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Mohamed A. El-Erian

Märkte im Umbruch

Mohamed A. El-Erian

Märkte im Umbruch

Investmentstrategien in Zeiten globaler Veränderungen

Für Fragen und Anregungen:

2. Auflage 2013

© 2012 FinanzBuch Verlag,

Copyright © 2008 by Mohamed A. El-Erian. All rights reserved. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »WHEN MARKETS COLLIDE«, bei MCGraw-Hill Companies, Inc., New York. German edition copyright © by FinanzBuch Verlag.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Wolfgang Seidel

ISBN Print 978-3-89879-819-8

In Erinnerung an meinen Vater
Für meine Mutter, meine Frau und meine Tochter

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einführung
Wie man im Allgemeinen Getöse die entscheidenden Signale heraushört

Kapitel 1
Irrwege, Merkwürdigkeiten und Rätsel

Kapitel 2
Warum die herkömmlichen Methoden versagt haben

Kapitel 3
Das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden

Kapitel 4
Die neue Weltwirtschafts ordnung verstehen

Kapitel 5
Eine schwierige Wegstrecke bewältigen

Kapitel 6
Wie man vom globalen Wandel der Wirtschafts- und Finanzwelt profitieren kann – Ein Aktionsplan für Investoren

Kapitel 7
Ein Aktionsplan für die Politik und die internationalen Institutionen

Kapitel 8
Verbessertes Risikomanagement

Kapitel 9
Schlussbemerkung

Danksagung

Über den Autor

Glossar

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Ich habe es als große Ehre und Auszeichnung empfunden, als ich hörte, dass mein Buch ins Deutsche übersetzt wird. Ich hoffe sehr, dass das Buch meinen deutschen Lesern eine neue Sicht von außen auf die gegenwärtige Finanzkrise bietet. Diese brach bekanntlich im Sommer 2007 in den Vereinigten Staaten aus und nahm nach einigen Zwischenfällen an den Märkten und nach politischen Fehlentscheidungen im Jahr 2008 wahrhaft globale Ausmaße an. Die negativen Auswirkungen machen sich überall bemerkbar und sind noch gar nicht vollständig zu überblicken. Inzwischen hat sich die Finanzkrise auf geradezu unheimliche Weise ausgebreitet. Die schädlichen Folgen für die Wirtschafts- und Finanzwelt haben Deutschland so gut wie jedes andere Land erreicht.

Da die Krise immer weiter voranschreitet, muss sich jeder Teilnehmer am internationalen Finanzsystem – angefangen beim einzelnen Investor über jedes Unternehmen bis hin zu den Regierungen und den internationalen Organisationen – völlig darüber im Klaren sein, dass sich die Welt im Würgegriff einer regelrechten Ausnahmesituation befindet: Es handelt sich um eine umfassende, globale Krise des Systems an sich und nicht nur um eine begrenzte Krise innerhalb des Systems. Deren tieferliegende Ursachen sind eine ganze Reihe von Kollisionen zwischen der Welt von gestern und der Welt von morgen, zwischen den Märkten von gestern und denjenigen der Zukunft.

Es braucht niemanden zu wundern, dass praktisch alle Indikatoren, die Produktion, Konsum, Investitionen, Handel und Finanzen betreffen, in geradezu dramatischer Weise negativ ausschlagen. Es ist kein Wunder, dass die Arbeitslosigkeit weltweit ansteigt. Und es sollte niemanden überraschen, dass die Aktien- und Wertpapiermärkte noch tückischer, volatiler und unvorhersagbarer werden. Es ist auch kein Wunder, dass sich die politisch Verantwortlichen rund um den Globus bei der Suche nach durchgreifenden und wirksamen Gegenmaßnahmen mit enormen Schwierigkeiten konfrontiert sehen.

Mit Blick auf die unmittelbare Zukunft wird 2009 ein entscheidendes Jahr für die Weltwirtschaft sein. Das Wirtschaftswachstum wird arg in Mitleidenschaft gezogen, und die Gesundung des Finanzsektors und aller daran Beteiligten wird sich allenfalls allmählich und eher uneinheitlich vollziehen. Protektionistische Bestrebungen nehmen zu. Insbesondere in den USA sind die für das Finanzwesen verantwortlichen Institutionen vor die große Herausforderung gestellt, massive Maßnahmen und Einschnitte von Seiten der Regierung zu planen und zu finanzieren und, falls sie die gewünschten Resultate bringen, wieder zurückzunehmen; diese werden in jedem Fall das empfindliche Gleichgewicht zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand verändern und unausweichlich das Wachstum und die Produktivität verlangsamen.

Ohne jeden Zweifel werden sich die Investoren und die politisch Verantwortlichen überall auf der Welt in einer stark veränderten Marktlandschaft wiederfinden. Sie werden nur noch in einem stark reduzierten und verschlankten westlichen Bankensystem und entsprechenden Finanzmärkten agieren können. Es steht außer Frage, dass das soziale Gefüge der Industrieländer die private Vereinnahmung enormer Gewinne bei gleichzeitiger Sozialisierung massiver Verluste nicht zulässt.

Man sollte hier realistischerweise mit einem spürbaren, einmaligen Rückgang des nationalen wie des internationalen Kreditgeschäfts rechnen. Ferner kann man sich bereits jetzt auf ein deutliches Nachlassen der generell kreditfinanzierten Produktion einstellen, so wie sie die Welt bisher kannte. Man wird sehen, dass für bestimmte Geschäftsaktivitäten kaum mehr Darlehen zu bekommen sein werden und dass Finanzierungen auf lange Sicht teurer werden.

Aus all diesen Gründen werden zukünftig auch bei traditionellen Asset-Klassen und beim Anlageverhalten Änderungen vorgenommen. Im Anlage- und Vermögensmanagement sollte noch mehr Wert auf ein Risikomanagement gelegt werden, das den traditionellen Schwerpunkt Diversifikation als beinahe einzigen Risikovermeidungsfaktor sinnvoll ergänzt.

Von diesen Faktoren ist im Buch ausführlich die Rede. Sie werden auch die internationale Umgestaltung beschleunigen, die ein wichtiges Thema in diesem Buch ist – vor allem hinsichtlich der globalen Wachstumsanteile, der globalen Vermögensbestände und der Vermögensverteilung. Die überragende Bedeutung der USA als Wachstumsmotor für die ganze Welt wird mehr und mehr von einem multipolaren Muster verdrängt, in dem die Schwellenländer eine auch systemisch zunehmend wichtige Rolle spielen.

