es gespürt. Nur ein wenig, aber sie hatte es gespürt.

„Tatsächlich?”

Sie erwachte aus ihrer Träumerei und starrte mich an. „Ja. Ich meine, die Sohle, die passt perfekt. Als hätte ich die Schuhe schon mit Dampf bearbeitet, damit sie genau an meinen Fuß passen, und trotzdem ist sie nicht zu weich.” Ihre Augen leuchteten. „Ich würde so gern wissen, wie es sich anfühlt, richtig darin zu tanzen.”

„Dann solltest du die Schuhe vielleicht kaufen.”

„Ja, die und keine anderen. Ich muss gleich Mrs. Simmons fragen …”

„Was willst du mich fragen?” Die Verkäuferin gab einen überraschten Laut von sich, als sie ins Zimmer kam und mich sah. Ich konnte es heute nicht mehr riskieren, zu verblassen, und ohnehin spielte es jetzt keine Rolle mehr. „Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht hereinkommen sehen”, sagte sie.

„Schon gut. Ich hatte mich verlaufen und habe der jungen Dame hier ein wenig beim Schuhkauf unter die Arme gegriffen.”

Mrs. Simmons kniff die Augen zusammen und musterte mich ungnädig von oben bis unten.

Kati legte den Kopf zur Seite und hob die Schultern, als wollte sie sagen: Ich habe Sie gewarnt.

Mrs. Simmons entschied sich gegen eine Schimpftirade. Stattdessen fragte sie dünnlippig: „Und ist dabei etwas herausgekommen?” Es war offensichtlich, dass sie das für unmöglich hielt.

Kati nickte. „Ja. Ist es.” Sie deutete auf die Schuhe an ihren Füßen. „Die hier. Aber in rosa.”

Mrs. Simmons’ Blick sank zu den roten Schuhen. Sie keuchte auf und legte sich eine Hand auf die Brust. „Du meine Güte! Die Farbe! Nein, das geht natürlich gar nicht.” Sie warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Rote Schuhe für eine Schülerin? Und wo kommen die überhaupt her?” Während sie nach der Tüte der roten Schuhe suchte, murmelte sie kontinuierlich vor sich hin, und ich meinte, das Wort „Blasphemie” zu hören.

Grinsend hielt ich ihr den Satinbeutel hin. Mit einem grimmigen Seitenblick riss sie ihn an sich und betrachtete ihn. Die Hoffnung in Katis Blick zog sogar mich einen kurzen Augenblick lang mit.

Schließlich schüttelte Mrs. Simmons den Kopf. „Tut mir leid. Da steht weder eine Größe noch eine Firma drauf. Mit so einer Farbe ist das sicherlich ein Einzelpaar. Wahrscheinlich eine Maßanfertigung, muss irgendwie dazwischen gerutscht sein.” Sie sah die Schuhe an, als wären sie das personifizierte Böse. „Ich habe so etwas sicher nicht bestellt.”

Kati stöhnte auf. „Oh nein.” Sie wandte sich an mich. „Sehen Sie? Hätte ich die Schuhe doch nie probiert. Das wäre besser gewesen, als zu wissen, dass es perfekte Schuhe gibt, die ich nicht haben kann.”

Die Verkäuferin sah mich an, als wäre ich ein Monster. Sie hatte wirklich kein schlechtes Gespür.

Mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck drehte sie sich wieder zu Kati. „Zeig mal her. Vielleicht habe ich ja etwas Ähnliches.” Sie kniete sich vor sie auf den Boden und wollte ihr die Schuhe ausziehen. Schnell schob Kati ihre Füße unter den Stuhl, als hätte sie Angst, dass die Verkäuferin die Schuhe vernichten könnte, wenn sie sie in die Finger bekam. Insgeheim traute ich ihr diese Reaktion sogar zu. Gut, dass es unmöglich war.

