Meditation

Look into the body.

Inside the body is space.

The space inside the body is vast, unlimited.

Look into the vast, unlimited space inside the body and smile into the space.

~ ~ ~

In the space inside the body there is silence.

The silence in the space is vast, unlimited.

Look into the silence in the space inside the body

and smile into the silence.

(Sri S. Rajagopalan)

Meiner Familie

Vorwort

Dies ist ein außergewöhnliches Buch. Es bringt das vage Konstrukt des Geschichtenerzählens in einen systematischen Kontext, indem es einerseits die Themenwahl an dem Modell der psychodynamischen Grundkonflikte orientiert und andererseits der Dramaturgie einer therapeutischen Geschichte die von Joseph Campbell beschriebene universelle Erzählstruktur der Heldenreise zugrunde legt. Diese Gestaltungsform findet sich in den Mythen aller Zeiten, aber auch in guten Geschichten, Drehbüchern von Filmen und ähnlichen literarischen Schöpfungen. Die Struktur der Heldenreise zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur eine Geschichte interessant macht, sondern den Zuhörer mit seinen Schattenseiten und Ängsten in Kontakt bringt und diese heilsam transformieren kann.

So wird die anthropologisch begründete Wirkmächtigkeit der Mythen für das therapeutische Narrativ genutzt. Zugleich ergeben sich aus der Anwendung der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD) mit den sieben elementaren Konflikten menschlichen Erlebens vielfältige Anhaltspunkte für die inhaltliche Gestaltung. Es entsteht für Metaphern, die in der Psychotherapie und in verwandten Verfahren weit verbreitet sind, erstmals ein Rational, das aufgespannt zwischen inhaltlichen Kristallisationspunkten und dramaturgischer Struktur die Intervention des Erzählens in einer bestimmten Weise transparent und fassbar macht. Das ist etwas, was bisher in wissenschaftlich begründbarer Form nicht vorlag. Zugleich wird ein pragmatisches Metamodell für die Konstruktion von Geschichten verfügbar, das für viele Therapeuten von Interesse ist, weil sie damit ein Instrument an der Hand haben, das sie systematisch und individuell für Geschichten nutzen können, mit denen Veränderungsprozesse in ihren Patienten und Klienten angestoßen werden.

Im vorliegenden Buch wird auch beschrieben, wie bereits ein neurobiologischer Hintergrund für die Wirkung von Geschichten in Konturen sichtbar wird. Welche Rolle die Mechanismen der visuellen, auditiven und der Körperwahrnehmung und bekannte Prozesse der neuronalen Verknüpfung beim Geschichtenerzählen spielen könnten. Es wird verdeutlicht, warum eine therapeutische Geschichte mehr ist als gesprochener Text, der registriert oder auch wieder vergessen wird. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass erzählte Bilder, Symbole und Szenen negative wie positive subjektive Wahrnehmungserfahrungen auslösen und geschickt suggerierte Metamorphosen wie erlebte Veränderungen abgespeichert werden, die sich auf das Befinden des Zuhörers nachhaltig auswirken.

Die Heldenreise wird so zu einer erzählerischen Grundform für derartige Transformationen. Das Gestaltungsprinzip der Heldenreise ist aber nicht nur für die Konstruktion von Metaphern hilfreich, sondern generell als die Dramaturgie einer Therapie in ihrem zeitlichen Ablauf, um sie in einen sinnhaften Rahmen einzubetten.

Prof. Dr. Dirk Revenstorf

Universität Tübingen

MH Erickson Akademie

Gartenstr. 18

72074 Tübingen

Einleitung

Ein „Sachbuch“ über Fantasiereisen zu schreiben, das klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Ein Widerspruch, der sich jedoch aufzulösen lohnt! Und ich bin neugierig darauf, mit Ihnen zusammen diese „Versachlichung“, die Erklärung der dramatischen Struktur solcher Reisen und ihren therapeutischen Effekt, genauer unter die Lupe zu nehmen. Durch das Verstehen der „Struktur der Magie“ sollen Sie sich zudem selbst ein Rüstzeug zulegen können, um eigene Fantasiereisen zu entwerfen und diese an die Bedürfnisse Ihrer Klienten anzupassen.

Als ich vor vier Jahren damit begann, Fantasiereisen zu schreiben, machte ich die Erfahrung, dass alles, was mir aus dem großen Fundus der Psychotherapie zur Verfügung stand, in Fantasiereisen transformiert werden konnte, und zwar zum großen Nutzen meiner Klienten. Von der Psychoanalyse über die Verhaltenstherapie, den manualisierten Verfahren der Dialektisch-Behavioralen Therapie, den kognitiven Verfahren und natürlich auch den nonverbalen Therapieelementen wie Atemübungen, Progressiver Muskelentspannung, Autogenem Training, Yoga, Meditation und sogar Feldenkrais und Kunsttherapie, von der Achtsamkeit, der Zentrierung, der Exposition – mental oder sensorisch –, der Schema- und der Gestalttherapie, dem modernen Intersubjektivismus: Alles konnte in einer Geschichte verpackt und dem Unbewussten zugänglich gemacht werden.

Beim Verfassen meiner Texte habe ich mich an Joseph Campbells Heldenzyklus orientiert, einer metaphorische Reise in das Innere des Menschen. Die Dramaturgie der Geschichten1 beinhaltet demnach eine universelle Erzählstruktur, auf die ich in den Kapiteln 1 und 2 genauer eingehen werde. Die sogenannte Heldenreise dient mir also als zentrale strukturelle Vorlage. Aufgrund meiner Tätigkeit als Drehbuchberater für TV-Serien war mir diese Struktur aus dem Bereich Film und Fernsehen vertraut. Ich wusste um ihre Wirksamkeit. Die Reise des Helden funktioniert, auch – oder gerade – wenn es sich um „Kopfkino“ handelt.