Wie steht es nun mit den Auswirkungen auf Deutschland? Das Land ist aufgrund seiner inneren Struktur besser aufgestellt als einige andere, um mit diesen von außen kommenden Schockwellen umzugehen und ihren in Umfang und Wirkung unausweichlichen Folgen. Aber selbst Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen, sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich, wenn es darum geht, Antworten auf die globale Krise zu finden, die tiefgreifende Auswirkungen auf den Wohlstand jetziger und künftiger Generationen haben werden. Einfach ausgedrückt liegt vor Deutschland und im Weiteren auch vor Europa ein ausgesprochen schwieriger Weg hin zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung.

Meiner Ansicht nach können deutsche Investoren, Firmen und die Regierung nur dann mit dieser Herausforderung zurechtkommen, wenn sie ein Verständnis dreier grundsätzlicher Elemente entwickeln: Erstens der Antriebskräfte dieser globalen Krise und der Veränderungen, die von ihnen ausgehen; zweitens, der Art und Weise wie die Verwerfungen auf die einzelnen Märkte und Länder übertragen werden; und drittens, dass es notwendig ist, Antworten zu finden, die sensibel auf diese Schwierigkeiten als auch auf die Anforderungen einer neuen Weltwirtschaftsordnung reagieren.

Ich hoffe sehr, dass die Untersuchungen hier meinen Lesern das Verständnis jedes dieser drei Elemente näherbringen. Dabei hoffe ich, Investoren nützliche Hinweise auf die neuen Zusammenhänge von Risiken und Chancen geben zu können; ich möchte auch allen Entscheidungsträgern und ihrem Umfeld entsprechende Hinweise geben.

Obwohl die Niederschrift dieses Buches im Dezember 2007 im Wesentlichen abgeschlossen war, bleiben die darin enthaltenen Analysen und Voraussagen auch unter den inzwischen herrschenden Umständen relevant. In den Erörterungen ist viel von dem vorweggenommen, was sich im Lauf des Jahres 2008 und Anfang 2009 ereignet hat. In den folgenden Kapiteln finden Sie

– eine Darstellung des globalen Finanzsystems, das sich einfach zu viele Aktivitäten aufgeladen hat, die von den bestehenden Infrastrukturen der privaten wie der öffentlichen Institutionen nicht mehr ausreichend unterstützt und verarbeitet werden konnten. Das Ergebnis war jenes ausgesprochen instabile System, welches für Marktverwerfungen und politische Fehlentscheidungen so überaus anfällig wurde;

– eine eingehende Analyse der traditionellen Ressourcen, Institutionen und Methoden, die einfach versagt haben; eingebaute Sicherungsmechanismen wurden weitgehend unterlaufen und dieses Versagen zog massive Einbrüche im Risikomanagement auf jeder Ebene des weltweiten Finanzsystems nach sich

– und schließlich ein Grundriss für das, was notwendig ist, um das weiterhin unstabile globale Finanzsystem wieder zu festigen.

Um Ihnen, dem Leser, nützlich zu sein, verfolgt das Buch aber noch weitergehende Ambitionen. Es wird eine belastbare Checkliste vorgelegt, anhand derer nicht nur die richtigen Antworten für die Bewältigung der aktuellen Krise gefunden werden können, sondern auch eine adäquate Aufstellung im Rahmen einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Dabei wird die Bedeutung einer flexiblen Neuausrichtung von Maßnahmen und Eingriffsmöglichkeiten sowohl im Bereich der Privatwirtschaft wie auf Seiten der staatlichen Institutionen besonders hervorgehoben. Im Prinzip handelt es sich um eine klare und einfache Botschaft: Auch wenn es in erster Linie darum geht, die globale Finanzkrise zu managen – eine wichtige und dringende Aufgabe – muss man dabei rechtzeitig auch auf die sich abzeichnende neue Grundkonstellation der Weltwirtschaftsordnung achten – eine vordergründig weniger dringende, aber genauso wichtige Aufgabe.

Zugegebenermaßen ist dies keine leichte Aufgabe. Sie erledigt sich bestimmt nicht von selbst; und sie ist mit Risiken verbunden. Einige von Ihnen werden sich von liebgewordenen Gewohnheiten verabschieden müssen. Es werden schwierige Entscheidungen in einem offenbar zunehmend unsicherer werdenden Umfeld zu treffen sein. Aus diesem Grund werden viele dazu neigen, die Neuausrichtung auf eine neue Weltwirtschaftsordnung hintanzustellen. Dem muss aus einem einfachen, aber sehr gewichtigen Grund entgegengetreten werden: In der sich verändernden Welt, in der wir leben, werden das Risiko und der Preis bei Untätigkeit sehr, sehr hoch sein.

Ich danke nochmals für die Zeit, die Sie sich nehmen, dieses Buch zu lesen. Und zögern Sie bitte nicht, mir Ihre Gedanken dazu mitzuteilen: mail-erian@pimco.com

Newport Beach, Kalifornien

17. Februar 2009

Vorwort

Dieses Buch handelt von den Triebkräften, die die Weltwirtschaft verändern. Für Anleger und Investoren ist es wichtig, diese Kräfte zu verstehen, auch wenn es nicht immer ganz leicht fällt, sie genau zu definieren und richtig einzuschätzen. Denn sie verändern sowohl die hoch entwickelten Finanzmärkte der Industrieländer als auch diejenigen der Schwellenländer und aus diesen Veränderungen ergeben sich vielfältige neue Anlagemöglichkeiten, die mit komplexen und sehr unterschiedlichen Risikokonstellationen einhergehen.

Ich hoffe, Ihnen in meinem Buch Analysen für und Einblicke in diese »neue Weltwirtschaftsordnung«, wie ich es bezeichnen möchte, vermitteln zu können. Dabei werde ich auch auf die Schwierigkeiten zu sprechen kommen, die sich auf dem Weg zu dieser neuen Weltwirtschaftsordnung ergeben können, auf Abwege und Umwege und das heftige Auf und Ab im Transformationsprozess der Volkswirtschaften, während die Welt sich nach einer Periode von Verwerfungen und Unordnung neu orientiert.

Solche langfristigen Veränderungen, die von Analysten als Zeitenwende bezeichnet werden, stellen eine große Herausforderung dar. Es wird zu einer tiefgreifenden Neuausrichtung wirtschaftlicher Macht kommen, verbunden mit vertrackten Verlagerungen derjenigen Faktoren, die wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand, Inflation und Kapitalerträge determinieren. Neue und einflussreiche Akteure treten in Erscheinung und neuartige Finanzinstrumente tauchen auf, und es ist zunächst nicht ganz leicht, sie zu analysieren und richtig einzuordnen. Und, ganz allgemein gesprochen, ruft diese Zeitenwende Konflikte zwischen der Welt von gestern und der Welt von morgen hervor, die alles andere als geräuschlos vonstatten gehen, sondern vielmehr eine Menge Lärm und Getöse auslösen.