„Das glaube ich kaum. Ich habe noch nie … Kein Schuh hat mir je das Gefühl gegeben …”, flüsterte Kati. Erst als Mrs. Simmons aufstand, kamen Katis Füße wieder unter dem Stuhl hervor. Zögerlich begann sie, sich die Schuhe auszuziehen.

Mrs. Simmons baute sich vor ihr auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Du kannst die Schuhe auf keinen Fall kaufen. Für den Unterricht ist die Farbe genau vorgegeben. So etwas könntest du niemals tragen. Du weißt, wie Madame da ist.”

Kati legte die Schuhe in den Beutel und strich noch einmal sanft mit den Fingerspitzen über den Satin. „Ich weiß. Nichts, was nicht rosa ist. Das sagt sie immer. Und zwei Paar kann ich mir nicht leisten. Aber trotzdem …” Sie verstummte und warf mir einen hilflosen Blick zu.

Natürlich hätte ich ihr die Schuhe kaufen können. Ich hätte sie ihr auch einfach schenken können. Aber das hätte sie nur misstrauisch gemacht, und wahrscheinlich hätte sie es nicht angenommen. Sie musste selbst dafür bezahlen, es führte kein Weg daran vorbei.

Die Verkäuferin packte den Beutel und stopfte die Schuhe unsanft etwas tiefer hinein. Kati zuckte zusammen und wollte nach dem Beutel greifen, aber Mrs. Simmons ließ es nicht zu.

„Ich räume sie ganz nach hinten ins Lager”, sagte die Verkäuferin schroff. „Da können sie niemanden in Versuchung führen.” Sie warf einen letzten angewiderten Blick auf die Schuhe und zog dann so heftig an den Bändern des Beutels, dass ich ein Ratschen vernahm.

Der Gedanke, dass die Schuhe hier in Sicherheit wären und niemand anderes sie bekommen würde, schien Kati zu gefallen, denn sie nickte und beruhigte sich merklich. Ich runzelte die Stirn. Das war gar nicht in meinem Sinne. Vielleicht konnte ich mir die Verkäuferin zunutze machen, um Kati zu überzeugen.

„Es ist wirklich nett von Ihnen, die Schuhe für die junge Dame aufzubewahren. Vielleicht möchte sie irgendwann wiederkommen und sie doch noch kaufen.”

Kati nickte mit leuchtenden Augen. „Ja, ganz bestimmt.”

Mrs. Simmons’ Mund verzog sich zu einer fast unsichtbaren Linie. Sie starrte einen Moment Kati an, dann mich, dann wieder Kati. „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich die Schuhe ans Theater gebe. Irgendwer dort wird sie schon brauchen können. Vielleicht kann man sie auch schwarz einfärben! Ja, das wäre wohl das Beste.”

Kati zuckte zusammen. „Nein. Auf keinen Fall! Ich nehme sie. Auch, wenn ich sie vielleicht niemals tragen kann, ich nehme sie. Jetzt gleich.”


*


„Haste mal ´n Euro?”

Ich musterte den merkwürdigen Typen, der sich vor mir auf der Straße aufgebaut hatte. Er war etwas kleiner als ich und ziemlich dünn. Eine Cargohose, die nachlässig in schwarze Springerstiefel gestopft war, hing auf seinen mageren Hüften, ein mit Nieten gespicktes Lederband war mehrfach um seinen Hals gewunden und auf seinem Arm prangte ein Tattoo. Aber es war die Frisur, die ihn verriet. Zwei aus leuchtend roten und gelben Haarsträhnen geformte Hörner schraubten sich rechts und links aus seinem ansonsten kahlrasierten Schädel. Ich schnaubte. Originalität war eindeutig nicht seine Stärke. Aber vielleicht war es auch Absicht, um seine Opfer in Sicherheit zu wiegen, ihnen das Gefühl zu geben, dass es leicht war, ihn zu übervorteilen.

