Über das Buch

Bislang hat Jonathan den Sinn seines Lebens vor allem im Surfen gefunden. Dann taucht ein Journalist bei ihm in Los Angeles auf, der ihm erklärt, wer er in Wahrheit ist: ein buddhistischer Heiliger, der rechtmäßige Panchen Lama. Jonathan nimmt seine Berufung an und lässt sich auf ein Lama-Coaching ein, bei dem er bald an seine Grenzen stößt. Er sehnt sich nach großen Aufgaben. Er sehnt sich nach seinem Ursprung, nach Tibet – und erhält eine Einladung seines chinesischen Konkurrenten. Und als sich der echte und der falsche Panchen Lama gegenüberstehen, geraten alle Gewissheiten ins Wanken. Mit jedem seiner geschliffenen, schwerelosen Sätze treibt uns Marcus Braun der Erkenntnis entgegen, dass wir dem Boden unter uns nicht trauen sollten.

Marcus Braun

Der letzte Buddha

Roman

Hanser Berlin

Für Robert Smith

So mir nun der Bardo der Dharmata aufgeht,
Will ich alle Gedanken von Furcht und Schrecken aufgeben,
Will alles, was erscheint, als meine Projektion erkennen
Und wissen, dass es eine Vision des Bardo ist;
Nun, angelangt an diesem Wendepunkt,
Will ich die Friedlichen und Rasenden, meine eigenen
Projektionen, nicht fürchten.

Tibetisches Totenbuch

Am 27. Januar 1989 befand sich Lobsang Chökyi in Shigatse. Es war ein eisiger, sonnenvoller Tag. Vor drei Wochen war er aus Peking eingetroffen, um die Gebeine seiner Vorgänger, die sich jahrelang in seinem Wandtresor befunden hatten, nach Tashi Lhunpo, das Stammkloster der Panchen Lamas, zu überführen.

Die Feierlichkeiten waren plangemäß, ruhig und ohne die von chinesischer Seite befürchteten Unruhen über die Bühne gegangen. Der Stupa, ein fast zwölf Meter hoher Gedenkschrein, war eingeweiht und gesegnet, die Festlichkeiten waren fast abgeschlossen.

Und während überall in Tibet mit der Ansiedlung von Han-Chinesen die unumkehrbare Eingliederung in das große Mutterland weiter voranschritt, hatte die chinesische Führung an diesem Tag ein ihrer Einschätzung nach unmissverständliches Zeichen gesetzt: 1000 Kilogramm Silber, 664 Kilogramm Quecksilber, 5639 Kilogramm Bronze, 1100 Kubikmeter Holz, 116,8 Tonnen Stahl, 1105 Tonnen Zement, 71.782 Steinquader und 109 Kilogramm Gold waren laut offizieller Propaganda von der Regierung zur Verfügung gestellt worden. Die verschwenderische Größe des Bauwerks sollte das Ende der schwarzen Zeit symbolisieren, die Tibet seit der chinesischen Okkupation oder seit dem Anschluss an das Mutterland durchgemacht hatte. Die Gebeine der Panchen Lamas, welche die Roten Garden den Hunden vorgeworfen hatten, fanden endlich eine würdige Ruhestätte. Der Dalai Lama hatte eine Grußbotschaft geschickt und für einen friedlichen Ablauf der Festlichkeiten gebetet. In der offiziellen Verlautbarung wurde der Panchen Lama zitiert: »Ich bin beglückt in diesem historischen Augenblick und glücklich für mein Land. Alle verstorbenen Panchen Lamas waren patriotische Männer, die herausragende Beiträge zur Einigung Chinas und zur nationalen Einheit geleistet haben.«

Schier endlose Reihen vorbeiziehender Gläubiger wurden gesegnet, die Retter der Reliquien empfangen, den Handwerkern des Stupas wurde gedankt.

Gegen sechs verzehrte der Panchen Lama ein großes Stück Hammelkeule. Ein weiterer Empfang mit Tänzen, tibetischen und chinesischen Liedern stand auf dem Programm, aber der Panchen Lama war unendlich müde. Er hatte auch viel zu viel gegessen. Gase füllten seine Gedärme, blähten den Bauchraum und drückten auf den Magen, sein Atem ging kurz. Er entließ seine Eltern und sagte die Teilnahme an den letzten Programmpunkten des Tages ab.