Analogien zu Campbells Heldenreise finde ich auch ständig in meiner Arbeit als analytisch-tiefenpsychologischer Therapeut. Metaphorisch ausgedrückt könnte man also sagen: Der Klient selbst wird im Rahmen der Fantasiereisen zum Helden seiner eigenen Reise. Ich bin als Psychotherapeut der Schwellenhüter, das Orakel, der Herold, ja auch der Schatten, der auf der Seele des Klienten lastet. Vor der Transformation, also der Veränderung durch Verwandlung, stehen die Krise und die Offenbarung und zuvor, ganz zu Beginn, sind der Widerstand und die Negierung, die Verweigerung, typische Stationen – in der Heldenreise ebenso wie in der Psychotherapie. Am Ende der Reise warten Einsicht und Lösung, wird durch das Loslassen aktueller Verhaltensweisen die Heilung durch Wiedergutmachung und Einsicht in den Konflikt erreicht. Die Rückkehr in die „normale Welt“ des Alltags als das Ziel dieser Reise besteht in dem Wiederherstellen der Funktionalität des Klienten. Und mehr noch: Der Klient soll wachsen und Herrscher über die Welt des Bewusstseins (die bekannte Welt) und des Unterbewusstseins (die unbekannte Welt) sein, das Bekannte mit dem Unbekannten verbinden und neue, gute, starke, positive Fertigkeiten in sich entdecken und anwenden können – um sich so für das Leben zu befreien. So weit die Parallelen zu Joseph Campbells Heldenzyklus.

Von großer heilender Bedeutung sind die stützenden, haltenden Elemente der Fantasiereisen. In der positiven Suggestion etwa, einem Bestandteil der Hypnotherapie, kann – von der positiven Beschreibung bis zu sinnlich spürbaren Elementen – alles erlaubt sein, was Wärme, Ruhe, Wohlgefühl, Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Ergänzt durch eine angenehme, haltende Stimme des Vortragenden oder durch Klangelemente wird das ganz basale Bedürfnis, gut gehalten zu werden (Containing, Bion 1962), erfüllt.

Was bisher an Entspannungstexten und Fantasiereisen geschrieben wurde, hat diese Elemente meiner Ansicht nach noch nicht ausgereizt. Da sind beispielsweise „Der Fels in der Brandung“ (von Autorin Luise Reddemann) oder die Metapher des Baumes, der mit seinen Wurzeln fest und tief im Erdreich steht, zu erwähnen. Auch die ritualisierten und recht kurzen, die Schwellenerfahrung betreffenden Fantasiereisen von Paul Rebillot, die als Teil seines therapeutischen Gruppenerlebnisses in dem Buch Die Heldenreise – Das Abenteuer der kreativen Selbsterfahrung (2011) zu finden sind, sind hier zu nennen. Mir waren diese Bilder stark genug, aber noch nicht auserzählt. Zu kurz wird die innere Welt der eigenen Vorstellungskraft gestreift. In meinen Texten versuche ich also, den Klienten seine eigene Kraft länger spüren zu lassen. Er soll die Möglichkeit erhalten, Fähigkeiten in der Vorstellung zu erleben, die er in der Realität vielleicht bisher nicht hatte oder deren Entwicklung ihm nicht so einfach gelingen will. Denn das Narrativ der Fantasiereise ist eine große positive Suggestion, die dabei hilft, sich von starren inneren Bildern zu befreien.

Mein Ansatz geht aber noch weiter: Weg vom Archetypus (Jung, Campbell, Rebillot) hin zum psychischen (neurotischen) Konflikt, dem persönlichsten aller „Monster“. Mit der psychodynamischen Operationalisierung (OPD-2, 2006) wurden die sieben Grundkonflikte der Psyche erstmals systematisch aufgeführt. Wie ich in Kapitel 2 zeigen werde, handelt es sich bei diesen Grundkonflikten um psychologische Gegensatzpaare (Perls, Hefferline & Goodman 1951), die eine dramaturgisch erzählbare Einheit der Gegensätze (Egri 1946) bilden. Diese Gegensätze sind durch das emotionale Erforschen in einer Fantasiereise erfahrbar.

Fantasiereisen erzählen die Geschichte des Klienten zu Ende, indem sie metaphorisch die realen Konflikte auflösen. Die Berührung und Neutralisierung der eigenen Konflikte wird zur ganz persönlichen, heilsamen Erfahrung.

Zudem gesellen sich auch spirituelle Gedanken und psychologische Leitsätze dazu, etwa solche wie: „Wenn du es dir vorstellen kannst, dann kannst du es auch machen.“ Wie ein Gewürz, eingestreut in den Fluss der Erzählung. Nicht zu viel davon, sondern die Imagination abrundend.

Ziel dieses Buches

Ich möchte meinen Klienten gute und vor allem heilsame Geschichten erzählen. Geschichten, mit denen sie umgehen können, auf die sie sich einlassen, um neue Kraft zu tanken und ihre Ressourcen zu mobilisieren. Und mit diesem Buch soll eine Anleitung entstehen, mit der auch Sie solche Geschichten kreieren und effektiv einsetzen können.

Im Gegensatz zu einer medikamentösen Behandlung haben Fantasiereisen keine Nebenwirkungen im eigentlichen Sinne. Allerdings kann es beim Klienten durch bestimmte Formulierungen auch zu unerwünschten Konfrontationen mit negativen Erinnerungen kommen. So positiv und behutsam der Text auch gestaltet ist, es bleibt die Gefahr, dass früh oder schwer traumatisierte Menschen durch das Gehörte getriggert werden. Darauf werde ich in Kapitel 5 näher eingehen. Hier sei nur gesagt: Ich plädiere für etwas mehr Mut, auch wenn es zu solch einem unbeabsichtigten Triggern kommt, damit ein Heilungsvorgang induziert werden kann. Teils rührende Rückmeldungen von traumatisierten Klienten, die mit meinen Fantasiereisen „gearbeitet“ haben, sind ermutigend und bestätigen die heilsame Wirkung. Wenn der Text der jeweiligen Fantasiereise beispielsweise eingesprochen wurde, kann die kritische Passage immer wieder „neu“ gehört werden. Oder eine Pause kann durch das Stoppen der Aufnahme bewusst erfolgen – analog zum Stopp-Gedanken und zur graduellen Exposition an mentale Vorgänge und Erinnerungen. Vor allem aus der Traumatherapie kennen wir solche Vorgänge.

