Cover

Die Hirnforschung auf Buddhas Spuren

Inhalt

 »Irgendwie sind wir alle verrückt«

Im Paradies des Narren

Ein Kinderspiel

Meditation: Nur der Atem

Die Wolke des Nichtwissens

Der zweite Pfeil

Meditation: Bewusste Wahrnehmung

Der Mensch, der verschwand

Die goldenen Pantoffeln

Meditation: Neustart in drei Stufen

Die Feueranbeter

Der trunkene Elefant

Meditation: Die warme Glut

Der Sündenfall

Wundervoll und wunderbar

Meditation: Bodyscan

Der Gedankenspiegel

Meditation: Eine Scheibe Achtsamkeit

Das Reich der Unsterblichkeit

Dank

Quellennachweis

»Irgendwie sind wir alle verrückt«

Der stets lächelnde Mönch mit dem breitkrempigen Hut sagte das, als sei damit alles erklärt. Meine Partnerin und ich übernachteten ein paar Tage lang als Gäste im buddhistischen Kloster Amaravati in der Grafschaft Hertfordshire nördlich von London. Ich arbeitete damals als Wissenschaftsredakteur für den Guardian und war bereits am Vortag angereist, um ein ausgiebiges Interview mit dem Klosterabt zu führen. Ajahn Amaro war ein zuvorkommender, freundlich wirkender Engländer, der als buddhistischer Mönch zu der Schule der sogenannten Thailändischen Waldtradition innerhalb des Buddhismus gehört. Zu dritt standen wir im strahlenden Morgenlicht der Sonne auf einem der Gartenpfade inmitten makelloser Blumenbeete. Die Wege führten von den farbig gestrichenen Holzhütten des Klosters zu einem mit wildem Heidegras bewachsenen Gelände; dort sah man eine Anzahl von Männern und Frauen, ganz in sich versunken, sehr langsam und bedächtig umherschreiten. Einige gingen auf ausgetretenen Pfaden zwischen Bäumen hin und her, andere umkreisten unentwegt einen glockenförmigen Granit-Stupa, einen buddhistischen Kultbau, der in den Himmel ragte.

Am Abend zuvor hatte ein zweiwöchiges Retreat für etwa dreißig Teilnehmer begonnen. Heute Morgen waren sie vom Abt – dem Mönch mit dem Sonnenhut – hier hinausgeschickt worden, um eine Meditationsübung im Gehen durchzuführen. Seine Bemerkung hinsichtlich des gestörten geistigen Gleichgewichts von uns allen fand ich, ehrlich gesagt, etwas irritierend, vor allem angesichts dieser auf den ersten Blick merkwürdigen Aktivitäten in der Heidelandschaft, die mir wie eine Szene aus einem Zombie-Film vorkamen. Das war keine angemessene Reaktion auf die Bemerkung eines allseits verehrten buddhistischen Meisters, aber ich war übermüdet und schlecht gelaunt, nachdem ich bereits in aller Herrgottsfrühe vom Dröhnen der großen Messingglocke des Klosters geweckt worden war. Die Glocke war das Zeichen, uns um halb fünf in unseren Schlafräumen zu erheben und in der Meditationshalle zu gemeinsamem Gesang und Meditation einzufinden.

Erst sehr viel später wurde mir klar, dass im Buddhismus ein Mensch erst dann als geistig gesund betrachtet wird, wenn er die völlige Erleuchtung erlangt hat.1 Die Buddhisten gehen davon aus, dass der menschliche Geist, das Gehirn, falsch eingestellt ist – etwa so wie ein Uhrwerk, das zu schnell oder zu langsam läuft. Egal wie vernünftig oder geistig fit wir sind: Wir beschäftigen uns viel zu viel mit unserer gesellschaftlichen oder beruflichen Stellung, mit Gedanken an Krankheit und Alter, verzehren uns nach allen möglichen materiellen Dingen oder ärgern uns über unsere Fehler und Schwächen oder die anderer Leute. Die Buddhisten glauben, dass unser Geist auf diese Weise Dukkha hervorbringt – Leiden oder Gestresstsein aufgrund der Unzulänglichkeiten des Alltags, der geradezu unentrinnbaren Bürde des Daseins, des nie versiegenden Wunsches nach mehr Besitz und mehr Vergnügen. Wir klammern uns an bestimmte Erfahrungen, gleichzeitig verdrängen oder verleugnen wir andere – oftmals ganz vehement. Mit der Aussage, wir seien doch alle irgendwie geisteskrank, brachte der Mönch diesen psychologischen Befund auf seine Weise und aus buddhistischer Sicht zum Ausdruck.

Im blassgrauen Dämmerlicht dieses Morgens saßen wir mit den Mönchen und Nonnen des Klosters im Schneidersitz vor der vergoldeten Buddha-Statue in der Meditationshalle und rezitierten:

Geburt ist Dukkha
Altern ist Dukkha
Krankheit ist Dukkha
Tod ist Dukkha
Trauer, Schmerz, Unwohlsein sind Dukkha
Mit jemandem zusammen sein, den man nicht liebt, ist Dukkha
Von etwas Geliebten getrennt sein ist Dukkha
Nicht bekommen, was man sich wünscht, ist Dukkha

Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht im Vergleich zu den inspirierenden, fröhlichen Hymnen, die wir während meiner Schulzeit im Internat bei den Morgenandachten gesungen hatten. Statt den Triumph der himmlischen Mächte über die Finsternis zu verkünden, wurde hier fortlaufend daran erinnert, dass das menschliche Dasein im Sumpf des Leidens versinkt. Die Kernbotschaft lautete anscheinend: Der Mensch hat keine Aussicht auf Seligkeit, irgendetwas Positives ist einfach nicht zu erwarten. Trotz aller kleinen Freuden, liebevoller Momente, Errungenschaften und Erfolge, an denen wir auf unserem Lebensweg durchaus teilhaben, erwarten uns hinter der nächsten Ecke doch wieder Niederlagen, Enttäuschungen, Krankheit und Tod. Das ist unausweichlich so, egal wie hart wir arbeiten, wie viel wir verdienen, wie gesund wir uns ernähren, wie regelmäßig wir Sport treiben. Diese Rezitation in der Meditationshalle war nichts anderes als eine altehrwürdige Formulierung der modernen Erkenntnis »Das Leben ist kein Ponyhof und am Ende bist du tot«.