Er war erst fünfzig Jahre alt, aber er fühlte sich älter, viel älter. Einem Journalisten hatte er gesagt, er fühle sich so alt wie die Lebensalter seiner Vorgänger zusammengezählt. Er hatte dabei gelächelt. Niemand wisse ja wirklich, wie alt er sei. Niemand könne verlässliche Aussagen über das eigene Alter treffen.

Der 10. Panchen Lama betete und meditierte nur noch sehr selten. Aber er beschäftigte sich mit seinen Träumen, schrieb sie in Jayalakshimi-Notizhefte, auf denen Tierbabys abgebildet waren, und interpretierte sie ausführlich. Der gestrige Traum, der ihn den ganzen Tag über nicht mehr losgelassen hatte, hatte ihn in den neu errichteten Stupa geführt: Er stand inmitten des dunklen Raums vor den Schreinen seiner vorherigen Inkarnationen und forderte seine Begleiter auf, ihn einzumauern.

Plötzlich waren da aber nicht mehr die Mönche, mit denen er sich tatsächlich in diesem Raum aufgehalten hatte. Sie hatten sich in seine Wärter aus der Zeit im Changpinger Gefängnis verwandelt. Sie sagten nichts. Sie lächelten. Er dachte: Ich werde Zeit zur Selbstkritik haben. Ich möchte all die negativen Gedanken, die ich hege, loswerden. Er sagte, und er empfand dabei einen Moment des Triumphs: »Man kann mich nur lebendig begraben. Das ist der Scherz eines glücklichen dicken Mannes.«

Er verlangte, noch eine Decke gebracht zu bekommen, wollte den Traum endlich niederschreiben, fühlte sich aber zu schwach. Er ließ einen kleinen schwarzen Kreisel auf einem mit Elfenbein verkleideten Sandelholztischchen rotieren. Eine Beklemmung ergriff von ihm Besitz, er zog den Kopf ein und hielt den Atem an. Er notierte einen Satz, riss das Blatt heraus, die jungen Luchse schauten sehr ernst, faltete es, so klein es ging (vier Mal), dann fällte ihn ein stechender Schmerz. Der große Mann wankte, der Zettel glitt ihm aus der Hand, und im Fallen riss er den Tisch mit dem rotierenden Kreisel zu Boden.

Als der Schmerz nachließ und die Schwärze vor seinen Augen wich, lag er auf dem Rücken; vor ihm der ansehnliche Hügel seines Bauches. Er dachte: Niemand wird die richtigen Texte lesen. Er versuchte zu sprechen, aber er brachte keine Silbe hervor. Er dachte: Es sollte nicht so sein, es sollte anders sein. Die große Befreiung durch Hören würde nicht stattfinden. Er sah sich wieder in der dunklen Zelle ohne Hoffnung auf das Licht, und er spürte den bodenlosen Hass, den er so lange versucht hatte abzulegen, und nahm das blaue Schwert von Akshobhya. Alles war falsch. Und nichts von dem, was er geglaubt hatte, schien länger Gültigkeit zu besitzen.

Ein chinesischer Sicherheitsbeamter, vom Geräusch des umfallenden Tisches alarmiert, öffnete die Tür und fand den Panchen Lama am Boden liegend, die Arme vor der Brust gekreuzt.

Der Diener, der die Decke bringen wollte, wurde von den chinesischen Sicherheitsbeamten nicht mehr vorgelassen. Er behauptete später, es habe sich um andere Personen gehandelt als zuvor, Menschen, die er noch nie gesehen hatte. Vielleicht war ihm aber einfach der Schreck dermaßen in den Geist gefahren und hatte seinen Sehnerv so geschwächt, dass er einfach niemanden mehr wiedererkannte.

Der Panchen Lama wurde bis in die Morgenstunden hinein behandelt. Er starb, nachdem er geäußert hatte, es gehe ihm wieder hervorragend, gegen acht Uhr morgens, nach den Angaben der chinesischen Ärzte an Herzversagen.