„Ich dachte, ich probier mal wieder was Anderes.” Die tiefe Stimme ließ den Punker von Kopf bis Fuß erbeben. Zu viel Schwingung für zu wenig Körper.

Ich ließ meinen Blick vielsagend zu seinem schwarzen T-Shirt wandern, auf dem in silbernen Spikes eine Aufschrift stand: Call me Luci.

„Sehr subtil.”

Wahrscheinlich fand er es komisch. Mir war allerdings nicht zum Lachen zumute, denn völlig gleich in welcher seiner vielen Verkleidungen er sich präsentierte, die Präsenz ließ sich nicht maskieren. Sie ragte über den Körper des Punkers hinaus, lauerte über ihm und waberte wie eine Rauchwolke um ihn herum, viel zu groß, um vollständig in den schmächtigen Menschenkörper zu passen.

Der Punker verzog den Mund zu einem schmallippigen Lächeln, das jedem Beobachter das Blut in den Adern gefrieren ließ, auch mir. Besonders mir. Weil ich genau wusste, woran er dabei dachte.

„Ah, da ist sie ja.” Sein Blick wanderte über Kati, die gerade aus der Hofeinfahrt gekommen war und auf der anderen Seite der Straße entlang ging, ohne uns zu bemerken.

Die Präsenz dehnte sich aus. Der Punker schnalzte anerkennend. „Ein Leckerbissen.”

„Nichts Besonderes”, sagte ich, obwohl ich wusste, dass er nicht über ihre braunen Haare sprach, über ihre dunkelgrauen Augen oder ihre blassrosa Lippen. Der Mund eines Kindes. Ich verzog das Gesicht. „Und viel zu jung.”

Noch nie war meine Wahl auf ein so junges Mädchen gefallen. Aus gutem Grund.

„Eben. Ihre Seele ist stark, viel stärker als die eines Erwachsenen. Teenager sind so verdammt schwierig.”

Was wie eine abgedroschene Elternweisheit klang, war in Wirklichkeit eine Tatsache, die unter den Seelenfängern allgemein bekannt war. Je jünger, desto schwieriger. Genau das reizte mich. „Vielleicht nehme ich nächstes Mal ein Kind.”

Der Punker lachte. Das tiefe, grollende Geräusch ließ ihm fast die Ringe von den Lippen platzen. „Du bist ambitioniert, das mochte ich schon immer an dir.”

Ich schloss die Augen. Ambitioniert konnte man das schon lange nicht mehr nennen. Früher einmal war ich mit Begeisterung dabei gewesen, aber jetzt war ich es müde. Ich fühlte mich taub bis in die Tiefe meiner Seele. So als wäre ich auch innerlich verblasst. Nur dass es kein einfaches Mittel gab, diese Taubheit zu vertreiben. Allein der Kampf um eine besonders schwierige Seele ließ mein Herz noch schneller schlagen.

Kati war jetzt stehen geblieben. Sie sah sich kurz um und zog dann den Beutel auf. Roter Satin leuchtete bis zu uns herüber, als sie einen Schuh herauszog.

„Warum rote Schuhe?”, fragte der Punker.

Ich zuckte mit den Schultern. „Das macht die Sache spannender. Mit rosa Schuhen wäre es kaum eine Herausforderung.”

Die Gegenstände waren der Schlüssel. Sie legten das Verlangen frei, den Wunsch um jeden Preis zu verwirklichen. Früher hatte ich die Gegenstände mit Leidenschaft entworfen, aber auch das war vorbei.

„Das klingt, als würden wir wieder unseren Spaß haben.”

Die schwarzen Augen unter der gepiercten Braue leuchteten. „Ich mag es, wenn sie kämpfen, und die hier wird sich wehren bis zum Schluss, das schmecke ich. Aber irgendwann wird auch sie auf der anderen Seite der Schwelle stehen. Und dann gibt es kein zurück mehr. Dann gehört sie mir.” Sein Blick wanderte wieder zu Kati. Mit einer Hand fuhr er aus der Ferne die Kontur ihres Gesichtes nach. Sofort ließ Kati den Schuh sinken und sah sich um. Sie wirkte beunruhigt.