An dieser Stelle kann man zu Recht fragen, wie es mit der wissenschaftlich bestätigten Wirksamkeit von Fantasiereisen aussieht. Psychodynamische Verfahren im Allgemeinen sind nach wie vor schwer operationalisierbar, die Wirksamkeit von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie sind empirisch weiterhin schwerer fassbar als etwa die Verfahren aus der Verhaltenspsychologie (DBT, VT, CBASP, NET, CBT). Auch bei der Inszenierung der Konflikte als Fantasiereise und beim Nachvollziehen des Erlebens des Klienten könnte ein entsprechendes Tool zur Messung helfen, die persönlichen Hängepunkte des Klienten zu überwinden. Meine Erfahrung als Therapeut ist, dass das Ausbreiten des Konflikts in Form einer Fantasiereise den „Aha-Effekt“ beim Klienten eindringlicher und tiefer erfahrbar macht, was wiederum eine nachhaltigere Veränderung der persönlichen Realität nach sich zieht: Es erfolgt eine katalytische emotionale Reinigung, die Befreiung aus der neurotischen Fehlhaltung, die Würdigung der Verletzungen und eine Versöhnung mit sich selbst. Abwehrstrategien und Vermeidung werden aufgegeben und für mehr Freiheitsgrade ausgetauscht.

Aufbau des Buches

Zwei meiner Fantasiereisen sind vertont und im Downloadbereich zum Titel (Mediathek) unter http://www.junfermann.de abrufbar. Außerdem finden sie dort weitere Fantasiereisen in schriftlicher Form. Die entsprechenden Texte sind im Buch mit dem Icon maus markiert

Im methodischen Teil dieses Buches werde ich einerseits Texte vorstellen, die in verschiedenen Kontexten der Therapie eingesetzt werden können. Andererseits werde ich die Dramaturgie der Fantasiereisen näher beschreiben, damit Sie individuelle Texte nach Ihrem eigenen Bedarf gestalten können. Dieser kreative Prozess beginnt mit der Festlegung des Themas und der Prämisse, abhängig vom psychologischen Konflikt (z. B. bestimmt nach OPD-2), und der Festlegung auf ein paar typische Merkmale dieses Konfliktes. Dazu wird ein Bild entwickelt, eine Metapher, welche immer mehr Raum in der Suggestion einnimmt. In der Einleitung meiner Fantasiereisen finden sich viele Elemente zur Achtsamkeit und zur Entspannung, die mit körperbetonten Übungen zur Atmung und Entspannung direkt oder indirekt das Vegetativum / den N. Vagus stimulieren. Zum weiteren Verlauf biete ich schematisch einen Algorithmus für Fantasiereisen an, der je nach individuellem Bedarf mit Inhalten gefüllt werden kann (vgl. Kap. 8).

In diesem Buch werde ich Ihnen auch die genaue Wirkung der Fantasiereisen verdeutlichen. Beim Eintauchen in die Geschichten verschwimmen beim Klienten Vorstellungskraft und Realitätssinn in der sogenannten Primärwahrnehmung, ein eher unkritischer Zustand des Bewusstseins, in dem auch Widersprüchliches möglich ist. Sie ist aus der Hypnoseinduktion bekannt. Es muss letztendlich keine Trance sein, die hier erreicht wird, es kann dem aber sehr nahe kommen. So können, befreit von kritischer Selbstzensur und Bewusstseinskontrolle, ungewohnte und neue Handlungsanleitungen und Spielräume erprobt werden, was unterschiedliche positive Effekte auslöst. Das Erleben positiver Dinge, etwa das Wunder des Lebens und der Natur oder der Spiritualität, sind im Zentrum der Reise möglich und wichtig.

Es gibt immer wieder gute Beispiele heilender Geschichten. Gerade bei traumatisch erlebten, unbewusst oder nur vorsprachlich gespeicherten Erfahrungen. Aus der modernen Traumatherapie und den aktiven Interventionen durch die Arbeit mit Dissoziation gelingt es, emotional heilende Effekte zu erreichen, um den abgetrennten, schwer benennbaren, emotionalen Teil des Traumas zu integrieren (z. B. in „Das verfolgte Selbst“, van der Hart, Nijenhuis & Steele 2008). Dieser Effekt ist natürlich auch für nicht traumatisierte Klienten, die mit anderen Störungsbildern zu Ihnen kommen, nachvollziehbar.

Induziert werden diese mächtigen Effekte durch eine organische Struktur des Gehirns, der gut untersuchten Spiegelneurone in synchron aktivierten Arealen des Neokortex. Wenn es zu einzelnen Sinneswahrnehmungen kommt, ergänzt bzw. erlebt das Gehirn diese Wahrnehmungen und Informationen – selbst wenn es nur Sprache ist – als ein nahezu reales Phänomen, da dieselben Hirnbereiche aktiviert werden, die durch tatsächliches Erfahren (sensorisch) oder Tun (motorisch) aktiv sind. Hierzu sind fMRT-gestützte Daten sehr spannend. Die psychochemische Reaktion, ihr antidepressiver Effekt, ist derzeit Gegenstand einiger Forschungsprojekte und wird im Folgenden ebenfalls kurz erläutert.

Als Schauspieler Hans Sigl die von mir entworfenen Texte zum „Hörfreund“ (CD-Reihe, die eine Mischung moderner Verfahren zur Entspannung beinhaltet) einlas, sagte er mir hinterher fasziniert: „So etwas habe ich noch nie gelesen ...!“, und genau diese Reaktion hatte ich mir erhofft. Denn ich wollte authentisch sein, auch meinen eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen gegenüber. Beim Schreiben machte ich selbst korrigierende Erfahrungen. Wenn es für mich stimmig war – ich quasi eigene Spiegelneurone aktivierte, emotional und kognitiv –, dann stimmte auch der Text. Verblüfft war ich, dass es bei mir genauso wirkte, mich ebenso berührte wie meine Klienten. Und diese Erfahrung wünsche ich Ihnen und Ihren Klienten ebenfalls.

Ihr

Pablo Hagemeyer


1 Begriffe wie Story, Geschichte, Narrativ etc. verwende ich im Folgenden synonym. Sie beziehen sich immer auf Fantasiereisen.

5. Besondere Klientengruppen

„Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht.
Sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

– Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.)

Bevor wir uns im zweiten Buchteil der konkreten Gestaltung von Fantasiereisen widmen, möchte ich hier noch einmal auf Klientengruppen eingehen, die eine besonders vorsichtige Herangehensweise erfordern. In diesem Zusammenhang werde ich auch gezielt auf die Gefahr des Triggerns bei traumatisierten Menschen eingehen.