Jeder verdächtigte die Chinesen, den Panchen Lama vergiftet zu haben. Selbst die Vertreter der chinesischen Institutionen verdächtigten sich insgeheim gegenseitig. Mönche schlugen ihre Köpfe gegen die Klosterwände, bis sie bluteten.

Teil I
Tibet

Zwanzig Jahre später

1

Einen Monat brachte der 11. Panchen Lama in Einsamkeit in einer Hütte auf einem Bergrücken über der Stadt zu. Er hatte gerade sein einundzwanzigstes Jahr beendet. Die Gipfel in der Ferne waren mit ewigem Eis bedeckt. Im Eis spiegelte sich der Himmel, es spiegelten sich die Sonne und die Wolken, es spiegelte sich der Mond. Im Spiegel war der Widerschein der Dinge und auch der Widerschein des Nichts. Ausgeblichene Gebetsfahnen flatterten im Wind. In der Hütte roch es säuerlich, nach verschüttetem Buttertee.

Man hatte ihm Brot gebacken, das nicht schimmelte. Nach einer Woche sah er davon ab, sich Tsampa zuzubereiten, nach zwei Wochen trank er nicht einmal mehr Tee, sondern beschränkte sich auf Wasser, in das er das nunmehr knochenharte Brot eintauchte.

Die einzigen Lebewesen, die er zu Gesicht bekam, waren Insekten, Krähen oder Wesen, die nicht Krähen waren, aber wie Krähen aussahen, und die unvermeidlichen Sicherheitsbeamten, weit weg, die in ihrer Manie, sich unsichtbar zu machen, besonders auffielen.

Die Tage unterschieden sich nicht, die Tage sollten sich nicht unterscheiden. Die Nächte hinterließen ihn mit Träumen, die im Moment des Aufwachens noch klar und nacherzählbar schienen, aber eine Sekunde später verlorengingen.

Er wog viele Steine in seiner Hand. Er brachte sie nicht zum Schweben, sie waren so schwer, wie es ihnen zukam. Nur in sich fand er, der 11. Panchen Lama, keine Eigenschaft.

Er sah die Berge. Sie schliefen. Und wenn er schlief, sahen sie ihn an.

Er sprach nicht. Er meditierte. Er zweifelte daran, ein Mönch zu sein, jemals einer gewesen zu sein. Er hatte Angst vor seiner eigenen Stimme, die er seit drei Wochen nicht gehört hatte.

Am dreiundzwanzigsten Tag sagte er ein Wort. Zu einem Stein. So etwas hatte es schon gegeben, das wusste er. Er wusste, was passieren würde. Der Stein sagte auch ein Wort: »Stein.«

Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf voll schwerem nassem Sand war. Wie in einer Geste der Verzweiflung erstarrt, streckte der Baum vor der Hütte seine kahlen Zweige in den Himmel. Er war sich sicher, dass dieser Baum zu Beginn seines Aufenthaltes nicht dort gestanden hatte. Aber an die Gebetsfahnen erinnerte er sich.

Es gab einen Bach in zwanzig Minuten Entfernung, zu dem ging er manchmal und wusch sich im eiskalten Wasser. Es gab einen von Pilgern errichteten Steinhaufen, den besuchte er täglich. Er trug Steine ab. Und häufte sie wieder übereinander. Dann trug er sie wieder ab. Und errichtete den Steinhaufen von neuem. Er wusste, dass man ihn beobachtete.

Er erwartete die Dämonen. Sie kamen nicht. Manchmal kam der Schlaf wie ein Anfall. Dann wieder war er wach, ohne sich daran zu erinnern, eingeschlafen zu sein oder überhaupt geschlafen zu haben. Er zählte von Beginn an die Tage. Er legte für jeden Tag einen Stein auf eine kleine Mauer. Aber kurz nachdem er das getan hatte, wusste er nicht mehr, ob er es an diesem Tag oder am vorherigen getan hatte. Er erinnerte sich auch nicht mehr an die Zahl, deren sich sicher zu sein er gestern noch geglaubt hatte. Dreizehn Tage, vierzehn Tage. Einundzwanzig Tage. Der Neubau der großen Festung Dzong thronte über den Hütten und Häusern, als wäre er immer schon da gewesen oder als hätten tektonische Verschiebungen die Festung aus dem Fels an die Erdoberfläche gedrückt, wo sie nun die Herrschaft über die ockerfarbenen Häuser und Hütten im alten Teil und die höheren stahlgrauen Bauten des neueren Teils der Stadt behauptete.