Indem wir uns auf eine neue Weltwirtschaftsordnung zubewegen, geraten bestehende Infrastrukturen und Systeme unter Druck, nicht zuletzt auch die Regierungen, die angesichts der Herausforderungen schwierige Entscheidungen treffen müssen und dabei oft genug nur über unvollständige Informationen und veraltete Instrumente verfügen. Einzelne Anleger wie Institutionen müssen für tatsächliche und vermeintliche Ansprüche ein ganz neues Verständnis entwickeln. Die bisher tonangebenden Global Player müssen jetzt zur Kenntnis nehmen, dass sie sich nicht mehr alleine auf dem Spielfeld befinden; vielmehr sind mittlerweile Mitspieler und Konkurrenten auf dem Feld, die man noch vor wenigen Jahren niemals in der selben Liga vermutet hätte. Gleichzeitig müssen diese neuerdings so einflussreichen Player ihrerseits die Herausforderungen ihres eigenen Erfolgs meistern.

Dieses Buch will Investoren dabei helfen, sich im Transformationsprozesse der Weltwirtschaft zurechtzufinden, der erheblichen Einfluss auf die Wirksamkeit von Investmentstrategien und der Methoden des Risikomanagements ausüben wird. Es werden einzelne Elemente eines Aktionsplans erörtert und die Faktoren herausgearbeitet, die zu kostspieligen Marktunfällen führen können. Es wird gezeigt, dass Investoren in diesem Transformationsprozess auch das Handeln nationaler wie internationaler beziehungsweise multilateraler Entscheidungsträger in ihre Überlegungen mit einbeziehen müssen.

Während meiner Laufbahn hatte ich das Glück und die Gelegenheit, mich sowohl mit Fragen des Investmentsals auch mit politischen Themen auseinandersetzen zu müssen. Dabei habe ich erkannt, dass es unmöglich ist im Zeitalter globaler Veränderungen Investmentstrategien zu diskutieren, ohne dabei die möglichen oder tatsächlichen Reaktionen von Investoren und Politikern in Betracht zu ziehen. Zu welcher Gruppe man auch immer gehört – damit Unternehmungen erfolgreich werden, muss man in der Lage sein vorwegzunehmen, wie die jeweils anderen sich verhalten werden, beziehungsweise, wie sie sich verhalten sollten.

Investoren, denen eine starke Wertentwicklung genauso wichtig ist wie die Minderung des Risikos plötzlich eintretender, massiver Verluste, werden hoffentlich die in diesem Buch vorgestellten Erkenntnisse und den vorgeschlagenen Handlungsrahmen nützlich finden, um die Zusammenhänge und die Aussichten sowie die Möglichkeiten der neuen globalen Wirtschaftwelt zu verstehen.

Märkte im Umbruch behandelt folgende Themen:

Im Anschluss an die Einleitung werden im ersten Kapitel einige der Irrwege, Merkwürdigkeiten und Rätsel erörtert, die in den vergangenen Jahren die Wirtschafts- und Finanzszene geprägt haben. Alle diese Phänomene deuten im Grunde auf tiefgreifende, laufende Veränderungen hin.

In Kapitel 2 wird gezeigt, dass Investoren sich in jüngerer Vergangenheit bedeutende Risiken aufgeladen haben, obwohl es immer schwieriger wird, die Umwälzungen in der Finanzwelt zu verstehen. Diese Risikoanhäufung vollzog sich auf eine Art und Weise, die nicht immer in den Zuständigkeitsbereich der herkömmlichen, und mit dem notwendigen Sachverstand ausgestatteten Aufsichtsgremien fiel. Das Ergebnis war denn auch die erhebliche Zerrüttung, die vom Sommer 2007 an das Nervenzentrum des ganzen Finanzsystems traf. Die Folge war eine ganze Serie massiver Verluste bei den Finanzinstituten, die die Gefahr eines Zusammenbruchs des weltweiten Kreditsystems heraufbeschworen und weltweit Rettungs- und Notmaßnahmen erforderlich machten.

Nachdem diese Hintergründe aufgehellt wurden, erörtert Kapitel 3 eher allgemein, warum Investoren einfach Zeit brauchen, um sich mit den im Fluss befindlichen Strukturveränderungen vertraut zu machen. Um den Unterschied zwischen belanglosem Hintergrundgetöse und wichtigen Signalen erkennen zu können, werden Methoden aus der traditionellen Wirtschafts- und Finanzwissenschaft, wie aus der Verhaltensforschung und aus der Neurowissenschaft vorgestellt. Mit diesen Mitteln sollte es möglich sein, die Ursachen hinter den Widersprüchlichkeiten an den Märkten zu erklären, und sie sollten erhellen, wie und warum sie sich wieder aufl ösen.

Das führt zu der Darstellung der neuen Ordnung des Weltfinanzsystems im 4. Kapitel. Dieses Kapitel zeigt die aktuellen und vermutlich weiterhin wirksamen Veränderungen der Antriebskräfte, die vier wichtige variable Größen beeinflussen. Die vier Variablen – Wachstum, Handel, Preisbildung und Kapitalströme – entscheiden im Wesentlichen darüber, als wie belastbar sich die Ansätze und Verfahren der Marktteilnehmer erweisen werden. Das Ergebnis wird nichts weniger als ein regelrechter Paradigmenwechsel sein; diese nächste Stufe der Globalisierung und Integration wird durch stärker diversifizierte Antriebskräfte des weltweiten Wirtschaftswachstums, geringere weltweite Handels- und Zahlungsbilanzungleichgewichte, die Rückkehr stärkeren Inflationsdrucks und eine breitere Streuung des Anlagekapitals charakterisiert sein. Ein Ziel hat aber nur dann einen wirklichen Wert, wenn man in der Lage ist, den Weg dorthin zu finden. Dementsprechend wird in Kapitel 5 dieser vorausliegende Weg analysiert – einschließlich der Schlaglöcher auf der Strecke. Die Ursachen für den mit Sicherheit nichtlinearen Verlauf werden im Einzelnen untersucht. Dazu gehört die Gefahren von Marktunfällen – damit sind Verwerfungen gemeint, die durch das nicht nachhaltige Verhalten von Investoren und Finanzmaklern hervorgerufen werden. Auch der Verstärkungseffekt etwaiger Fehlentscheidungen von Regierungen und internationalen Organisationen wird zur Sprache kommen.