5.1 Die Gefahr, zu triggern

Da Fantasiereisen auf CD auch als eine Art „Do-it-yourself“-Psychotherapie genutzt werden, hat man als Autor der Texte und Therapeut nicht immer Einflussmöglichkeiten auf die unmittelbare Reaktion des Klienten. Das Risiko, dass sich die seelische Verfassung eines Menschen durch Fantasiereisen verschlechtert, ist realistisch, aber eher gering. Aus der Expositionsarbeit (Angst- und Traumatherapie) ist bekannt, dass eine Symptomverschlechterung kurzfristig eintritt und wieder vergeht. Im Anschluss kommt es meist zu positiven (reparativen, heilenden) Vorgängen. In der Expositionstherapie mit Traumaberichten (Narrative Exposition Therapy, NET, und Cognitive Processing Therapy, CPT) wird genau dieser Effekt genutzt und ebendieser Verlauf beschrieben (König et al. 2011). Mittel- bis langfristig kommt es zu positiven, integrativen und beruhigenden Effekten. Kurzfristige negative Effekte (Triggern von traumatisch erlebten Erfahrungen, Überflutung von mit dem Traumaerlebnis verbundenen Emotionen, Auslösen von Trauer) können also auch durch Fantasiereisen erfolgen. Retraumatisierung ist nicht auszuschließen und die einzige Wirkung, die auch als dramatische Nebenwirkung bezeichnet werden kann.

Prinzipiell gilt also: Ist sich ein Mensch eines erlittenen Traumas in seiner Biographie bewusst, sollten Fantasiereisen nur unter therapeutischer Anleitung und begleitet durch eine Fachperson genutzt werden, und zwar so lange, bis das traumatische Erlebnis ausreichend gut verarbeitet und ausreichend stabil integriert worden ist. Den Betroffenen darin zu stärken, hiermit umzugehen, ist die therapeutische Zielsetzung. Wenn das Arbeiten mit Fantasiereisen dieses Ziel unterstützt – wunderbar! Vielleicht kann der „sichere innere Ort“ durch eine Fantasiereise suggeriert werden. Die Anwendung der Fantasiereise in einer begleiteten Expositionstherapie (konfrontative Traumatherapie) bietet eine mögliche und gute Chance der Unterstützung. Von Vorteil ist hierbei, dass eine CD wiederholt genutzt werden kann (wiederholte Expositionsübung, Clustern) und die Steuerung über den Pausenknopf eine graduelle Konfrontation mit dem Stimulus ermöglicht. Dies suggeriert auch Kontrolle über den Stimulus. Damit liegt die Entscheidungsgewalt bei der betroffenen Person. Sie verlässt die Opferrolle, da die Macht, das Vorgehen zu kontrollieren, nun ganz bei ihr liegt. Ist dieser Prozess sicher und gut mit dem Therapeuten eingeübt, kann damit auch alleine geübt werden.

 FALLBEISPIEL

Erfahrene Emotionen bewusst werden lassen

Frau W., eine 55-jährige leitende Angestellte einer Supermarktkette, war durch berufliche Überforderung und Dauerstress in einen Burnout geraten. Sie entwickelte eine ausgeprägte Depression, fühlte sich leer und ausgebrannt. Nach einer tagesklinischen Rehabilitationsmaßnahme wurde sie in der psychiatrischen Institutsambulanz meine Klientin. Ich erstellte für sie den Therapieplan. Neben den wöchentlichen Einzelgesprächen sah ich auch die Teilnahme an Gesprächs- und Entspannungsgruppen vor. Seit ein paar Monaten boten wir in der Klinik alternative Heilmethoden an. Unter anderem wurden auch Fantasiereisen als eine Möglichkeit zur Entspannung vorgestellt. Während die Gruppe mit Akupunkturnadeln im Ohr ruhte, lief begleitend eine Fantasiereise im Hintergrund. Die Leitung der Gruppe übernahm eine ausgebildete Fachkraft, die selbst sehr viel Erfahrung mit Muskelentspannung nach Jacobson und Achtsamkeitsübungen hatte. Während ich Frau W. ärztlich begleitete, ihre Medikamente kontrollierte und ihre Fortschritte und Schwierigkeiten dokumentierte, erfuhr ich von der Gruppenleitung, dass Frau W. immer sehr ängstlich und angespannt in den Gruppen war. Merkwürdigerweise erlebte ich sie in den Einzelsessions nicht so. Ich erkundigte mich bei Frau W., ob die Gruppe für sie doch zu anstrengend sei. Sie verneinte. Es sei alles in Ordnung. Wenige Wochen später kam die Gruppenleitung auf mich zu und berichtete, Frau W. habe beim Hören einer Fantasiereise einen Panikanfall bekommen. Sie habe eine gute Stunde gebraucht, um Frau W. wieder zu beruhigen. Die Klientin selbst sagte, in ihr sei „alles wieder hochgekommen“: Bilder und Erinnerungen daran, wie ihre Mutter im Affekt den Vater mit einem Brotmesser niedergestochen hatte.

Die Fantasiereise, die sie in der Gruppe gehört hatte, war eine durch und durch positiv formulierte, die Hoffnung, Wachstum und Kreativität anspricht und suggeriert („Frühling“ aus der Hörfreund-Reihe). Es war Frau W. in der Vorbereitung zu dieser Übung nicht anzumerken gewesen, dass sie hierauf so heftig würde reagieren können. Traumatische Vorerfahrungen waren uns Ärzten nicht bekannt. Die biographische Anamnese hatte keine Traumatisierung ergeben. Durch die Fantasiereise war für Frau W. eine emotionale Nähe zu den verschütteten Erinnerungen entstanden, auf die sie so heftig reagiert hatte, dass sie selbst darüber überrascht war. In einer entscheidenden Stunde berichtete sie mir, was sie während der Fantasiereise erlebt hatte: Die innere Anspannung war während der Übung fortlaufend gestiegen. Im ersten Teilabschnitt, in dem es um Halt und Geborgenheit ging, waren die Emotionen bereits so stark, dass sie ständig damit befasst war, sich gegen das Spüren zu wehren. Hier erinnerte sie, von der psychisch kranken Mutter als Kind gefesselt worden zu sein. Da ja „alles in Ordnung“ war (und auch unbedingt sein musste), durften heftige Gefühle, die eben alles „aus der Ordnung“ gebracht hätten, nicht sein. Ihr ängstlicher Gedanke war: Würde sie nachgeben, hätte sie die Gefühle nicht mehr im Griff und das emotionale Chaos (das ihre Mutter als Kind in ihr angerichtet hatte) würde über sie einbrechen. Es war also nicht die Konfrontation mit den Themen, die in der Fantasiereise behandelt wurden (Oberbegriffe waren Frühling, ein schönes großes Haus, Garten), die sie derart getriggert hatte. Sich auf den Vorgang einzulassen hatte den Kontakt zu ihren überwältigenden Gefühlen, die mit den in der Kindheit gemachten Erfahrungen zusammenhingen, bewirkt.