Drei Tage vor dem Ende seiner Klausur regnete es. Am nächsten Morgen war das Wasser des Baches blutrot. Es ließ ihn unbewegt. Es war Blut, mit dem er sich wusch. Er lächelte. Jedenfalls glaubte er das. Es gab keinen Beweis.

Achtundzwanzig Tage. Er trat ins Freie, Geier kreisten hoch über der Hütte, er zählte sie, eins zwei drei vier fünf, blickte zu Boden, hatte die Zahl vergessen. Kannten sie den Geschmack von Menschenfleisch? Er sah in den Himmel und sagte: »Du.« Die Vögel waren verschwunden. Er urinierte, ohne sein Glied dabei zu berühren.

Die Mönche kamen. Sie sangen. Er erkannte das Mantra nicht. Sie kamen mit geschmortem Hammelfleisch und einer Kanne Bier. Er hatte das Gefühl, noch nie einen Menschen gesehen zu haben. Er trank das Bier und aß den Hammel mit den Fingern, kalte Augen von Fett auf der Brühe, die er an seinem Gaumen mit der Zunge zerdrückte, ließ sich zurück in die Stadt, das Kloster führen, bekam Magenschmerzen, schlief irgendwann ein. Er hatte einen Alptraum, in dem er seinen toten Eltern mit einem kleinen stumpfen Messer das Fleisch von den Knochen der Beine schnitt.

2

Am Morgen nach seiner Rückkehr: Er sah, er hörte, er roch, er schmeckte, er tastete. Er hatte Gedanken. Er konnte sich die flache Hand auf die Schädeldecke legen und laut brummen, Luft ausstoßen und dabei die Lippen flattern lassen.

Zwei nackte alte Körper, Mann und Frau, lagen auf dem Bauch. Ein Ragyapa, der ein schwarzes Puma-Kapuzenshirt über einem Mönchsgewand trug, begann sich mit einer großen Zange an den Füßen zu schaffen zu machen. Die Zange durchtrennte das Fleisch, die Sehnen und erfasste die Fußknochen, das Geräusch ließ ihn aus dem Traum erwachen.

Der Brauch, die toten Körper zu zerlegen und den Krähen und Geiern zum Fraß zu überlassen, war auf dem Rückzug. Die Chinesen hielten ihn, wie der Rest der Welt auch, für barbarisch. Er war ein buddhistischer Mönch, er war nie etwas anderes gewesen. Er war der 11. Panchen Lama, weil er der 11. Panchen Lama war. Er hatte daran gezweifelt, jetzt war er sich sicher. Seine Lieblingskatze Infini sprang ihm auf die Schulter. Sie hatte ihn wohl vermisst. Jedenfalls hatte er sie vermisst. Sie war das anmutigste Wesen, das er kannte, aber er kannte damals nicht viel.

Der Aufenthalt auf dem Berg hatte zu Einsichten geführt. Niemandem in seiner Umgebung würden sie gefallen. Er hatte das Gefühl, dass seine Hände gewachsen waren, sie fühlten sich doppelt so groß an. Er konnte seinen Schädel zur Gänze umfassen.

Am Nachmittag bestellte der 11. Panchen Lama seinen Hofstaat ein und verkündete seine Absicht, ein Staatsorakel zu berufen. In seiner Faust befand sich eine 2-Mark-Münze des Deutschen Reiches von 1934. Der Adler hält einen Eichenkranz. Ein Staatsorakel gab es bisher nur am Hof des Dalai Lama.