„Sie wird mir viel Freude bereiten.”

Bei seinen Worten zog sich mein Magen zusammen. Ich wusste, was er mit den Seelen tat, die ich ihm besorgte, und ich wusste auch, dass sie es verdient hatten. Schon lange stellte ich das nicht mehr in Frage. Seine offensichtliche Vorfreude widerte mich dennoch an. „Dafür musst du sie erst mal haben.”

Der Punker grinste und deutete mit einem langen, orangen Fingernagel auf den Beutel, den Kati an sich drückte, als wäre er ein Baby. „Dafür wirst du schon sorgen. Wie immer. Schließlich bist du mein bester Mann. Aber lass dir nicht zu lange Zeit. Ich will ihre Seele, solange sie noch frisch ist.”

„Es wäre einfacher, wenn das Verblassen richtig funktionieren würde.” Es war einen Versuch wert.

Der Punker seufzte theatralisch. „Mein Junge, du weißt doch, das geht nicht. Hausinterne Regeln. Schließlich kann ich dich nicht mit meinen Dämonen auf eine Stufe stellen!”

Ich bezweifelte, dass das der wahre Grund war. Manchmal glaubte ich, dass er es einfach amüsant fand, dass ich auf diese Art von ihm abhängig war. Deswegen hatte er mir auch nicht gesagt, dass es Konsequenzen gab, wenn ich zu oft hintereinander verblasste. Das hatte ich selbst auf sehr schmerzhafte Art und Weise herausgefunden.

„Außerdem hatte ich den Eindruck, du willst es dir schwer machen. Ich unterstütze dich nur.” Der Punker grinste.

„Zu gütig.”

Ich wandte meinen Blick wieder Kati zu, die inzwischen den Weg zur Ballettakademie eingeschlagen hatte. Der Gedanke, sie dazu zu bringen, ihm ihre Seele aus freien Stücken zu übergeben, vertrieb etwas von der Taubheit, die ich fühlte. Diesmal war es nicht damit getan, einfach abzuwarten, bis der Gegenstand seine Aufgabe von alleine erfüllte.

Aber natürlich wollte ich das auch gar nicht.



Kati - Jahr VII


Ich mochte meine Füße. Die viele Hornhaut und die Schwielen, die roten Flecken nach dem Training und das Blut in den Schuhen. Wenn es nicht blutete, hatte ich nicht lang genug trainiert. Auf die Schmerzen hätte ich allerdings verzichten können. Meist war es nur ein Brennen an der offenen Stelle oder ein Ziehen im Ballen, aber manchmal wurde das Ziehen zu einem heißen Pochen, das bei jedem Schritt in die Zehen stach und schließlich bis in die Unterschenkel ausstrahlte. In solchen Momenten hätte ich am liebsten eine Axt genommen und mir die Füße abgehackt.

Ich schlüpfte in meine Spitzenschuhe, schlang die Satinbänder um mein Fußgelenk, verknotete sie, so dass der Knoten in der kleinen Kuhle hinter dem Knöchel lag, und steckte die Enden von oben darunter. Ich spürte schon, dass sie nicht ganz richtig saßen, aber die Hoffnung, ein Modell zu finden, das mir gut passte, hatte ich inzwischen aufgegeben. Nach ein paar lockeren Dehnübungen auf dem Boden stand ich auf.

Die endlosen Meter Stange vor den Spiegeln, die nahezu die ganze Wand einnahmen, waren noch verwaist. Die anderen Tänzer der Ballettkompanie, an der ich arbeitete, würden erst nach und nach zum morgendlichen Training eintrudeln, aber ich war gern allein, wenn ich mit dem Aufwärmen anfing.