Die darauffolgenden drei Kapitel handeln davon, wie sich die Marktteilnehmer optimal aufstellen, um von Aufwärtstrends zu profitieren und wie man mit Abwärtstrends besser umgeht. Für das globale System als Ganzes besteht die Herausforderung darin, das dynamische Gleichgewicht umzupolen – weg von den großen strukturellen und finanziellen Ungleichgewichten in den Industrieländern (und insbesondere in den Vereinigten Staaten) und hin zu der Stabilität, die das Erstarken der Schwellenländern zu wichtigen Eckpfeilern des globalen Wachstums und der internationalen Kapitalströme mit sich bringt.

Diese Herausforderung besteht aus zwei unterschiedlichen Komponenten, die die Anleger kennen und gleichzeitig und fortlaufend nach dem Stand ihres Fachwissens optimieren müssen. Zum einen geht es darum, einen Asset-Allocation-Plan zu entwerfen und umzusetzen, der vorausschauend (nicht rückblickend) den neuen, zukünftigen Realitäten standhält. Technisch gesprochen liegt das Hauptaugenmerk auf der richtigen Spezifikation für die Glocke der Verteilungskurve global zu erzielender Erträge. Die zweite Komponente befasst sich mit den Rändern der Verteilung und insbesondere damit, wie man die Portfolios so gut wie möglich gegen Unwägbarkeiten auf dem Weg zu der neuen Weltwirtschaftsordnung schützt.

Deswegen beginnt Kapitel 6 mit einer Analyse der Hauptantriebskräfte für eine anspruchsvolle, langfristig erfolgreiche Anlageperformance: Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Anlageverteilung und wirksamen Implementierungsvehikeln. Da Anleger nur dann hervorragende Ergebnisse erzielen können, wenn sie die politischen Zusammenhänge gründlich überblicken, konzentriert sich Kapitel 7 auf Perspektiven der nationalen Politik. Es befasst sich mit Veränderungen traditioneller Ansätze, damit sie Anpassungen im Anlegerverhalten unterstützen. Außerdem wird ein Aktionsplan für internationale Organisationen vorgestellt, denen eine wichtige Rolle bei der Verstärkung der internationalen Konsistenz nationaler Aktionen zukommt, die aber im Augenblick falsch aufgestellt sind.

Kapitel 8 vervollständigt die Analyse durch einen Blick auf die Risiken. Durch eine detaillierte Betrachtung der asymmetrischen Natur der Risikoeindämmung im internationalen Finanzsystem werden diejenigen Faktoren hervorgehoben, die langfristig orientierte Anleger beachten müssen, um das angestrebte Ziel sicher zu erreichen. Die Schlussfolgerungen des gesamten Buches werden im letzten Kapitel gezogen.

Als ich mit dem Schreiben dieses Buches anfing, hatte ich die Wahl zwischen mehreren Ansätzen. Ich stellte mir die Frage nach dem Zielpublikum und der sich daraus ergebenden Herangehensweise. Sollte ich mich in erster Linie an Anleger wenden oder an meine Kollegen in Politik-Zirkeln und Research-Abteilungen? Was ist mit den Analysemethoden? Soll ich mich nur auf eine einzige Methode beschränken oder eine breitere Mischung in Betracht ziehen?

Nach reiflicher Überlegung entschied ich mich für einen eklektischen Ansatz in dem vollen Bewusstsein, dass das zu einer verwirrenden Gemengelage führen kann.

Letztendlich wende ich mich sowohl an Investoren als auch an politisch Verantwortliche auf nationaler und auf internationaler Ebene. Ich habe einen interdisziplinären Ansatz gewählt, der traditionelle Analysemethoden mit neueren kombiniert. Stets habe ich die analytische Betrachtung mit konkreten Situationen aus Vergangenheit und Gegenwart verknüpft, gerade auch solche aus meinem persönlichen Erfahrungsbereich.

Die Auswahl von Zielpublikum und Methoden wurden auch durch meine berufliche Laufbahn wesentlich beeinflusst, in deren Verlauf ich reichlich Gelegenheit hatte, die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Arbeit, Politik und aktivem Investment immer wieder zu überschreiten. Das gewählte Konzept spiegelt auch die geistigen Anregungen wider, die ich während meines Grundstudiums in Cambridge erhalten habe. Dort wurde die Vermittlung der traditionellen (neoklassischen) Methoden auf hervorragende Weise mit der Heranführung an ganz andere Theorien kombiniert – vor allem die Keynesianische, die Neo-Ricardianische und die marxistische Theorie. Diese Mischung war für uns Studenten eine gute Denkschule. Dadurch wurde uns auf großartige Weise vermittelt, wie wichtig es ist, Probleme und Sachfragen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und ein besonderes Augenmerk auf die Vorzüge, aber auch die Grenzen jeder einzelnen Theorie zu werfen.

So viel zu dem, was ich für dieses Buch für richtig und wünschenswert erachte; aber was ist mit der Umsetzung? Die Beiträge vieler anderer Personen – aus der Vergangenheit wie aus der Gegenwart – haben meine Fähigkeit, Einsichten aus verschiedenen Perspektiven zu gewinnen, noch verstärkt. Immer wenn ich in eine Sackgasse zu geraten drohte, haben mir etliche Neuerscheinungen wieder Mut gemacht. Zu nennen wären insbesondere Freakonomics1, das zweibändige Werk von Nassim Nicholas Taleb2, Peter Bernsteins Capital Ideas Evolving3 und Richard Petersons Inside the Investor’s Brain4; sie alle stehen für die Vorteile, die man aus den Synergien der verschiedenen Disziplinen und Methoden schöpfen kann.

Meine Entscheidung für das »eklektische« Konzept steht auch unter dem Einfluss eher allgemeiner Einsichten von John Maynard Keynes, den ich für den einflussreichsten Ökonomen halte, den es je gab (und den ich jedenfalls am meisten schätze). Keynes erinnerte immer wieder daran, dass die Wirtschaftswissenschaft »eher eine Methode als eine Doktrin ist, ein Denksystem, das es demjenigen, der es beherrscht, ermöglicht, die richtigen Schlüsse zu ziehen.«5

Als solche muss und soll die Ökonomie vom Austausch mit anderen Disziplinen profitieren. Ein derartiger interdisziplinärer Austausch dient auch als vernünftige geistige Absicherung und Kontrolle gegen allzu vereinfachende Annahmen oder unvollständige Anwendungen, denen einzelne Herangehensweisen oder Methoden allzu leicht unterliegen.

Ich habe die Hoffnung, dass die eklektische Methode meines Buches meinen Lesern beim Verständnis der gegenwärtigen globalen Umwälzungen hilft, die so weitreichende und so vielfältige Wirkungen haben. Vermutlich gibt es auch gar keine Alternative zum Verständnis für das Heraufziehen des neuen ökonomischen Zeitalters. Die Komplexität dieses Paradigmenwechsels ist so groß, dass es die Verwendung der am besten geeigneten Methoden aus allen sinnvollerweise anwendbaren Wissenschaftsdisziplinen rechtfertigt.