Trotz ihrer heftigen Reaktion war Frau W. dankbar, durch die Fantasiereise „aufgerüttelt“ worden zu sein und nun erstmals über das Erlebte reden und ihre Gefühle benennen zu können. Es war also nicht „alles in Ordnung“, das war nun deutlich geworden. Die Übung hatte also den Effekt gehabt, den „schützenden Korken“ der Abwehr zu lösen oder den Kontakt mit ihren „alten“, aus Schutz abgespaltenen Emotionen traumatischer Erfahrungen bewusst werden zu lassen.

Annäherung an die „unbekannte Welt“

An dieser Stelle soll auch betont werden, dass eine intensive emotionale Reaktion beim Hören einer Fantasiereise nicht immer eine Retraumatisierung darstellt – im Sinne tiefer Verzweiflung und Handlungsunfähigkeit aufgrund des Zusammenbrechens der psychischen Abwehr und in Folge unkontrollierte, lebensechte Überschwemmung durch das erinnerte Trauma und die damit verknüpften überwältigenden Emotionen. Meistens rührt die Reaktion von einer intensiven emotionalen Berührung her, die mit starken Gefühlen von Ergriffenheit und Trauer verbunden ist. Dies wird zudem durch die aktive Abwehr des Betroffenen reguliert: Nur erträgliche Erinnerungen gelangen „portioniert“ in das Bewusstsein. Weinen oder andere Anzeichen von Trauerverhalten gehören zu diesem wichtigen Prozess dazu. Verdrängte oder unbewusst abgespaltene Erinnerungen (dissoziierte Erinnerung) werden greifbar. Diese Erfahrung ist weit davon entfernt, retraumatisierend zu sein. Im Gegenteil fördert es bewusst die Erinnerungsarbeit, also die Aufnahme (Integration) der traurigen Erinnerung in das Bewusstsein. Dabei kommt es zu sehr wichtigen heilenden Vorgängen: Schwierige Erinnerungen können von einem chaotisch organisierten Zustand in eine bewusste Ordnung übertragen werden. Das bedeutet, Erinnerungen werden „ordentlich aufgereiht“ und verstanden, anstatt in einer abgespaltenen, nicht organisierten Form ihr Unwesen zu treiben.

Zuvor finden dissoziierte traumatische Erinnerungen ihren Ausdruck in plötzlichen, ungesteuerten Einfällen (Flashbacks, Erfahrung, als wäre es erst gestern gewesen, Albträumen) und plötzlich veränderten Aufmerksamkeits-, Bewusstseins- und Wahrnehmungszuständen (Derealisation, Depersonalisation, Dissoziation).

Auf diese Weise wird die traumatische Erinnerung nur halb bewusst oder als erschreckend, chaotisch und fragmentiert erlebt. Ein geordnetes Herangehen wird vermieden bzw. erscheint und ist tatsächlich unmöglich. Der Ort der Erinnerung (sei er mental als Erinnerung, inneres Bild oder andere Sinneseindrücke repräsentiert oder real vorhanden als tatsächlich existierender Ort / existierende Person) wird von Betroffenen möglichst vermieden. Das hat zunächst eine gute Schutzfunktion (aktive Abwehr, dissoziierte Erfahrung), die lange Zeit (Jahre) bestehen kann.

Vermeidungsverhalten bewahrt jedoch nicht davor, Furchtverhalten oder Furchterleben (Fluchtimpulse, Unruhezustände, beschleunigte Erregung, aggressives Verhalten, Spannungszustände, Angst, Beunruhigung, Sorge) erfolgreich aufzulösen und abzubauen. Weitere Emotionen in Folge dissoziierter Traumatisierung können Unsicherheit, Zweifel und Vertrauensverlust sein. Sie können auch aggressiv-sadistischer Natur sein wie etwa Hass, Zorn und Zerstörungsimpulse, aber auch Gefühle von Schuld, Ausgeliefertsein, Ohnmacht und tiefer Verzweiflung bis zu Lebensmüdigkeit und Suizidalität.

Der Einsatz von Fantasiereisen kann die Bereitschaft, den Ort der Trauer und der Furcht aufzusuchen, beschleunigen und einleiten (Katalyse). Die Seele kann darin geübt werden, sich dem Schrecken zu nähern, und damit dem eigenen Selbst.

Abgespaltene Erinnerung ist das Fremde, das Ausgegrenzte in uns selbst. Analog zum Monomythos von Campbell entspricht die noch nicht mit dem Selbst verbundene Erfahrung der „unbekannten Welt“, der wir uns mit Trauer, mit Erwartung an Trost und mit Erwartung an Anerkennung nähern – mit dem Ziel, beide Teile des Selbst wieder zu vereinigen. Die dem Hauptbewusstseinsstrom des Selbst verloren gegangenen Bewusstseinsinhalte werden damit in Kontakt gebracht (Janet 1929). Ihre Integration kann durch die erfolgreiche Vermittlung zwischen Handlung, Gedanke, Gefühl und Wahrnehmung (Hantke 1999) auch in einer Fantasiereise gelingen.

Das innerpsychische Chaos dieser noch nicht integrierten Erfahrungen wird um Struktur (s. Abschn. 2.4) und um einen stabilen Attraktor (s. Abschn. 3.1) neu organisiert und dem Selbst-Bewusstsein zugeführt und möglicherweise erstmals auch realisiert. Sogar die generelle Fähigkeit zur Wahrnehmung, auch des Alltages, wird durch die Realisation der Verletzung, verbessert (van der Hart, Nijenhuis & Steele 2008, S. 185) und das Leugnen kann aufgegeben werden. Auf unserer sehr intimen Heldenreise gehen wir nun einen Weg, den wir aus Angst, innerer Abwehr und Vermeidungsverhalten nie zuvor gegangen wären. Bisher fehlten uns der Mut und das Wissen, den neuen, den unbekannten Weg zu gehen.