Man kann diese Einstellung für übertrieben negativ halten oder für eine Erkenntnis letztgültiger Wahrheiten. Ich persönlich entdeckte, dass sie etwas Befreiendes hat. Indem wir solche Dinge laut aussprechen, machen wir uns die Lügengespinste bewusst, in die wir uns im Alltag einspinnen. Die illusionslose Grundehrlichkeit dieser Rezitation bewegte mich innerlich. Sie wirkte wie eine Art Versöhnung mit der Realität. Gleichwohl verblüffte mich die Aussage des Abtes, wir seien »alle irgendwie verrückt«. Zugegeben, es ist eine Sache, aus bestimmten Gründen zu leiden, wie Verlust eines Menschen, persönliches Versagen, Krankheit, Alter – und eine ganz andere, von einer erbarmungslosen, kaum therapierbaren Depression oder Psychose befallen zu sein, einem Zustand, der immer im Schatten lauert, egal wie gut oder schlecht die Dinge des Lebens laufen. Doch speziell diese Leiden gehören doch zu einer ganz eigenen Art von Dukkha, die nur besonders unglückliche Menschen betrifft – oder?

Es wäre zu einfach gedacht, die Menschen in zwei Kategorien einzuteilen: diejenigen, die in irgendeiner Form an einer psychischen Krankheit leiden, und die »geistig Gesunden«. Psychiater kommen zunehmend zu der Erkenntnis, dass überkommene Krankheitsbilder wie Depression, Angstpsychosen, Schizophrenie oder manisch-depressive Erkrankungen keineswegs so scharf umrissene, eindeutige Konturen haben, wie man sich das lange vorgestellt hat. Vielmehr finden sich Symptome, die man bisher der einen oder anderen Krankheit zugeordnet hat, in stärkerer oder schwächerer Form auch bei der allgemeinen Bevölkerung.2,3

Nehmen wir beispielsweise die echte Psychose, eine Krankheit, von der man landläufig annimmt, dass sie extrem selten auftritt. Herkömmlicherweise werden damit verwirrte und verstörende Gedanken und Vorstellungen verbunden, Halluzinationen, Wahnvorstellungen wie Paranoia (die Betroffenen bilden sich grundlos ein, dass andere Menschen ihnen Schaden zufügen wollen). In Wahrheit kommen Halluzinationen und paranoide Vorstellungen sehr viel häufiger vor als viele meinen. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent unserer Bevölkerung hin und wieder halluzinatorische Erfahrungen macht und zwischen 20 und 40 Prozent werden Opfer von paranoiden Einbildungen.4 5 6 Bei eindeutig diagnostizierten Psychotikern wiederum gibt es eine erstaunliche Bandbreite von Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Allem Anschein nach sind die wichtigsten gemeinsamen Merkmale beziehungsweise Symptome von Menschen mit »Psychose« Angstzustände, Depressionen und emotionale Labilität; alle diese Symptome findet man aber auch bei Menschen, die niemals als geisteskrank bezeichnet wurden.7 Die Tatsache, dass schwer depressive Menschen auch Wahnvorstellungen und Halluzinationen erleben, die üblicherweise mit Psychose in Verbindung gebracht werden, macht das Bild noch konfuser.

Ähnlich ist es bei manisch-depressiven Erkrankungen, die von einem Wechsel zwischen depressiven Zuständen und Ausbrüchen von Hyperaktivität gekennzeichnet sind. Allenfalls 1 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung in Europa und den USA gelten als manisch-depressiv. Gleichwohl sind Stimmungsumschwünge und Launenhaftigkeit weit verbreitet. Bis zu 25 Prozent der westlichen Bevölkerung kennen Zustände von länger anhaltender Euphorie mit geringem Schlafbedürfnis und Gedankenrasen. Nach Ansicht der British Psychological Society bedeutet dies, dass eine Entweder-oder-Diagnose, etwa der manisch-depressiven Erkrankung oder einer Psychose, nur durch übermäßige Vereinfachung zustande kommt.8

Erste Anzeichen für geistige Krankheiten finden sich bei den betroffenen Menschen oft schon in jungen Jahren. Schätzungen zufolge zeigen 10 Prozent der Kinder weltweit klinisch eindeutig erkennbare Anzeichen einer geistigen Erkrankung oder Störung; etwa die Hälfte davon sind Angststörungen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Verhaltensstörungen wie ADHS. 9

Dieses verbreitete Auftreten psychiatrischer Krankheiten, zusammen mit der Tatsache des Vorhandenseins einschlägiger Symptome in unterschiedlich starker Ausprägung bei durchaus großen Teilen der Bevölkerung, legt den Gedanken nahe, dass es sich nicht um ein deutlich abgrenzbares Krankheitsbild handelt wie bei Diabetes oder Asthma, sondern um eine extreme Erscheinungsform des allgemeinen menschlichen Daseins. Unsere genetischen Anlagen, die Umgebung, in der wir aufwachsen, und unsere Lebenserfahrungen spielen zweifellos eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, dass einige Menschen anfälliger für psychische Störungen sind als andere. Aber wir sollten uns auch der Einsicht stellen, dass unser aller geistige Grundausstattung – wenn Sie so wollen: das Standard-Gehirn – genauso für derartige psychologische Irrungen und Wirrungen anfällig sein kann. Die herkömmlichen Diagnosen geistiger Krankheiten erfassen nur einen Bruchteil unserer Probleme; die allgegenwärtige Gewalt, Vorurteile und Konflikte in der Gesellschaft lassen sich kaum als Indikatoren einer reibungslos funktionierenden mentalen Maschinerie interpretieren.

Was ist also zu tun? Es besteht ja kein Mangel an vielfältigen Versuchen, den angeborenen Schwächen des menschlichen Geistes beizukommen. Derartige Versuche sind in der Tat so alt wie die Menschheit. Mit guten Gründen lässt sich die Ansicht vertreten, das gemeinsame Anliegen aller großen Weltreligionen bestehe seit Jahrtausenden darin, die Unzulänglichkeiten des Geistes zu heilen. In der Feststellung von Ajahn Amaro »Irgendwie sind wir alle verrückt« beziehungsweise geisteskrank klingt ein kühnes Versprechen mit, das lautet: »Und der Buddhismus ist die Heilung dafür.« Alle Religionen versuchen, das gleiche Ziel mit jeweils eigenen Mitteln zu erreichen – und mit unterschiedlichem Erfolg. Die buddhistische Herangehensweise unterscheidet sich von den meisten anderen darin, dass man das hehre Ziel ohne rigides Glaubensbekenntnis, ohne einen Katalog von Geboten oder Verboten und ohne göttliche Interventionen zu erreichen versucht.