Ich habe das Manuskript dieses Buches im Januar 2008 fertiggestellt. Seither ist es auf den Märkten zu einer Reihe von Ereignissen und Entwicklungen gekommen, die man bis dahin nicht für möglich gehalten hat, unter anderem den Untergang von Bear Stearns, einer Ikone unter den US-Investmentbanken, sowie die hektischen Maßnahmen der amerikanischen Regierung, um den Schaden dieses Aufruhrs der Finanzmärkte nach Möglichkeit zu begrenzen. Derartige Entwicklungen liegen ganz auf der Argumentationslinie meines Buches. Meine Analysen sagen solche Ereignisse voraus; sie sind geradezu eine Bestätigung der Ergebnisse für diejenigen, die lieber auf der Gewinnerseite der globalen Veränderungen stehen und nicht die Opfer des Wirrwarrs sein wollen, der mit solchen Veränderungen geradezu unausweichlich einhergeht.

Einführung

Wie man im Allgemeinen Getöse die entscheidenden Signale heraushört

Gemessen an dem, was in der Finanzwelt üblich ist, bin ich erst recht spät in die Investment-Branche gekommen. Ich war 39 Jahre alt, als ich meinen relativ sicheren Job und eine ziemlich gut absehbare Laufbahn beim Internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund IMF) aufgab und Ende 1997 gegen die turbulenten Welt bei Salomon Smith Barney in London eintauschte. Was nun folgte, war eine faszinierende Reise, bei der ich das Glück hatte, die langsame, aber stetige Veränderung der Weltwirtschaft und der globalen Finanzmärkte aus nächster Nähe beobachten zu können.

Am Anfang betrafen die Veränderungen noch relativ kleine und überschaubare Bereiche im Investmentbanking und in der Politik – im Wesentlichen die hochspezialisierten Bereiche des Schwellenländer-Investments und das noch spezialisiertere und geheimnisumwitterte Gebiet der Derivate und des Risikomanagements. Aber diese Tendenzen und all das Positive, Negative und auch das geradezu Hässliche, das damit verbunden war, gewannen zunehmend an Schwung und Eigenleben. Inzwischen gehören diese Bereiche zum Alltag eines breiten Spektrums von Akteuren wie Investoren, Politikern und internationalen Organisationen.

Durch eine gründliche Untersuchung dieser Phänomene will ich in Märkte im Umbruch die Hintergründe der aktuellen wirtschaftlichen und technischen Veränderungen erhellen, die ich hier meistens als »Strukturveränderungen« bezeichne. Sie prägen die Welt, in der wir leben – jetzt und in der Zukunft.

Das Buch bietet analytische Ansatzpunkte, um die Schlüsselelemente dessen zu identifizieren, was einige für die Antriebskräfte in einem ungewöhnlich schnelllebigen Umfeld halten.

Ich werde aufzeigen, wie es kommt, dass viele normalerweise vernünftig und ausgesprochen sachlich urteilende und gut informierte Investoren wichtige Veränderungen nicht früh genug erkennen, weswegen es leicht zu Fehlentscheidungen kommen kann. In einigen Fällen haben solche Fehlentscheidungen zu Marktturbulenzen, plötzlichem Liquiditätsverlust1, Firmenzusammenbrüchen und allerlei politischen Not- und Rettungsmaßnahmen geführt – und ein Ende ist nicht absehbar.

Die in diesem Buch enthaltenen Informationen haben eminente praktische Bedeutung für Investmentstrategien, Geschäftsmodelle und politische Grundsatzentscheidungen. Es bietet dem Leser Erkenntnisse, wie neue Chancen optimal genutzt und die Anlagen gleichzeitig gegen sich verändernde Risikoszenarien geschützt werden können.

Oder, um im Branchenjargon zu reden, es geht darum, wie man am einen Ende die Restrisiken weitgehend eliminiert und gleichzeitig das meiste herausholt.

Das Neue am neuen ökonomischen Zeitalter ist allerdings, dass beide Enden der Verteilungskurve dicker sind.

Strukturveränderungen sind immer kompliziert

Strukturveränderungen sind nicht leicht zu erkennen und nicht leicht zu bewältigen, vor allem, wenn man sie nicht vorhersehen konnte und sie sich dann lawinenartig entwickeln und ausbreiten. Strukturveränderungen stellen eine Herausforderung für liebgewordene Gewohnheiten und bekannte Erfahrungen dar und entwickeln einen Schwung und eine Eigendynamik, die sie unberechenbar und bisweilen auch völlig unvorhersagbar machen. Solche Dynamiken verstärken natürlich die ohnehin bestehenden Probleme, die die Menschen mit der Anpassung an neue und langfristig veränderte Verhältnisse haben. Bei normal verlaufenden Anpassungsprozessen geht es nur darum, das Timing und die Reihenfolge der Abläufe richtig einzuschätzen; weitergehende Gedanken über Zeitfaktoren oder den Zusammenhalt des Gesamtsystems muss man sich dabei in der Regel nicht machen.

Wenn solche Strukturveränderungen in einzelnen Marktsegmenten in Gang gekommen sind und eine Eigendynamik entwickeln, können sie von den bestehenden politischen und Markt-Infrastrukturen in der Regel weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene angemessen unterstützt werden. Neue Aktivitäten, die sich durch die Strukturveränderungen ergeben, laufen der Fähigkeit der bestehenden Systeme, sich ihnen anzupassen und sie zu unterstützen, meist voraus. Es kommt dann zu allen möglichen Blockaden und »Verstopfungen«, die erfahrungsgemäß wiederum der Auslöser für Verwunderung, Verwirrung und Schuldzuweisungen sind und irgendwann zu der Einsicht führen, dass an diesen Systemen etwas geändert werden muss.

Wenn die Verfeinerungen und Anpassungen dann in Angriff genommen werden, kommt es zu neuen Unsicherheiten auf Seiten der Marktteilnehmer – Investoren und Politiker auf nationaler und internationaler Ebene –, weil man neue Turbulenzen befürchtet. Die Marktturbulenzen, die im Sommer 2007 begannen, haben gezeigt, zu welchen Übertreibungen und Verwerfungen das führen kann und wie es möglicherweise weitergeht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die gegenwärtigen Marktturbulenzen die Gefahr bergen, dass unser gesamtes globales Finanzsystem in seinen Grundfesten erschüttert wird. Was als Sonderproblem der Subprime-Kredite auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt begann, hat zu einer Reihe von Zusammenbrüchen geführt, deren Auswirkungen nicht nur die Wall Street in Mitleidenschaft ziehen werden, sondern auch den Rest der Welt.