Manchmal sind die Auslösefaktoren für den eben beschriebenen Erinnerungsprozess ziemlich konkret in der Fantasiereise enthalten, wenn auch vom Urheber des Textes völlig unbeabsichtigt, etwa dann, wenn dem Klienten durch „gut gemeinte“ Stellvertreterszenarien (Meer, Strand u.s.w.) traurige oder traumatische Erinnerungen bewusst(er) werden. So schrieb eine Klientin:

„Ich habe vor genau drei Jahren meinen überaus geliebten Mann verloren. Ich finde dadurch die Ruhe nicht mehr und stehe immer unter Spannung. Ich habe es bis heute nicht verarbeitet. Ich habe bis dahin noch nie solche Meditationsübungen gemacht. Zuerst hörte ich mir „Wellenreiten“ (Anm.: therapeutische Fantasiereise am Strand) an, da wir viel Zeit am Meer verbracht haben. Der Text passt wunderbar zu mir, aber es war extrem schwierig, die CD bis zum Ende zu hören. Die Tränen liefen in Bächen. „Die Fahrt der Sinne“ und „Farbenreise“ (Anm.: Fantasiereise durch Afrika und in einem Gemälde) gingen dann besser. Ich hoffe nun, dass mir diese Meditation hilft, den Tod meines Mannes zu verarbeiten.“

An dieser Stelle plädiere ich für mehr Mut in der Arbeit mit dissoziierten Anteilen des Selbst (der schmerzlichen und auch der schönen, berührenden Erinnerungen, der blockierten Gefühle, der Verletzungen): Respekt ist angebracht, aber keine Angst davor. Es geht um Transformation, um eine tatsächliche Veränderung, damit Klarheit und Erleichterung eintreten und Ressourcen gestärkt werden. Damit die Blockade zu uns selbst aufgelöst wird. Denn gerade in der (angedeuteten) Konfrontation mit dem Schattenthema wachsen die eigenen Fähigkeiten (Selbstwert, Vertrauen, Mut, Kraft, Macht, Liebe, Glaube etc.) durch die positive Bewältigungserfahrung. Wir erweitern damit buchstäblich unser Selbst-Bewusstsein. Diese internen Ressourcen sind eine natürliche, dynamische Gegenbewegung zum Schattenthema. An Hindernissen erwachen in uns angelegte Kräfte (gestalttherapeutischer Ansatz; Perls, Hefferline & Goodman 1951). Hinweise und Möglichkeiten zur erfolgreichen Bewältigung des Schattenthemas liefert die Fantasiereise selbst. Sie ist gewissermaßen der positive Gegenspieler zum Schatten: Geschichten sind wie mathematische Gleichungen (Izquierdo 2015, persönliche Mitteilung). Auf beiden Seiten der Gleichung muss die gleiche Energie, die gleiche Kraft sein. Dem Schattenthema muss die Ressource gegenüberstehen. So kommt es zum Ausgleich und zur Neutralisation. Aus einer Ungleichung wird eine stabile Gleichung. Aus den Gegensätzen wird eine Einheit. Diese Einheit der Gegensätze ist für das Funktionieren einer Story sehr wichtig (Egri 1946). So auch für das Erlebnis einer Fantasiereise und auch für den Heilungsvorgang. Die beiden konträren Pole des psychischen Konfliktes werden für immer miteinander verbunden (Fusion, Fusionserfahrung). Der Attraktor der depressiv-stabilen Zone wechselt sprunghaft durch eine gezielte Berührung, durch das Antippen seines Tipping-Points, in einen anderen, leichteren Zustand der Einsicht und Klarheit. Alles verändert sich.

Bildsprachlich könnte dies zum Beispiel durch das gemeinsame Durchfliegen eines „magischen, grünen Vorhangs, der bisher die Sicht verbarg“ umgesetzt werden. Durch das Hindurchfliegen nähern wir uns dem Unbekannten, verändern uns, befreien wir uns (Transformation). Dahinter sehen wir das Unbekannte. Und erkennen, es ist uns bereits vertraut, wir haben nur nie richtig hingesehen.

 FALLBEISPIEL

Abgespaltene Anteile integrieren

Frau K., eine 43 Jahre alte Klientin, war wegen einer schweren depressiven Episode bei mir in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Im Verlauf der Therapie kam es wiederholt zu nervlichen Zusammenbrüchen, in denen sie sehr angespannt, ängstlich und erregt dissoziierte. Wir gingen zunächst die offenkundigen Bereiche durch, befassten uns mit ihren Schwierigkeiten in der Arbeit, dann folgten die Schwierigkeiten mit dem Ehemann, der sich wenig verständnisvoll zeigte und wohl selbst mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte. Durch die biographische Anamnese kamen zwei traumatische Erinnerungen empor. Sie erinnerte, wie sie als neunjähriges Kind auf ihren vierjährigen Bruder aufpassen musste. Unter ihrer Aufsicht kam es fast zur Katastrophe, als der Bruder im Freibad beinahe ertrank und sie dafür von den Eltern verantwortlich gemacht wurde. Pikant dabei war, dass die Eltern am Rand des Schwimmbeckens schliefen und ihre Aufsichtspflicht vernachlässigten. In weiterer Folge kamen wir näher an ihre Wahrnehmungswelt, ihre dauerhafte emotionale Überforderung: eine Mutter, die immer schrie, ein Vater, der von ihr „wissen wollte, ob sie ihn lieb habe“. (Den sexuellen Missbrauch durch den Vater als zweite traumatische Erfahrung konnte sie erst später explizit ansprechen.)

Ich arbeitete unter anderem mit visuellen Elementen, die die Klientin wiederum in der Kunsttherapie aufgreifen konnte. Eines Tages kam sie mit einem Bild von sich in die Stunde. Das Bild (vgl. Abb. 5.1) zeigte eine erwachsene, nackte Frau, die gerade stand, ihre Augen geschlossen hatte. Im Rumpf klaffte jedoch ein großes Loch, es reichte vom Brustkorb bis zum Becken. Es war groß und schwarz. Außerhalb ihres Körpers befand sich ihr Herz.