Man reagierte mit unbewegten Mienen. Wahrscheinlich hielt man es einfach nur für eine krude Idee, geboren aus der Isolation und dem Schweigen. Vielleicht würde man ihn davon wieder abbringen können, vielleicht einen neuen Titel erfinden für das, was ihm vorschwebte, ein Staatsorakel, da waren sich wohl alle unausgesprochen einig, würde er nicht berufen.

Nach der Versammlung nahm er Tengshe, seinen engsten Berater, zur Seite. Tengshe litt unter Diabetes, war oft müde, wie auch er oft müde war. Müdigkeit, sagte Tengshe, ist die Kehrseite der Achtsamkeit, und ohne Müdigkeit keine Achtsamkeit. Oft übermannte sie beide die Müdigkeit, und sie konnten sich später nicht erinnern, wer von ihnen zuerst das Gespräch verlassen hatte, um es im Schweigen des Schlafes fortzusetzen.

»Warum ein Staatsorakel?«

»Besseren Rat, für eine bessere Welt.«

Tengshe hob erst die Augenbrauen und runzelte dann die Stirn, dann senkte er den Kopf und blickte zu Boden. Sie hatten viele Stummfilme zusammen geschaut, Buster Keaton, aber auch historische Epen und Liebesschmonzetten aus den Vereinigten Staaten der zwanziger Jahre. Tengshe betrachtete die Bommeln seiner Schuhe, er überlegte kurz, seine Fußspitzen in Bewegung zu versetzen.

Der 11. Panchen Lama hatte ihm gerade seinen zweiten Entschluss verkündet: der Kommunistischen Partei Chinas beizutreten. Tengshe war mehr als unbehaglich zumute, und er wusste genau, er konnte sich jetzt nicht in die Müdigkeit flüchten.

»Aber womit soll ich diesen Schritt begründen?«

»Wir müssen ihn nicht begründen, es ist einfach ein Entschluss.«

»Das wird niemand verstehen.«

»Das ist auch nicht notwendig. Ihr tut einfach, was ich sage. Und ich tue, wie immer, was ihr sagt.«

Die Echsen aus Holz, Jade, Bronze und Stahl, auf seinem Schreibtisch im Kreis platziert, hatten unmerklich ihre Position gewechselt.

»Mag sein, dass das ein weiser Entschluss ist, aber es ist ein schnell gefasster Entschluss, und ich bitte Euch, noch einmal darüber zu schlafen.«

»Ich werde nicht schlafen. Ich habe Jahrhunderte darüber geschlafen.«

Tengshe suchte in Gyaltsens Gesicht, dem Gesicht seines Schülers, nach einem Lächeln, aber da war kein Lächeln.

»Ich werde Peking Bericht erstatten – und dann werden wir weitersehen.«

Er wollte es nicht verstehen. Aber da der 11. Panchen Lama nie mehr schlafen würde – ein kurzer Gedanke, der ihn selbst überraschte –, war seine Geduld grenzenlos.

»Peking weiß Bescheid.«

»Mit Verlaub, das glaube ich nicht.«

»Das ist egal.«

»Aber die Tibeter werden es nicht verstehen.«

»Die Tibeter werden mich verstehen.«

Tengshe verlor die Fassung, seine Stimme wurde laut, nie hatte der 11. Panchen Lama gehört, dass Tengshe seine Stimme über ein normales leises Maß hinaus erhob, sie änderte ihre Tonlage nach oben. Weil er ein anderer geworden war, veränderte sich auch der Mensch, mit dem er sprach.

»Wenn China gewünscht hätte, dass Ihr der Kommunistischen Partei beitretet, dann wäre das längst geschehen.«

»China weiß manchmal nicht, was es eigentlich schon gewollt hat, bevor es geschieht.«

»Und Ihr wisst das?«

Bei dieser müden Frage fand Tengshe sein gewöhnliches Timbre wieder.