Weil es zunächst weitgehend am Verständnis der Ursachen und Gründe für diese Verwerfungen fehlte, konnten auch die Reaktionen der privaten und politischen Marktteilnehmer eigentlich nur mangelhaft und inadäquat ausfallen. Zu viele Beobachter haben diese Ereignisse vorschnell als vorübergehende Entgleisung ohne nachhaltige Auswirkungen auf die leichte Schulter genommen. Die Investoren, vor allem die Aktienanleger, haben die Krise als isoliertes Ereignis betrachtet, das keine nennenswerten Konsequenzen hat. Auch die Politik blieb zunächst einmal in der Deckung – geleitet von dem verständlichen Wunsch, gierige Kreditnehmer und skrupellose Kreditgeber die Folgen ihres Handelns lieber erst mal selber ausbaden zu lassen.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich diese Einstellung änderte, als Teile der Finanzindustrie und dann auch der Realwirtschaft mit einem dumpfen Schlag zu Fall kamen. Als man realisierte, was los war, kam es zu einer Art Aufholjagd, bei der die Zentralbanken weltweit zunächst einmal gewaltige Kapitalspritzen in das weltweite Finanzsystem injizierten. Als sich herausstellte, dass der Zusammenbruch damit nicht aufzuhalten war, sah sich die amerikanische Regierung gezwungen, mit massiven Steuererleichterungen und direkter Unterstützung des Immobilienmarktes einzugreifen. Zur gleichen Zeit reisten die Topmanager der größten Geldinstitute und vor allem der Investmentbanken kreuz und quer durch Asien und den Nahen Osten, um frisches Kapital aufzutreiben – eine Betteltour, die auf den Titelseiten der Finanzpresse mit Schlagwörtern wie »Rettungsring« (Wall Street Journal)2, »Ausverkauf« (Financial Times)3 und »Invasion der Staatsfonds« (The Economist)4 umschrieben wurde.

Für einige Beobachter markiert der Sommer 2007 mit seinen Verwerfungen den definitiven Beginn einer tiefgreifenden Strukturveränderung der Weltwirtschaftsordnung. Mittlerweile sind in der Wirtschaft und am Finanzmarkt neue Kräfte am Werk, deren Einfluss weitreichende Auswirkungen hat, die aber von den derzeitigen politischen und Finanzmarktstrukturen noch nicht ausreichend erfasst und unterstützt werden können. Die Effizienzgewinne, die mit diesen Veränderungen einhergehen, werden von erhöhten Risiken kurzfristiger Verwerfungen begleitet. Deshalb lautet auch eine der zentralen Aussagen meines Buches, dass die gegenwärtigen Turbulenzen weder der Anfang noch das Ende dieser Transformationsphase darstellen.

Die Serie der Inkonsistenzen und Anomalien, die hier im Detail dargestellt werden, muss man als frühe Signale deuten, die eine wachsende Diskrepanz zwischen dem anzeigen, was Marktteilnehmer auf globaler Ebene erreichen wollten, und dem, was vernünftigerweise und mit einiger Sicherheit innerhalb der bestehenden Systeme mit dem Ziel erreicht werden kann, die Risiken der Turbulenzen einigermaßen im Griff zu behalten. Diese Signale sind ebenfalls als deutlicher Hinweis darauf zu werten, in welchem Ausmaß grenzüberschreitende Kapitalverlagerungen eine ganz neue Riege von Akteuren und Produkten mit globalem Einfluss ins Spiel gebracht haben.

Wenn Sie dieses Buch lesen, sollten Sie sich auf jeden Fall klarmachen, dass die Kräfte, die die jüngste Finanzkrise ausgelöst haben, keinesfalls verschwunden sind. Die fundamentale globale Strukturveränderung wird vielmehr weiterhin bei der Gestaltung der Finanzwelt eine wesentliche Rolle spielen.

Welche Rolle der Lärm und das Getöse spielen

Dieser holperige Vorgang ist nichts anderes als der Widerhall eines Zusammenpralls der Märkte: Die Märkte von gestern stoßen an die Märkte von morgen. Der Hauptschwung für diesen Aufprall kommt aus den Veränderungen, die sich in dem Gefüge aus Marktteilnehmern, Finanzprodukten und geldmarktpolitischen Instrumenten sowie Institutionen vollziehen. In einem derartigen Umfeld besteht eine der wesentlichen Herausforderungen bereits darin, zu verstehen und zu akzeptieren, dass solche Veränderungen niemals störungsfrei ablaufen und dass viel davon abhängt, sie im Griff zu behalten und dabei die für die neue Wirtschaftsordnung typischen Merkmale nicht aus den Augen zu verlieren.

Dass sich Strukturveränderungen anbahnen, merken die Marktteilnehmer als erstes an auffälligem »Getöse«. Zu solchem Getöse kommt es beim plötzlichen Auftreten von Anomalien in langfristig bewährten Beziehungen und Verhältnissen, die man als gegeben betrachtet. Jeder Mensch neigt dazu, solche Anomalien als vorübergehende Erscheinung und als umkehrbar zu betrachten. Man ignoriert das Getöse als unbedeutsam, ohne wesentlichen Informationsgehalt. Für Anleger bedeutet das, dass sie sich eben keine weiteren Gedanken über die Auswirkungen auf Investmentstrategien, Geschäftsmodelle oder nationale beziehungsweise multilaterale Maßnahmen machen. Doch eine sorgfältige Beachtung historischer Erfahrung und theoretischer Untermauerung sollte sie eigentlich eines Besseren belehren. Das Getöse kann durchaus insofern eine Bedeutung haben, als darin Signale für grundlegende Veränderungen enthalten sind, die von herkömmlichen Beobachtungs- und Überwachungswerkzeugen nicht erfasst werden.

In meinem ersten Jahr als Analyst am Handelstisch von Salomon Smith Barney in London in den späten 1990er-Jahren lernte ich durch genaues Beobachten eine einfache, aber wirkungsvolle Lektion über den Umgang mit Marktgetöse. Statt das von vornherein einfach abzutun, sollte man lieber darauf horchen, ob das Getöse Signale enthält. Diese Lektion hat mir ein sehr kluger junger Kollege – ein Händler Anfang Zwanzig am Handelstisch für Schwellenländer-Anleihen – erteilt, den ich einfach aufmerksam beobachtet habe. Sein Name ist Edward Cowen. Edward war ein talentierter Trader und ein glühender Anhänger der englischen Top-Fußballmannschaft Arsenal London.