Man hat oft behauptet, der Buddhismus sei eigentlich gar keine Religion, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Insofern wirkt der Buddhismus, gerade für einen Atheisten oder Skeptiker wie mich, durch die Tatsache, dass er ohne ein System metaphysischer Glaubenssätze auskommt, besonders interessant. Als ich vor ungefähr fünf Jahren anfing, mich mit buddhistischer Philosophie und Praxis näher zu beschäftigen, war ich auch davon fasziniert, wie das Phänomen »Sünde«, ein Zentralbegriff vieler Religionen für Lust, Gier, Völlerei, Trägheit, Zorn, Neid oder Stolz, von Buddhisten viel neutraler als eine Art »ungeschicktes Verhalten« betrachtet wird, das einfach aufgrund unausweichlicher Gesetze von Ursache und Wirkung negative Folgen nach sich zieht. Das wiederum bedeutet, dass man die Fähigkeit, als Mensch glücklich und zufrieden und sogar »gut« zu sein, erlernen kann, so wie man Auto fahren oder Kuchen backen lernen kann. Je mehr man übt, desto besser wird das Ergebnis. In dieser Perspektive wirkt es ungefähr so abwegig, jemanden wegen seiner Gier oder seinem Stolz zu verurteilen, als würde man ihm Vorwürfe machen, weil er nicht Auto fahren oder nicht backen kann.

Aber warum sollte es ausgerechnet dem Buddhismus besser als anderen Weltreligionen gelingen, gerade solche Fähigkeiten auszubilden, die man auch ohne religiösen Überbau auf ganz profane Weise erwerben könnte? Alles, was irgendwie mystisch oder religiös erscheint, unabhängig davon, ob dabei eine Gottesvorstellung, ein Glaubensbekenntnis oder ein Gebots- bzw. Verbotskatalog involviert ist, wird bekanntlich von vielen Naturwissenschaftlern und Nichtgläubigen argwöhnisch betrachtet; dazu zählt auch die große Mehrheit all jener Leute, mit denen ich als Wissenschaftsjournalist im Laufe der Jahre in Kontakt gekommen bin. Zudem besteht im Buddhismus die Heilung des leidenden menschlichen Geistes primär in Meditation, die auf einen eingefleischten Skeptiker wie mich traf: Ist das nicht nur ein weiterer Hype? Achtsamkeitsmeditation, die darauf abzielt, eine möglichst unvoreingenommene Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt zu entwickeln, ist ein globaler Trend. Mittlerweile gibt es maßgeschneiderte Kursangebote für jede denkbare Zielgruppe, für Berufsschulen in Großbritannien, für Delinquenten in New York, für US-Marines im Einsatz, für Feuerwehrleute in Florida, für Taxifahrer in Iran … um nur eine kleine Auswahl zu nennen.

Vor diesem Hintergrund wurden seriöse Wissenschaftler lange Zeit belächelt, wenn sie die klinische Nachweisbarkeit der positiven Auswirkungen von Achtsamkeitsmeditation zum Forschungsthema machten. Das hat sich inzwischen geändert. Mittlerweile forschen etliche weltweit renommierte Psychologen und Neurologen auf diesem Gebiet und publizieren ihre Ergebnisse in Fachzeitschriften wie Nature und The Lancet. Durch die Anwendung modernster Technologien für Gehirn-Scans wie die Funktionelle Magnetresonanztherapie (»Kernspinverfahren«) konnte immer wieder gezeigt werden, dass durch Meditation nachweisbare Veränderungen der Hirnaktivität hervorgerufen werden – was den wissenschaftlichen Respekt gegenüber dieser Forschungsrichtung nachhaltig untermauert hat.

Eine weitere interessante Entwicklung aus jüngerer Zeit sind Gehirnuntersuchungen an buddhistischen Mönchen, die über jahrzehntelange Erfahrungen in Meditation aus unterschiedlichen klösterlichen Traditionen verfügen. Diese spezielle Forschungsrichtung ging aus Diskussionsveranstaltungen hervor, die seit den 1980er-Jahren von Wissenschaftlern und dem Dalai Lama gemeinsam abgehalten wurden. Richard Davidson von der Universität Wisconsin, einer der Neurowissenschaftler, die in diesem Gebiet besonders engagiert sind, ist der Auffassung, dass wir von solchen Meditationserfahrungen noch viel lernen können. »Unsere Untersuchungen haben das Potenzial für die Entwicklung gesünderer Geisteszustände, das in solchen Meditationspraktiken liegt, überaus deutlich gemacht«, berichtete er mir. »Solche mentalen Praktiken oder Übungen führen tatsächlich zu grundlegenden Veränderungen oder sagen wir Umstrukturierungen im Gehirn, die angemessenere Eigenschaften unterstützen.« Davidson ist der Ansicht, dass die sogenannte »Plastizität« des Gehirns, seine »Verformbarkeit«, womit die Fähigkeit des Gehirns gemeint ist, sich durch Lernprozesse, Erfahrungen und den Erwerb neuer Fähigkeiten immer wieder neu zu vernetzen und seine Strukturen umzugestalten, auch genutzt werden kann, um das allgemeine Wohlergehen zu fördern. Glückserleben ist also eine Fähigkeit, die, wie so viele andere, durch sorgfältige Übung gefördert werden kann.10