Der 11. Panchen Lama hatte die Augen geschlossen, als er sagte: »Es war alles desolat, unüberschaubar und fremdbestimmt. Als ich mich auf die Berge, in die Tiefe begab, leuchtete kein Licht. Das wird sich nun ändern.«

Der 11. Panchen Lama empfing Abordnungen von Mönchen aus acht Klöstern, die mit ihm zusammen die Gebetsmühlen in Bewegung setzten, für das Heil Tibets und das Heil der Welt. Siebentausend Klöster waren im Verlauf der chinesischen Okkupation und der Kulturrevolution geschlossen und zum großen Teil zerstört worden. Anscheinend schlief der Menschenfresser, der unter dem Territorium Tibets lag, und hatte noch nicht gemerkt, dass man fast das ganze Gewicht von ihm genommen hatte. Gyaltsen Norbu, der 11. Panchen Lama, witterte eine große Gefahr. Er spürte, dass das Monster bald erwachen würde. Schmerzhaft war ihm bewusst, dass er bisher ein Teil Chinas gewesen war und sonst nichts.

3

Will man die Revolution, dann muss man
eine revolutionäre Partei haben.

Mao Tse-tung

Deng Yao hatte sich eine Flasche Bier kommen lassen, für Gyaltsen stand eine Kanne Tee auf dem Tisch. Sie hatten sich die Hände geschüttelt, eine zaghafte Umarmung angedeutet, wie auch früher schon oft. Deng Yao legte sein Jackett ab.

Es war die dritte Woche nach der Rückkehr vom Berg. Deng Yaos Gedanken schienen vor Gyaltsen zu liegen wie ein deutlich geschriebener Text. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, vielleicht hatte er die Gabe, die Gedanken seines Lehrers zu erraten, irgendwann wieder verloren.

Was Deng Yao sofort auffiel: Sein Schützling hatte plötzlich männliche Züge gewonnen, war erwachsen geworden. Die neuen Ideen ließen allerdings eher auf das Einsetzen der Pubertät schließen. Eine klassische Spätentwicklung, angesichts der Umstände nicht verwunderlich. Die buddhistischen Mönche übergingen das ja gerne, blendeten die Pubertät aus. Als könnte man die Natur überlisten durch den Geist, der doch auch nur Natur war.

Es war kalt in Tibet, und es erfroren Menschen in den Straßen Lhasas, die man erst Tage später mit Stemmeisen vom Boden trennte und ins Krematorium brachte. Hier in Shigatse erfror niemand. Man hatte eine Sammelaktion initiiert, die Stadtverwaltung hatte Wärmestuben eröffnet, und es gab genug mitleidige Herzen und Sicherheitsbeamte, die berauschte oder unbedachte Obdachlose vor dem Erfrieren retteten.

Der Panchen Lama selbst hatte eine alte Aluminiumkelle geschwungen und Suppe verteilt. Der Panchen Lama war noch nie auf diese Art in Erscheinung getreten. Die Chinesen hielten das nach kurzer Irritation für eine gute Idee und unterstützten ihn tatkräftig. Sie kommandierten eine Versorgungseinheit der Armee ab.

Deng Yao war über all das informiert und wunderte sich sehr. Bis vor ein paar Wochen noch hatte Gyaltsen keinerlei eigene Initiative entwickelt. Die Times of India veröffentlichte ein Bild: »Der chinesische Panchen Lama lindert das Leid und segnet die Tibeter.« Für das Ausland war er der chinesische Panchen Lama oder schlicht der falsche Lama.

Deng kannte Gyaltsen, seit er vierzehn war. Sie hatten zusammen Fußball gespielt, gekocht, über Dao gesprochen, über den Dalai Lama, über die Rolle Taiwans, die Aufgabe des Panchen Lama in der Geschichte und in der Zukunft, darüber, wie man am besten ein Yaksteak brät. Die Barbarei des Fleischverzehrs gab Gyaltsen erst endgültig auf, als er die ersten Todesurteile zu verantworten hatte.

Deng war der offizielle chinesische Kontaktmann an seiner Seite. Er hatte lange Jahre für das Amt für öffentliche Sicherheit gearbeitet, eine hohe Funktion in der KP Tibets bestritten. Vor zwei Jahren hatte er Tibet verlassen und war ins Zentralkomitee der Kommunistischen Partei aufgerückt. Er wurde zeitweise dem neomaoistischen linken Flügel zugerechnet, aber das bedeutete in den Worten, in denen es ausgesprochen wurde, nicht viel oder besser gesagt gar nichts.