Abbildung 5.1: Erste Zeichnung der Klientin

Im Verlauf der nächsten Stunden arbeiteten wir daran, zu beschreiben, was das Selbst eines jeden Menschen ausmacht. Aus welchen Teilen ein Selbst besteht. Wie es sein kann, dass davon Teile fehlen oder verloren gehen. Traumatisierte Menschen spalten manchmal das traumatische Erlebnis ab. Es taucht nicht mehr im Bewusstsein auf. Dennoch wirkt es emotional, chaotisch und energieraubend weiter. Es blockiert die psychische Entwicklung, hemmt Entscheidungsschritte, erzeugt Unsicherheit und zerstört Vertrauen. Ohne eine konkrete Vorstellung davon zu haben, worin die möglicherweise abgespaltene traumatische Erinnerung bei Frau K. bestand, gab ich ihr die Fantasiereise „Winter“12 aus der Hörfreund-Reihe mit. Darin treten abgespaltene, schmerzliche und schwer aushaltbare Teile des Selbst in Kontakt mit den bewussten und funktionierenden Anteilen. Zudem erfährt die Verletzung Anerkennung und Trost. Zentral ist folgende Formulierung: „Es tut mir leid, was dir widerfahren ist und dass niemand es gemerkt hat. Es tut mir leid, dass sich bis heute niemand dafür bei dir entschuldigt hat. Es tut mir sehr leid.“ Wie in Kapitel 2 beschrieben, wird in dieser Fantasiereise nicht konkret auf den Inhalt der Verletzung eingegangen. Hier geht es nur um Struktur: Ich betrachte zunächst allein die Form der Verletzung. Indem ich anerkenne, dass die Zuhörerin eine Verletzung hat, bekommt diese eine Gestalt, einen Ort, eine Größe, einen Raum, eine Zeit, eine oder mehrere Dimensionen. Ich biete ihr mit der Geschichte nur einen Rahmen an, in der sie verletzte Anteile mit ihrem Jetzt-Bewusstsein verbinden kann. Das Jetzt-Bewusstsein ist im narrativen Vorgang der gehörten Geschichte. Die inhaltliche Ausgestaltung nimmt die Klientin dann selbst in ihrer Vorstellung vor, wenn hierfür Räume in der Geschichte angeboten werden. In der Folgestunde brachte sie erneut eine Zeichnung mit (vgl. Abb. 5.2): wieder die Frau, nackt, mit geradem Blick. Diese Frau hatte jedoch kein Loch mehr in ihrer Mitte. Die Augen waren geöffnet. Das außerhalb des Körpers noch zuvor gelegene Herz war nicht mehr da. Es war eine neue Linienführung über die (vom Betrachter aus gesehen) rechte Seite ihres Oberkörpers zu sehen. Sie sagte, das sei „die Kleine“. Jetzt erkannte ich die Konturen eines etwas zusammengekauerten kindlichen Körpers. „Die Kleine“ – sie selbst – war nun wortwörtlich ein Teil von ihr geworden und hatte das Loch aufgefüllt. Hatte sie also sich selbst als kleines Mädchen abgespalten? In der Folge des im Laufe der Therapie berichteten sexuellen Missbrauchs durch den eigenen Vater? Und war es ihr inneres Kind, das jetzt als Anerkennung für diese Verletzung existieren und ein Teil von ihr werden durfte? Mut hatte, sich zu zeigen? Getröstet werden konnte? Es bot sich an, gemeinsam mit der Klientin darüber zu spekulieren und sich ihrem Selbst bildlich und sprachlich zu nähern. Nun waren alle Anteile verbunden.

Abbildung 5.2: Zweite Zeichnung der Klientin: „die Kleine“

Frau K. berichtete, in der Fantasiereise förmlich gespürt zu haben, wie sich diese Anteile wieder miteinander verbanden. Darüber war sie froh, sie wirkte gelassener und reifer. Ich bat sie, aufzuschreiben, was sie während der Fantasiereise erlebt hatte, ihre Empfindungen und Gedanken – ohne Zensur. Der Bewusstseinsstrom, aus dem ich hier freundlicherweise einen Abschnitt zitieren darf, macht deutlich, wie sehr die Klientin von der Fantasiereise berührt worden war:

„Endlich Rückzug und Stille, ich atme auf. Allein sein tut gut. So bin ich geschützt und sicher. Kann mich endlich zurücksinken lassen. Geborgenheit. Und ich brauche nichts zu tun, kann ausruhen. Bei der Reise durch meinen Körper (die durch die Reise angeleitet wird, Anm. d. Red.) merke ich, wie angespannt ich bin. Schmerz in meinen Beinen und Knien, in den Lendenwirbeln, die Schultern sind verspannt hochgezogen. Bin voller Trauer und Schmerz, meine linke Körperseite weint. Mein Atem fließt, bringt etwas Ruhe und Entspannung, ich bemerke dieses Vibrieren in mir, Brennen, all diese aufgestaute Energie, in der es schwierig ist, Frieden zu empfinden. (…) Bin zutiefst verletzt, voller Schmerz, der endlich gefühlt werden will. (…) Ich sehe, dass ich einen sehr langen Weg hinter mir habe, er war schwierig. Ich bin müde davon, immer wieder aufzustehen, weiterzugehen. Ich bin traurig. Manchmal kann ich erkennen, wie stark ich war und auch bin, weil ich das alles bis hierher geschafft habe. Dann sehe ich auch, dass ich die Kraft habe, weiterzugehen. So viele Teile wollen gesehen, angenommen und akzeptiert werden. Ich weiß nicht, wo ich zuerst anfangen soll. Und dann gibt es da noch etwas, wo ich nicht hinwill, was ich nicht sehen will und kann, weil ich weiß, das ist zu groß, das kann ich allein nicht schaffen. Er hat einen unförmigen Körper, hat einen lumpigen, abgetragenen Mantel darüber, er hat kein Gesicht und wendet seinen Kopf von mir weg, hat große Ohren. Und will ins Dunkle zurück, möchte nicht gesehen werden. Will allein sein, ist ohne Vertrauen, glaubt mir kein Wort. Schickt mich weg. Ich weiß nicht, was ich für ihn tun kann, wie ich ihm helfen kann. Er ist schon sehr alt und scheut das Licht. Ich erkenne mich, als ich ihn anschauen kann. Er sagt mir, ich zeige nie mehr mein wahres Gesicht. Niemand wird mich wirklich zu sehen bekommen. Ihr werdet nur noch eine leere Hülle sehen, die nicht mehr verletzt werden kann. Es ist egal, was mit dieser Hülle passiert, denn diese kann nicht fühlen. Ihr werdet nur noch das zu sehen bekommen, was ihr sehen wollt. Sonst nichts. Mein wahres Ich habt ihr zerschlagen durch die Schläge ins Gesicht. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid, dass dir das angetan wurde. Ich umarme dich, halte dich, du darfst weinen, so viel du möchtest. Ich bin froh, dass du wieder da bist, danke, dass du dich mir gezeigt hast.“