Dennoch bleiben Zweifel und Unsicherheiten gegenüber meditativen Praktiken bestehen. So lautet eine weitverbreitete Ansicht, dass Menschen dadurch in willenlose Wesen verwandelt werden, deren Wünsche, Träume, ja deren ganze individuelle Persönlichkeit ausgelöscht werden – ebenjenes Zombiehafte, worauf sich meine skeptische Reaktion meines Interviews mit Ajahn Amaro noch einmal abspielte, stellte ich aber fest, dass er es war, der dieses Stichwort zuerst fallen ließ. Ich hatte darauf hingewiesen, dass das buddhistische Postulat der Selbstlosigkeit diametral entgegengesetzt sei zu einem der Kernpunkte der westlichen Zivilisation, nämlich dem Postulat persönlicher Weiterentwicklung. Dieser Ehrgeiz treibt uns jeden Morgen aus dem Bett und führt letzten Endes dazu, dass wir unsere Miete bezahlen können. Dem widersprach Amaro: »Die Leute glauben immer, das Ziel buddhistischer Meditation sei es, so frei von Wünschen und Begierden zu werden, das man gar nichts mehr für erstrebenswert hält. Sie glauben, das Ganze laufe darauf hinaus, völlig passiv zu werden – zu einer Art Zombie, einem willenlosen Wesen, das von sich aus nichts mehr tut. Das ist ein großes Missverständnis, denn erstens hat Arbeit an sich nichts mit Leiden zu tun, und zweitens ist Frieden, auch innerer Frieden, alles andere als gleichbedeutend mit Nichtstun. Die westliche Vorstellung von ›friedvollem Dasein‹ erschöpft sich meistens in Chillen am Strand. Aber auch wenn man hart arbeitet, kann man völlig im Frieden und im inneren Einklang mit sich selbst sein. Es besteht überhaupt kein Gegensatz.«

Das erste Anliegen dieses Buches ist es zu zeigen, welche wissenschaftlichen Beweise die modernen Neurowissenschaften dafür erbracht haben, dass Menschen durch Meditation gerade nicht zu Zombies werden, sondern eine bessere Kontrolle über ihre Gedanken, Gefühle und ihr Verhalten erlangen. Die Hirnforschung auf Buddhas Spuren handelt von einer Wissenschaft der Selbstaufmerksamkeit und der Suche nach Erleuchtung – oder, um es etwas weniger spirituell auszudrücken, dem Weg zu bestmöglichem psychischem Wohlbefinden. Das Wort »Erleuchtung« ist für den westlichen Leser religiös konnotiert, während es im Buddhismus ganz einfach bedeutet: zu erkennen, wie die Dinge wirklich sind, frei von allen Verblendungen und Selbsttäuschungen. Das unterscheidet sich im Kern kaum von dem, was Chemiker, Physiker oder Biologen vorhaben, wenn sie die Funktionsmechanismen der Naturwelt erforschen.

Und wie verhält es sich mit dem anderen obskuren Wort – »spirituell«? Nachdem ich mich lange mit Achtsamkeit und Buddhismus beschäftigt habe, bin ich immer mehr davon überzeugt, dass der Unterschied zwischen der geistigen Führung von Lehrmeistern wie Ajahn Amaro und dem, was psychologische Fachleute in Achtsamkeitskursen durchführen, nicht besonders groß ist. Die verschiedene Wortwahl hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Übung in einem Kloster oder in einer Klinik stattfindet. Wie viele andere buddhistische Lehrmeister sieht sich Ajahn Amaro sowohl als Berater für mentale Gesundheit wie als spiritueller Ratgeber. Jeden Tag konfrontieren ihn Menschen mit ihren Ängsten, Problemen und Blockaden. Er hört ihnen zu und versucht ihnen einen Rat zu geben, wie sie damit umgehen oder einen Ausweg finden können. Bei näherer Betrachtung geschieht in einer Achtsamkeitstherapie in etwa dasselbe.

Wichtiger als die Frage, ob profan oder spirituell, sind die klinischen Befunde im Hinblick auf die effektive Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen. Wenn sich ein neues Forschungsfeld auftut, stößt man bei den Behandlern oft auf große Begeisterung – und geringe methodische Sorgfalt. Hat man die Wohltaten gesteigerter Achtsamkeit eventuell überbewertet oder übertrieben? Es wäre ja keineswegs das erste Mal, dass eine neue Behandlungsmethode in den Medien auf große Resonanz stößt und von ihren Pionieren werbewirksam aufgebauscht wird. Im Jahr 2004 hatte ich für New Scientist einen längeren Artikel über eine ganz neue Klasse von Antidepressiva verfasst.11 Der Slogan lautete, mit ihrer Hilfe gehe es einem »besser als gut«, bei geringen Nebenwirkungen. Zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Artikel schrieb, hatte sich das optimistische Bild bereits etwas eingetrübt, und schließlich folgten Studien, die eindeutig belegten, dass die Medikamente bestenfalls bei leichten und mittleren Depressionen anschlugen und oft auch gar nichts bewirkten.12 13 14

Erfüllen die Achtsamkeitsübungen bei breiter klinischer Anwendung die vielen Versprechungen und Hoffnungen, die in sie gesetzt werden? Oder endet ihre Popularität wie so mancher andere Hype? Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Achtsamkeit waren nicht ohne Schwächen und Fehler – wie bei anderen neuen Behandlungsmethoden auch, aber die aktuellen Studien werden inzwischen sorgfältiger und strenger durchgeführt. Darüber hinaus wurden schon mehrere Überblicksanalysen publiziert, welche die Ergebnisse vieler Einzelstudien auswerten, an denen insgesamt Tausende von Menschen beteiligt waren. Die klinischen Forschungen über die Behandlungs- und Erfolgsaussichten von Achtsamkeitstherapien bei Schlaflosigkeit, posttraumatischer Belastungsstörung, manisch-depressiven Störungen, Psychosen und vielen anderen Befunden stehen erst am Anfang; aber mittlerweile gibt es nachweisbare, zufriedenstellende Ergebnisse bei Angststörungen, chronischen Schmerzen und Drogenabhängigkeit. Ob sich mithilfe von Achtsamkeitsübungen auch die kognitiven Fähigkeiten des Gehirns verbessern lassen, wie etwa eine höhere Gedächtnisleistung oder eine Steigerung des Intelligenzquotienten, ist mangels ausgiebiger, wirklich qualifizierter Untersuchungen bis dato nicht erwiesen. Die Untersuchungsergebnisse zur gesteigerten Aufmerksamkeit und einer besseren Regulierung von Gefühlen sind allerdings valide.