Edward hatte ein besonders herausragendes Talent: – Bill Gross, der als »Bond King« höchst angesehene Gründer von PIMCO hat immer wieder betont, dass der Idealtyp eines Portfolio-Managers, beziehungsweise realistischer gesehen das ideale Portfolio-Management-Team, über eine wichtige Eigenschaft verfügen muss: sie sollten gewitzt sein. Auf einen Außenstehenden machte Edward auf jeden Fall den Eindruck, dass er diese Eigenschaft besaß, und dass er sich dessen auch bewusst war und auch ein bisschen stolz darauf war. Soweit ich gehört habe, ging das so weit, dass er zu Beginn seiner Karriere lieber demonstrativ mit einer Boulevardzeitung unter dem Arm ins Büro marschiert ist, statt mit der Financial Times oder dem Wall Street Journal.

Edwards Marktgespür war so instinktsicher, dass er damit die anderen beiden Voraussetzungen, die Bill Gross für unerlässlich hält, mühelos kompensierte: eine gründliche wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung und die perfekte Beherrschung der Finanzmathematik. Dank all dieser Fähigkeiten war Edward schon in jungen Jahren zum echten Geldbringer für die Firma geworden. Seinerzeit war er Tag für Tag der lebende Beweis dafür, was Erkenntnisse aus Behavioral Finance und den Neurowissenschaften inzwischen bestätigt haben: Wie wichtig es ist, sich von seinem Gespür leiten zu lassen, insbesondere im Falle von Marktanspannungen. Am deutlichsten wurde das in der Art und Weise wie er Analysten wie mich behandelte. Manchmal trat er einen Schritt zurück vom Geflimmer der Märkte, um sich unsere Meinungen anzuhören – bisweilen wollte er sogar ganz dringend unseren Rat hören. Dabei wollte er genau wissen, ob sich aus den Datenmengen irgendwelche Anhaltspunkte für eine Neuausrichtung der Fundamentaldaten ergaben. Dann wieder bat er uns (meistens ganz höflich, aber nicht immer), uns von seinem Platz fernzuhalten, damit wir ihn nicht mit irgendwelchen Fundamentalanalysen aus dem Konzept brachten, die mit den Realitäten des jeweiligen Tagesgeschäfts gar nichts zu tun hatten.

Diese Lektion, vor allem die intellektuelle Disziplin, unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten im Marktgetöse im Auge zu behalten, habe ich mir eine Lehre sein lassen, als ich nach meiner Aufgabe als Analyst bei Salomon später als Investor bei PIMCO und danach bei der Harvard Management Company (HMC) arbeitete. Im Lauf der Jahre fand ich diese Erfahrung durch wertvolle akademische Studien über unvollständige und asymmetrische Informationen, Marktversagen und Behavioral Finance bestätigt.

Diese Erkenntnis habe ich bei der Verfolgung konkreter Strategien und Geschäfte durchgehend angewendet. Gleich zu Anfang meiner Laufbahn im Investmentbereich hatte ich das Glück, mit einer Asset-Klasse zu tun zu haben (Anleihen aus Schwellenländern), wo man es andauernd mit Getöse und Überreaktionen der Investoren zu tun hat. Schließlich befand sich dieser Markt noch in einer früher Entwicklungsphase. Die Herausforderung bestand darin, die Gründe für das Getöse zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Ergebnisse waren oft sehr befriedigend – nicht nur bei PIMCOs Ankündigung des bevorstehenden Zusammenbruchs der Preise argentinischer Anleihen in den Jahren 2000 und 2001 sowie des steilen Anstiegs der Anleihepreise in Brasilien 2002, sondern ebenso bei konträren Positionen in kleineren Märkten; dazu gehört beispielsweise die Art und Weise, wie die Märkte Anfang 2002 die Auswirkungen des Zusammenbruchs von Argentinien auf Mexiko extrapolierten und die Auswirkungen der instabilen Lage in Zimbabwe auf Südafrika übertrugen.5

Die Methode war im Grunde einfach: Beobachte und analysiere die Hintergründe für das Getöse; untersuche in welchem Verhältnis die Gründe zu den Ergebnissen stehen, die sich aus unterschiedlichen und getrennt voneinander durchgeführten Bewertungsanalysen auf der Grundlage von Fundamentaldaten aus der Wirtschaft und aus dem Finanzbereich und von Marktfolgen ergeben; gleiche die Ergebnisse mit der Ansicht von Marktexperten ab; und ziehe aus all dem Schlüsse hinsichtlich kurzfris tiger wie langfristiger Folgen für die Bewertungen betroffener Finanz-Assets und anderer Vermögenswerte, die miteinander durch gemeinsame Eigentümer oder andere Korrelationsmechanismen verbundenen sind.

Die richtige Schlussfolgerung bestand oft genug darin, den »Lärm« zu dimmen, das heißt, die Vorgänge als vorübergehende und umkehrbare Irritationen einzustufen. In einigen wichtigen Fällen erwies es sich jedoch als völlig richtig, inmitten all des Getöses Signale zu suchen. Gemeint sind damit wichtige Hinweise auf nachhaltige Veränderungen der Parameter, die sowohl die absoluten wie die relativen Preise in gewissen Marktsegmenten bestimmen. In allen diesen Fällen war es richtig, der anfänglichen Versuchung, das Getöse einfach zu ignorieren, zu widerstehen; sonst hätte man auch diese Signale überhört.

Später fing ich an, den Prozess in einer regelmäßig erscheinenden Publikation für PIMCO und in Kommentaren zu dokumentieren, die ich für die Financial Times und Newsweek6 verfasste. Diese Artikel hatten einen ganz einfachen Zweck: Sie sollten die jüngsten Marktentwicklungen und -trends erklären sowie ihren Einfluss auf zukünftige Investmentstrategien und politische Entscheidungen. Dadurch sammelte sich ein ganzes Bündel von Hinweisen auf tiefgreifende und bis dato wenig verstandene Veränderungen in der globalen Wirtschafts- und Finanzwelt an, die man diesen im Getöse enthaltenen Signalen entnehmen konnte.

Dieses Marktgetöse gewann in den Jahren 2004 und 2005 eine ganz neue Qualität – ein weiterer Beweis für die tiefgreifende Veränderung. Bis dahin bezog sich der Lärm in der Regel auf aufeinanderfolgende Marktirritationen; seitdem konnte man zunehmend gleichzeitige Irritationen verzeichnen. Mit anderen Worten, die Märkte erwiesen sich nicht nur hin und wieder als anfällig, sondern die immer lauter werdenden Signale aus verschiedenen Bereichen waren ein eindeutiger Hinweis auf eine zunehmende allgemeine und gleichzeitige Anfälligkeit der Märkte.