»Eigentlich hätte ich fast erwartet, dass Sie mich darauf ansprechen würden, bevor ich irgendjemandem meinen Entschluss mitgeteilt habe. Aber jetzt hat es so lange gedauert. Ist Peking schon so weit weg?«

Deng Yao lächelte und atmete eine Menge Luft aus, die Höhe machte ihm zu schaffen.

»Eure Heiligkeit, das hätte doch etwas die Etikette verletzt. Außerdem widerspricht Hellsehen meiner materialistischen Doktrin.«

»Vermutlich freut man sich in Peking über meinen Entschluss.«

»Den Entschluss, ein Staatsorakel zu berufen? Ganz im Gegenteil.«

Gyaltsen goss sich eine Schale Tee ein.

»Und auch von der anderen Idee möchte ich dringend abraten.«

»Dafür sind Sie extra hergekommen? Sie haben mir doch immer eingeschärft, auch das große Ganze und China als die Mutter Tibets in alle meine Überlegungen einzubeziehen.«

Deng Yao zog sich am rechten Ohrläppchen.

»Bisher seid Ihr nicht durch Euren Sinn für Humor oder Ironie aufgefallen.«

»Auch ich entwickle mich.«

»Auch ein Panchen Lama sollte nicht den dritten Schritt vor dem ersten tun. Ich muss dringend davon abraten.«

»Das müssen Sie mir nicht sagen. Ich weiß, wir sprechen hier immer auch vor Publikum.«

Deng Yao nickte.

»Das vergesse ich nicht. Ich war lange auf der Seite des Publikums.«

Es war immer gut, erst zuzustimmen, bevor man seinem Gegenüber widersprach. Besonders, wenn es sich um einen jungen Mann mit besserwisserischen Anwandlungen handelte, dem man von klein auf eingeredet hatte, dass er auserwählt sei.

»Ich glaube, dieser Schritt könnte auf großes Unverständnis bei der tibetischen Bevölkerung stoßen.«

Der Panchen Lama senkte den Blick.

»Tibet ist ein Teil Chinas. Und warum soll ein geistiger Führer Tibets, dafür hält man mich, nicht Mitglied der Partei sein?«

»Es wäre im Hinblick auf Eure Stellung nicht klug, diesen Schritt zu unternehmen, und ich muss dringend davon abraten.«

»Sie müssen das? Sie müssen dringend davon abraten?«

»Ich muss gar nichts.«

»Gut. Sehr gut.«

»Ich erlaube mir nur, darauf hinzuweisen.«

Es schien ihm an der Zeit, Deng Yao ins Wort zu fallen.

»Ich bin schon 1956 der Kommunistischen Partei beigetreten.«

Deng Yao suchte ein Lächeln in seinem Gesicht, aber da war kein Lächeln. Sie schwiegen, bis Deng Yao sich von dieser Unhöflichkeit erholt hatte.

Er zupfte an den Haaren seiner linken Augenbraue.

»Nun ja, das macht die Geschichte nicht besser.«

Gyaltsen löschte die zwei Räucherstäbchen mit den Fingern.

»Ich schließe aus Ihren Worten, dass Sie nicht in der Lage sind, das zu verhindern.«

»Es steht mir nicht zu, Euch Vorschriften zu machen.«

Deng Yao zündete sich eine Zigarette an, obwohl er wusste, dass Gyaltsen den Geruch von Tabakrauch hasste und normalerweise nicht duldete, dass jemand in seiner Gegenwart rauchte. Er war der Ansicht, nur Dämonen sollten Rauch essen.

»Peking wird sicher einen weisen Entschluss fassen. Wenn ich mir nicht sicher wäre, würde ich nicht daran denken, ein solches Unterfangen zu beginnen.«

»Von welchem Unterfangen genau sprecht Ihr?«

»Noch einmal: Ich werde der Partei beitreten und für das Wohlergehen unseres Landes arbeiten.«

»Das könnt Ihr viel besser, wenn Ihr Eure repräsentative Aufgabe wahrnehmt.«

»Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, worauf ich hinauswill.«