Anders als beim Schlucken einer Pille kann Achtsamkeitstherapie keine Schnellwirkung herbeiführen. Wer eine nachhaltig positive Wirkung erzielen will, muss mehr tun als hin und wieder einen Meditationskurs zu besuchen. Achtsamkeit ist eher eine Haltung, eine Daseinsweise, die in jedem Augenblick gelebt werden will, und weniger ein in sich abgeschlossener Selbstzweck. Für Buddhisten ist Achtsamkeit nur ein – wenn auch unentbehrliches – Element auf einem viel umfassenderen Weg zur Erfahrung von Glück und Zufriedenheit. So glauben Buddhisten, dass es spirituelle Erleuchtung ohne Mitleid und Empathie nicht geben kann und auch nicht ohne ethisch einwandfreies Verhalten. Ein weiteres Anliegen, warum ich dieses Buch geschrieben habe, ist der Wunsch, buddhistische Kernsätze einem breiteren Publikum vertraut zu machen und gleichzeitig genauer zu untersuchen, wieweit sie wissenschaftlichen Methoden standhalten.

Wenn mithilfe von Achtsamkeit all das erreicht werden kann, was behauptet wird, dann stellt sich die Frage, was mit dem menschlichen Gehirn im Lauf der Evolution schiefgelaufen ist, dass es heute durch Meditation korrigiert werden muss. Interessanterweise hat keiner der Menschen, die ich für die Recherchen zu diesem Buch getroffen habe, diese Frage jemals gestellt. Daher möchte ich die vorhandenen Erkenntnisse aus Anthropologie, Hirnforschung und Genetik nutzen, um eine Antwort zu finden. Das Nachdenken über die evolutionäre Entwicklung mentaler und psychologischer Eigenheiten wird oft von vornherein als zu spekulativ abgelehnt, weil sich darüber kaum wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen lassen. Aber der menschliche Geist ist nun einmal genauso das Ergebnis einer langen evolutionären Entwicklung wie das Auge oder die Niere. Deshalb ist es keineswegs abwegig, alle zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Wege zu gehen, um zu verstehen, wie der Mensch zu seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten gekommen ist. Wenn wir dann auch noch möglichst genau nachvollziehen können, auf welche Weise diese Fehlfunktionen durch Meditation ausgeglichen oder korrigiert werden können, hätten wir auch eine wissenschaftliche Erklärung für das, was man Erleuchtung nennt.

Im Buddhismus wurden die Instrumente zur Verbesserung des psychologischen Wohlergehens bereits um 500 v. Chr. entwickelt, während Hirnforscher und Psychologen erst vor kurzem begonnen haben, die wissenschaftliche Dimension zu beleuchten. Bisher wurde keine einzige Langzeitstudie publiziert, die über Monate, Jahre und Jahrzehnte hinweg die Veränderungen und Fortschritte von Menschen registriert ab dem Zeitpunkt, als sie angefangen haben, regelmäßig zu meditieren. Man stelle sich vor, wir verfügten über genaue Aufzeichnungen zu Veränderungen im Gehirn eines jungen Erwachsenen, der sich von einem völligen Meditations-Neuling zu einem geübten und erfahrenen Meditierenden entwickelt, womöglich sogar bis zu einem Stadium von »Erleuchtung« viele Jahre später. Welche Erkenntnisse könnten wir daraus gewinnen, um den menschlichen Geist auf optimales geistiges Wohlergehen einzustellen?

Auf Grundlage der modernen Wissenschaft unternehmen wir in den nächsten Kapiteln zunächst eine Zeitreise in die Vergangenheit, um uns mit der Transformation zu befassen, die vor etwa 2500 Jahren im Gehirn eines damals 29-jährigen, ganz gewöhnlichen jungen Mannes stattgefunden hat, der Siddhartha Gautama hieß. Die Hirnforschung auf Buddhas Spuren wird die Schlüsselmomente seines Lebens rekonstruieren, soweit sie sich aus den legendenhaften Erzählungen in den buddhistischen Schriften erschließen lassen.

»Irgendwie sind wir alle verrückt«, sagte der Abt des Klosters Amaravati und lächelte dazu. Das war eine unerwartete Begrüßung, aber ich verstand genau, was er meinte. »Deshalb sind wir hier«, antwortete ich ihm damals.

Im Paradies des Narren

Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet:
Kommt aus getrübtem Geist dein Wort und dein Betragen.
So folgt dir Unheil wie dem Zugtier folgt der Wagen.

Dhammapada

M‌an stelle sich einen üppigen Gartenhain an einem ruhigen, warmen Frühlingsabend vor. Das unablässige Sirren der Zikaden und das Plätschern eines Flusses, der sich durch die licht bewaldete Landschaft windet, sind die einzigen Geräusche weit und breit. Inmitten dieses Hains ragt eine ausladende alte Pappelfeige mit mächtigem Stamm und großen, herzförmigen, spitz auslaufenden grünen Blättern empor, der Bodhi-Baum. Fast unsichtbar in dem tiefen Schatten der untergehenden Sonne entdecken wir nahe dem Stamm einen in schmutzige Lumpen gekleideten schlanken Mann im Schneidersitz. Bei näherem Hinsehen bemerken wir seine tief eingesunkenen Augen und seine hohlen Wangen. Seine Gewandfetzen hängen lose um seinen knochigen Körper, aber er sitzt vollkommen aufrecht, genauso erdverbunden und unerschütterlich wie der uralte Baum.

Unsere Geschichte beginnt am sandigen Ufer des Neranjara, nahe des Dorfes Uruvela, dem heutigen Bodhgaya, in Nordostindien. In Griechenland sind die großen Denker der Antike gerade dabei, die Fundamente unseres abendländischen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens zu legen. Der ausgezehrte Inder, der in stoischer Ruhe unter dem Baum sitzt, ist Prinz Siddhartha Gautama, ein heimat- und obdachloser Mittdreißiger. Wenige Augenblicke vor unserer Ankunft hat er seine Abendmahlzeit beendet, in Kokosmilch gekochten Reis, und die letzten Körner aus der Schüssel gekratzt. Das war sein erstes ordentliches Essen seit sehr langer Zeit, und vielleicht ist er dadurch soeben dem Hungertod entronnen, was ein frühes und wenig glorreiches Ende bedeutet hätte. Später berichtet er über diese Zeit, dass nach Jahren äußerster Selbstkasteiung seine Haare auszufallen begannen und seine Arme und Beine aussahen »wie knotige Weinstöcke oder Bambusstämme. Weil ich so wenig gegessen habe, war mein Rücken gekrümmt wie der eines Kamels«. Seine Rippen stachen aus der Brust hervor »wie das Gebälk einer abgedeckten, alten Scheune«, seine Augen waren so tief in die Höhlen eingesunken »wie der Wasserspiegel am Grunde eines tiefen Brunnens«.1