Einige Marktschwächen aus der jüngeren Zeit

Es gibt etliche Beispiele von Marktanomalien aus der jüngeren Zeit und auf einige werde ich in Kapitel 1 im Einzelnen eingehen. Die bekannteste ist vermutliche diejenige Veränderung aus dem Frühjahr 2005, die Alan Greenspan, der frühere Chef der amerikanischen Notenbank, als »conondrum«, als »Rätsel« bezeichnete: Es war der Umstand, dass mehrere aufeinanderfolgende und in der Summe bemerkenswerten Erhöhungen des (kurzfristigen) US-Leitzinses (Federal Funds Rate7) von sinkenden langfristigen Zinsen am Kapitalmarkt der Vereinigten Staaten begleitet wurde.8 Während eines Zeitraums, der den Investoren wie eine Ewigkeit vorkam (für viele von ihnen ist eine Woche ein sehr langer Zeitraum), sandte der amerikanische Anleihemarkt in der Tat Signale über den Zustand der Wirtschaft aus, die mit denen des anderen ultraliquiden Marktes der Welt, des amerikanischen Aktienmarktes, nicht in Einklang standen.

Zu dieser Nicht-Übereinstimmung kam noch eine recht kuriose Situation unter den »Fed-Auguren« hinzu, also denjenigen Ökonomen und Analysten der Wall Street, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dass sie die Entwicklung des wichtigsten Leitzinses Welt, der Fed Funds Rate, vorhersagen. Mitte 2006, als der Leitzins bei 5¼ Prozent angelangt war, zerfiel die Mehrheit der Fed-Auguren in zwei verschiedene und entgegengesetzte Lager. Das eine prophezeite zuversichtlich weitere Zinsanstiege bis auf 6 Prozent, das andere war genauso felsenfest davon überzeugt, dass die Zinsen fallen würden – und zwar bis auf ein Niveau von 4 Prozent. Ich entsinne mich mehrmals darauf hingewiesen zu haben, dass ich mich nicht erinnern kann, bei fachkundigen Marktbeobachtern jemals derartige Meinungsverschiedenheiten bezüglich Richtung und Umfang der Zinsentwicklung erlebt zu haben.

Trotz solcher unterschiedlichen Ansichten und uneinheitlicher Signale aus den beiden liquidesten Finanzmärkten der Welt erreichten die traditionellen Indikatoren für Marktvolatilität und Unsicherheit (sprich: Angst) neue Tiefstände. Zu viele Marktteilnehmer begannen, abnehmende Marktvolatilität mit sinkendem Risiko zu verwechseln. Daher ließen sie sich zu immer riskanteren Geschäften verleiten. Fragwürdige Darlehen wurden ausgegeben und mithilfe der nach gewisser Zeit durchaus wirksamen Finanz-Alchemie wurden jede Menge Bilanzen (einschließlich denen der privaten Hausbesitzer) hoffnungslos mit Krediten überfrachtet; dies wurde mit übermäßig komplexen Zweckgesellschaften und Finanzprodukten erreicht.9

Nach den Untersuchungen, die ich mit Kollegen bei PIMCO und HMC auf der Suche nach einer Erklärung für die Ungereimtheiten durchführte, musste man von drei wesentlichen Faktoren ausgehen. Als diese Faktoren zum Tragen kamen, sandten sie – jeder für sich genommen, aber auch durch ihre Wechselwirkung – ungewöhnliche Signale aus. Dadurch gerieten übliche Modellrechnungen ebenso durcheinander wie ein paar anerkannte Daumenregeln. Und obwohl das nicht die einzigen Faktoren im Spiel waren, genügten sie doch zur Erklärung dessen, was Investoren und Politiker dermaßen in Verwirrung gestürzt hatte.

Wenn man die Signale verpasst

Trotz des immer häufigeren Auftretens von ungewöhnlichen Signalen konnte man keine wirklich spürbare Anpassungsreaktion seitens der Marktteilnehmer verzeichnen. Statt nach neuen analytischen Methoden und operativen Fixpunkten Ausschau zu halten, die ein besseres Verständnis der Entwicklung ermöglicht hätten, machten zu viele Investoren mit Volldampf weiter, nahmen noch mehr Risiken auf sich und stürzten sich mit rückwärtsgewandten Methoden in ganz neue Aktivitäten. Politiker brachten ihr Unbehagen zum Ausdruck, aber entweder waren sie unwillig oder unfähig etwas zu unternehmen. Wie die Mehrheit der übrigen Marktbeobachter wurden auch die Politiker in dem Maße »datenabhängig«, wie ihre altbewährten und anscheinend so robusten Modelle zur Erklärung der gegenwärtigen Realitäten nicht mehr ausreichten. Man ließ sich auf die Datenabhängigkeit ein, obwohl man wusste, dass der schnelle Informationsstrom von Wirtschafts- und Finanzdaten stets besonders volatil ist und die Daten im Nachhinein oft deutlich korrigiert werden müssen.

Eine derartige Situation provoziert geradezu ein unordentliches Ende. Wenn man sich ohne belastbare analytische Fixpunkte an den Märkten zurechtfinden will, ergibt sich das Problem, dass es zu ernsthaften Konsequenzen führen kann, wenn es im ständigen Informationsfluss und/oder bei den Preisen plötzlich zu einer scharfen Wendung kommt. Das zeigte sich besonders deutlich seit dem Sommer 2007. In der darauffolgenden hektischen Phase wurde das internationale Finanzsystem schwer beschädigt. Als der Pulverdampf sich ein wenig verzogen hatte, lautete die erste Verlustschätzung in den Medien auf ungefähr 18 Milliarden Dollar für die Großbanken10: später hoben Analysten der Deutschen Bank den Betrag auf 400 Milliarden Dollar an.

Nach einer Abschreibung von 8 Milliarden Dollar bei der Investmentbank Merrill Lynch trat deren Vorstandsvorsitzender Stan O’Neil von seinem Posten zurück. Der Vorsitzende der Citigroup, Chuck Prince, quittierte nach weiteren 8 bis 11 Milliarden Verlusten. Und es kam noch dicker. Wenige Wochen später kündigten beide Institute eine neue Verlustrunde an, die die Wall Street in Erstaunen versetzte. Danach folgte einige Wochen später wieder eine Runde. Und die erwähnten Institute blieben nicht die einzigen Verlierer.

Auf eine anfänglich optimistische Beurteilung der Schweizer Großbank UBS folgte eine Multi-Milliarden-Abschreibung auf Subprime-Kredite, die einen kräftigen Gesamtverlust für das ganze Jahr nach sich zog. Ähnlich erging es Stanley Morgan und anderen an der Wall Street und in Europa. Goldman Sachs war anscheinend die einzige Investmentbank, die einigermaßen ungeschoren durch die Turbulenzen kam.11 Als eines der wenigen Geldhäuser war sie wohl nicht gezwungen, im Ausland dringend frisches Kapital einwerben zu müssen, um ihre Bilanz abzusichern.