Sein Vater Shuddhodana, der König in einem etwas abgelegenen Landstrich am Fuße des Himalayas war, wäre entsetzt gewesen, seinen Sohn in diesem Zustand zu sehen. Noch sechs Jahre zuvor hatte Prinz Siddhartha im Palast der adligen Familie in Kapilavastu, der Hauptstadt des Reiches, in großem Wohlstand gelebt. Seine Familie gehörte zur regierenden Kriegerkaste, den Kshatriya. Einer Legende zufolge sollen acht brahmanische Priester Siddhartha kurz nach seiner Geburt geweissagt haben, dass er entweder ein mächtiger Eroberer oder der Welt entsagen und in einem spirituellen Dasein als heiliger Mann seine Erfüllung finden würde. König Shuddhodana wollte nun mit allen Mitteln verhindern, dass sein Sohn die Heiligen-Laufbahn einschlug; er sollte ein Fürst werden. Als Siddhartha heranwuchs, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihm ein sorgenfreies Luxusleben zu bieten. »Ausschließlich für mich wurden Lotosteiche in unserem Palastgarten angelegt; in einem blühte nur blauer, in einem andern nur weißer und in einem dritten nur roter Lotos. Ich benutzte nur Sandelholz aus Benares. Mein Turban, mein Hemd, meine Unterwäsche, mein Umhang, alles war Tuch ausschließlich aus Benares. Ein weißer Sonnenschirm wurde Tag und Nacht über mich gehalten, sodass ich nie unter Kälte oder Hitze, Staub, Sand oder Tau zu leiden hatte.«2 Sein Vater wies die Palastwachen an, ihn strikt vom Anblick von Kranken, Alten und Toten fernzuhalten. Der König glaubte, seinen Sohn von einer geistlichen Laufbahn abzuhalten, wenn es gelänge, ihn vor allen Unannehmlichkeiten des Lebens zu bewahren. Damit bliebe ihm nur das weltliche Leben und eine große Zukunft als machtvoller Herrscher.

Alles verlief nach Plan, bis Siddhartha 29 Jahre alt war. Er war zu einem gutaussehenden, kräftigen jungen Mann geworden und hatte auf traditionelle Weise in einem Bogenschießwettbewerb die Hand einer schönen jungen Frau gewonnen. Diese hatte vor kurzem einen gesunden Jungen zur Welt gebracht. Doch trotz aller Bemühungen seines Vaters begegnete Siddhartha eines Tages den Tatsachen des Lebens. Bei der Ausfahrt in einer Kutsche durch den weitläufigen Park begegnete ihm ein gebrechlicher Greis. Siddhartha fragte den Kutscher, was mit dem Mann los sei. Der Kutscher antwortete: So ergeht es alle Menschen, je länger sie leben; ihr Körper und ihr Geist verfallen immer mehr. Kurze Zeit später kreuzte ein siecher Mann ihren Weg, und danach sahen sie noch einen Toten am Weg liegen. Schließlich war es doch unvermeidlich, diesem Anblick und diesem Schicksal zu entgehen. Auch der reichste und mächtigste Mann konnte gegen Krankheit, Alter und Tod nichts ausrichten. Siddhartha erkannte, dass früher oder später die schönsten und wunderbarsten Dinge des Lebens, die sinnlichen Freuden, vergehen würden. Nichts war perfekt, nichts war von Dauer. Alles, was er schätzte und liebte, würde sich verändern und war dem Untergang geweiht.

An diesem Tag fiel dem alten König auf, dass sich das Verhalten seines Sohnes veränderte. Er wirkte zerstreut und niedergeschlagen. Um ihn aufzuheitern, schickte er Tänzerinnen und Musikanten zu ihm. Später erinnerte sich Siddhartha, wie er lange nach der Vorführung mitten in der Nacht auf seinem Diwan erwachte; sämtliche Künstler um ihn herum waren eingeschlafen. »Den Musikanten waren ihre Instrumente entglitten, die Tänzerinnen waren erschöpft zu Boden gesunken. Nun boten sie nur noch einen erbärmlichen Anblick. Etlichen lief der Speichel aus dem Mund, einige knirschten mit den Zähnen, andere schnarchten, brabbelten im Schlaf vor sich hin, lagen mit offenem Mund da, bei vielen war die Kleidung verrutscht …«3 Siddhartha fand diesen Anblick abstoßend. Was wenige Stunden zuvor noch aufregend, schön und sinnlich erschien, war jetzt nur noch abscheulich. Das ist es also, was von den Freuden der Welt am Tagesende übrig bleibt, schloss er. Als er sich daraufhin in sein Schlafgemach zurückzog und seine schlafende Frau betrachtete, erlosch in ihm jedes Verlangen nach ihr, da er nur noch die alte Frau vor seinem geistigen Auge sehen konnte, die sie dereinst einmal sein würde. Auch beim Anblick seines neugeborenen Sohnes in der Wiege konnte Siddhartha nun nichts anderes mehr erkennen als die Falle des täglichen Lebens mit seinem endlosen Reigen aus Pflichten und Routinen, oberflächlichen Ablenkungen, Schmerzen, Enttäuschungen und Tod.

Angesichts dieser schlagartigen Verstimmung des Gemüts, man könnte auch sagen: depressive Krise, lautete die für Siddhartha naheliegende Lösung, sich seinem bisherigen Leben zu entziehen, die Bindungen an Heim und Familie zu lösen, allem zu entfliehen. Er suchte nach einem Weg, dem Kreislauf des Leidens zu entkommen. Am Morgen des gleichen Tages, als Siddhartha zum ersten Mal mit den Schrecken von Krankheit, Alter und Tod konfrontiert worden war, hatte er bei der Ausfahrt noch eine andere Entdeckung gemacht: Da saß ein Mann mit gekreuzten Beinen an einer Straßenecke, ganz heiter und gelassen, völlig unbekümmert angesichts des Lärms und des chaotischen Treibens um ihn herum. Sein Kutscher erklärte dem Prinzen, dass es sich um einen wandernden Asketen handele, einen der Wahrheitssucher, die normalerweise in den Wäldern leben und für Essen gelegentlich betteln gehen und auf die Barmherzigkeit der Menschen angewiesen sind. Auf Siddhartha wirkte er wie ein Omen, das ihm den Weg zeigte. »Und obwohl ich noch ein junger Mann mit dichtem schwarzem Haar und in der Blüte meiner Jugend war, rasierte ich mir sehr zum Unwillen und zum Kummer meiner weinenden Eltern Bart und Haare ab, legte die ockerfarbene Kutte an und tauschte mein Heim gegen Obdachlosigkeit und Heimatlosigkeit.«4 So begann Siddharthas Suche nach dem »unvergleichlich friedvollen Zustand« geistiger Erleuchtung.

Obwohl seither zweieinhalbtausend Jahre vergangen sind, können wir uns in die Not des verwöhnten jungen Siddhartha leicht hineinversetzen. So wie er wachsen heute viele Menschen in einem »Narrenparadies« auf: In den entwickelten Industrieländern gibt es Nahrung in Hülle und Fülle, jede Art von Unterhaltung, Abwechslung und Zerstreuung ist per Knopfdruck abrufbar oder leicht erreichbar. Dank moderner Medikamente und fortschrittlicher medizinischer Technik entsteht der Eindruck, Krankheit und Alter seien lösbare Probleme. Es ist noch nicht lange her, da gehörte die unmittelbare, persönliche Konfrontation mit dem Tod und die Erfahrung des häuslichen Sterbens gerade von Angehörigen auch zu unserem Alltag. Heutzutage können sich junge Menschen hingegen kaum noch vorstellen, dass sie eines Tages selbst sterben müssen. Wie Siddhartha werden sie erwachsen, ohne je einen Leichnam mit eigenen Augen gesehen zu haben. In Action-Filmen und in den Fernsehnachrichten wird der Tod regelrecht konsumiert, aber unser eigenes Sterben ist ein absolutes Tabuthema. Aus dem gleichen Grund sprechen wir nur ungern über lebensgefährdende Krankheiten wie Krebs. Auch wenn man sich den diversen Selbsttäuschungen nicht ewig hingeben kann, helfen sie uns zumindest, solange wir bei guter Gesundheit sind, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Tatsächlich? So einfach ist es leider nicht: In allen entwickelten Ländern profitieren die meisten Menschen spätestens seit den 1950er-Jahren von gehobenem Lebensstandard, wachsenden Sozial- und Gesundheitssystemen – trotzdem hat sich die gefühlte Zufriedenheit in den letzten fünf Jahrzehnten kaum verbessert. Wir stecken in dem, was Soziologen das »Glücksparadox« nennen.5

Machen wir etwas falsch? Forschungen haben ergeben, dass in entwickelten Ländern der ausschlaggebende Faktor für persönliches Glückserleben die mentale Gesundheit ist; sie rangiert noch vor körperlichem Wohlbefinden und regelmäßigem, sicherem Einkommen und Schutz vor Armut.6 Einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge leiden allerdings rund 450 Millionen Menschen an einem psychischen Problem oder an einer Verhaltensauffälligkeit, darunter 350 Millionen Erwachsene mit den Symptomen einer klinischen Depression. Damit zählen psychische Krankheiten zu den wichtigsten Gründen für alle Arten von gesundheitlichen Problemen überhaupt. Weltweit begehen annähernd eine Million Menschen pro Jahr Selbstmord.7 Selbst in den wohlhabendsten Ländern registriert man erstaunliche Zahlen, was psychische Krankheiten angeht. Einer Voraussage der WHO zufolge werden Depressionen bis 2030 das größte Krankheitsrisiko beziehungsweise das bedeutendste Gesundheitsproblem in den reichen Ländern sein.8 Die globalen Kosten durch den Ausfall wirtschaftlicher Produktivität aufgrund von psychischen Störungen und Krankheiten sollen sich in den nächsten zwanzig Jahren auf 16 Billionen Dollar belaufen.9

Im Jahr 2015 nahm ich an einer Konferenz zur »Globalen Krise Depression« in London teil. Der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan eröffnete die Beratungen mit einer Rede, in der er unter anderem sagte: »Wir wollen ganz ehrlich sein – bisweilen kommt es vor, dass bei einer Konferenz der Titel etwas überdramatisch formuliert wird, weil man versucht, die Aufmerksamkeit auf ein etwas vernachlässigtes Thema zu lenken. Das ist hier mit Sicherheit nicht der Fall. Es ist keine Übertreibung, im Hinblick auf Depressionen von einer globalen Krise zu sprechen.« Im Kapitel »Die goldenen Pantoffeln« werde ich darlegen, welche Rolle eine von buddhistischen Meditationsübungen inspirierte Psychotherapie, die unter der Bezeichnung Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness Based Cognitive Therapy – MBCT) bekannt wurde, bei dem Versuch, die globale Krise Depression in den Griff zu bekommen, inzwischen spielt.

Wohlstand schützt nicht zwangsläufig vor dem Unglücklichsein, aber es ist natürlich besser, reich und gesund zu sein als arm und krank. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Problemen. Die Legende von Siddharthas Jugend und jungem Erwachsenenalter funktioniert wie ein Gedankenexperiment, das sich seine frühen Anhänger ausgedacht und von einer Generation an die nächste weitergegeben haben: Nimm an, ein Mensch hat alles, was er sich wünschen kann – Gesundheit, mehr als ausreichend zu essen, Wohlstand und Komfort, materielle Sicherheit, hohes soziales Ansehen, Teilhabe an allen Freuden und Genüssen des Lebens … Reicht das aus, um ihn dauerhaft glücklich zu machen? Die buddhistische Schlussfolgerung lautet: Nein. Die menschliche Psyche ist von Natur aus so unzulänglich und anfällig, dass eine dauerhafte Befriedigung selbst unter bestmöglichen äußeren Bedingungen nicht erreicht werden kann.

Aber an welcher Stelle ist die Evolution bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns falsch abgebogen? Man tappt nur allzu leicht in eine Denkfalle, wenn man einer eher mechanistischen Vorstellung von Evolution anhängt, die sich die Vorgänge analog zu einer ständigen technischen Verbesserung vorstellt, als sei die Hirn-Evolution so etwas wie die Weiterentwicklung vom ersten Automobil (= primitiver Menschenaffe) zum PS-starken Formel-Eins-Rennwagen (= moderner Homo sapiens). In Wirklichkeit verlaufen Evolutionsprozesse in der Natur ungerichtet und führen nicht unbedingt zur Perfektion. Immerhin hat sich unsere Art erfolgreich behauptet und über die ganze Welt verbreitet wie keine andere, dennoch gab es auf dem Weg dorthin jede Menge Pannen und Unfälle. So hat sich etwa das Immunsystem der Wirbeltiere zur Abwehr von krankheitserregenden Keimen über Milliarden von Jahren entwickelt, was es nicht davon abhält, sich in Form von Autoimmunkrankheiten wie rheumatischer Arthritis, multipler Sklerose oder Typ-1-Diabetes gegen das eigene Gewebe zu richten. Oder ein anderes Beispiel: Zellen reproduzieren sich, um neues Gewebe zu bilden oder Wunden wieder zuzuheilen, während eine unkontrollierte Zellteilung zu Krebs führt.

Die natürliche Selektion ist also eher eine Aneinanderreihung ungelenker Versuche und Kompromisse. Unterm Strich führen Anpassungsleistungen zu einem gewissen Nutzen, sie sind in der Regel aber auch mit Nachteilen verbunden. Genauso verhält es sich mit der Evolution des menschlichen Gehirns. Selbstverständlich besteht kein Zweifel daran, dass unser Gehirn, um es mit den Worten von Isaac Asimov auszudrücken,10 »die bestorganisierte Materie des bekannten Universums« ist, ein Wunder der natürlichen Selektion inklusive Befähigung zu Sprache und kreativem Denken, um nur zwei bedeutende Anpassungsleistungen zu nennen. Die statistischen Daten über Geisteskrankheiten zeigen aber auch, dass es nicht gut genug konstruiert ist, um zuverlässig psychische Stabilität und anhaltendes Glücksgefühl zu garantieren. In der Natur werden durch Selektionsmechanismen normalerweise diejenigen Gene ausgelesen, die in der jeweiligen Population die Fähigkeit der Individuen zu überleben und sich zu reproduzieren beeinträchtigen. Auf den ersten Blick verstoßen gängige psychische Störungen wie Suchtkrankheiten, Angstneurosen oder Depressionen gegen dieses universelle Gesetz. Denn obwohl eine Anfälligkeit für solche Krankheiten häufig in den Genen nachweisbar ist, hat die Evolution des Menschen nicht verhindert, dass sie überall auf der Welt weit verbreitet sind.11 Daraus lässt sich schließen, dass gerade jene Gene, die Menschen anfällig machen für psychische Krankheiten, auch für das Überleben der Spezies Mensch eine wichtige Rolle spielten. Im Endeffekt haben sie wohl individuelle Nachteile, aber generelle Vorteile gebracht.

Wie diese komplexe Balance im Einzelnen gestaltet ist, muss noch besser erforscht werden. Schon heute gibt es aber genügend einleuchtende Beispiele für die beiden Seiten der Medaille im Hinblick auf das zentrale Nervensystem. Durch unsere genetische Ausstattung fest eingebaut sind so elementare Antriebe wie Hunger, Durst oder der Sexualtrieb, die alle unerlässlich sind für das Überleben und die Weitergabe der Gene. Das Belohnungssystem des Gehirns stellt durch Neurotransmitter sicher, dass wir unseren Körper mit Kraftstoff versorgen und den Reproduktionsakt durchführen können: Es gibt uns den Kick der Befriedigung, wenn wir diese Aufgaben zufriedenstellend gelöst haben. Den gleichen Kick gibt uns das System aber auch, wenn wir einen Riesenbecher Schokoladeneis löffeln oder uns hemmungslos betrinken. Darüber hinaus sorgt das Belohnungssystem nicht nur dafür, dass wir bald wieder einen solchen Befriedigungskick erleben möchten, sondern es erlahmt auch mit jeder Wiederholung, sodass es naheliegt, die Dosis der jeweiligen Aktivität, Nahrung oder Droge zu erhöhen, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Möglicherweise hat Siddharthas Vater gerade dadurch, dass er seinen Sohn übermäßig verwöhnte, unwillentlich jenes Schicksal heraufbeschworen, das er eigentlich vermeiden wollte. Wo alles im Überfluss vorhanden ist, verkehren sich die Triebe und Antriebe, die in einer kargen Umwelt unser Überleben sichern, zu zielloser Gier und maßloser Völlerei, bis sie umschlagen in Übersättigung und Enttäuschung. Dieses ist Thema des Kapitels »Die Feueranbeter«, in dem es um Suchtverhalten und vielversprechende Therapieansätze geht, bei denen versucht wird, mittels Meditation Rauchern zu helfen, vom Tabak loszukommen, und ehemalige Drogenabhängige vor einem Rückfall zu bewahren.

Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen von heute und dem evolutionären Überlebensvorteil ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion – jene ins Zentralnervensystem einprogrammierte Abfolge von blitzschnellen körperlichen Veränderungen, die den Körper bei akuter Bedrohung in die Lage versetzen, um sein Leben zu kämpfen oder zu fliehen. In längst vergangenen Zeiten mag dies nützlich gewesen sein; es machte damals den Unterschied zwischen Leben und Tod aus, wenn ein Mensch von einem großen Beutegreifer angefallen wurde, der Appetit auf Menschenfleisch hatte. Ein Alarmsignal wie ein plötzliches lautes Geräusch oder ein Rempler in einer überfüllten U-Bahn löst im Körper noch heute die gleiche Kaskade aus. Zwar reagieren wir selten mit Gewalt oder Rückzug darauf, es bleibt aber bedenklich, dass wir ständig solchen Reizen ausgesetzt sind, welche die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auslösen. Dem modernen Menschen verursacht sie chronischen Stress, und der ist auf Dauer schädlich, sowohl in geistiger als auch in körperlicher Hinsicht.12,13