Es war eine der letzten Stunden der Therapie, in der sie dann auch den Mut und die Kraft fand, von ihrer Erfahrung des sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater zu berichten. Die „neue“ Frau K. hatte Zugang gefunden zu ihren abgespaltenen verletzten Anteilen. Sie erkannte nun auch, dass sie ein anderes Leben führen wollte, ein Leben, in dem sie die Hauptrolle hatte. Sie trennte sich von ihrem Mann, änderte ihre Frisur, wodurch sie reifer und selbstbewusster aussah, und trat eine medizinische und berufliche Rehabilitationsmaßnahme an. Diese sollte sie auf den Wiedereintritt in das Berufsleben vorbereiten. Es waren vermutlich ganz verschiedene Faktoren, die Frau K. dazu bewogen hatten, die wichtigen Veränderungsschritte einzuleiten. Aber bemerkenswert empfand ich trotzdem, wie durch das Hören der Fantasiereise profunde Denkvorgänge angeregt wurden, die dann in den therapeutischen Gesprächen aufgegriffen werden konnten. Ich bezweifle, dass ich diese Denkvorgänge bei Frau K. hätte anstoßen können, wenn ich nur über das Gespräch und nicht über die Form der bildhaften Erzählung versucht hätte, eine Verbindung zu ihr zu bekommen.

5.2 Arbeiten mit dem Phänomen der Dissoziation

Das Arbeiten mit dem Phänomen der Abspaltung des Selbst („dissoziiertes emotionales Selbst“, van der Hart, Nijenhuis & Steele 2008) ist mit einer Fantasiereise ebenfalls möglich. Gemeint ist hier eine kontrollierte „Abspaltung“ durch Suggestion, die auch bei psychisch gesunden Menschen erfolgt. Tritt Dissoziation als Reflex der Seele, als Schutzreaktion oder als Zeichen seelischer Verletzung bei traumatischen Vorerfahrungen chronisch oder episodisch auf, muss im Einzelfall geprüft werden, ob die hier vorgeschlagene Herangehensweise zumutbar ist oder nicht: ob hierdurch eine Verschlechterung oder eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung zu erwarten ist.

Das Arbeiten mit der Dissoziation kann auf zweierlei Weise geschehen.

  1. Passive Dissoziation: Der dissoziative Zustand wird durch den tranceähnlichen Zustand, der in einer Fantasiereise erreicht wird, automatisch gefördert. Furcht und Angst werden durch die Instruktionen abgespalten und aus dem Vorgang der Fantasiereise ausgeschlossen. Eine typische Instruktion entstammt hierbei der Tresorübung: „Lege alle negativen Gedanken und Gefühle in einen Tresor oder eine Kiste und verschließe sie. Dort werden sie nun bleiben.“

    Andererseits ist der Zuhörer selbst bereit, dies zu tun, da seine positive Erwartung an den Vorgang bereits Negatives automatisch ausgrenzt. Eine Frage, die diesen Vorgang indirekt vorbereitet, lautet: „Bist du bereit für diese Reise?“ Gemeint ist dies (Subtext): „Liegt deine ganze Aufmerksamkeit auf der positiven Erwartung an die bevorstehende Reise? Bist du bereit, in das Land der Fantasie zu reisen und die Realität für eine Weile zu vergessen?“ Vermutlich jeder würde mit einem Ja hierauf antworten.

  2. Aktive Dissoziation: Hierbei wird die Fähigkeit zur Dissoziation in den Vordergrund gehoben. Das Arbeiten mit Dissoziation ist eine relativ neue, sehr spannende und mutige Entwicklung, die sich aus der Gestalttherapie, eine durch das Erlebnis aktivierende Therapie, heraus entwickelt hat (van der Hart, Nijenhus & Steele 2008). Auch Ähnlichkeiten mit Elementen der Gestalttherapie (Perls 1969), der Pesso-Therapie und der aktiven Imagination sind offensichtlich. Durch die Instruktionen wird dem abgespaltenen emotionalen Selbst und damit der eigenen, gestaltlosen Verletzung in der Erinnerung eine Gestalt gegeben, analog zur Gestaltwerdung des „Schattens“ im Monomythos. So kann diese durch den Zuhörer imaginiert werden. Eine entsprechende Instruktion wäre beispielsweise, mit dem inneren Kind zu arbeiten oder mit menschenähnlichen Gestalten, denen der Reisende begegnet, die er betrachtet, berührt, umarmt oder in sich aufnimmt, mit denen er gar verschmilzt. Dies baut auf einer gestalttherapeutischen Übung auf („Der leere Stuhl“), bis heute eine sehr kraftvolle sinnlich-erlebbare Intervention, um blockierte, nicht erreichbare Gefühle zu spüren. Nicht zu spüren bedeutet gestalttherapeutisch „Kontaktstörungen“ zu uns selbst ins Innere zu haben, weil unsere Widerstände dagegen zu groß sind (Abwehr) oder unerreicht getrennt sind (traumatische Abspaltung). Erst wenn wir die Gestalt unseres „inneren Kindes“ sehen, das auf dem leeren Stuhl Platz nimmt, und erst wenn wir mit dieser Gestalt in Dialog treten, lösen wir die Kontaktstörung in uns selbst auf. Die Kontaktstörung des Selbst wird durch den Einsatz von Dissoziation überwunden (siehe Kasten unten). Wichtig hierbei ist, dass nur eigene Anteile imaginiert werden dürfen. Tatsächlich existierende andere Personen wie etwa Familienangehörige, Freunde oder Bekannte haben in einer Fantasiereise nichts zu suchen (analog zu C. G. Jung: „Tauchen Familienangehörige auf, werden sie fortgeschickt“). Denn aus diesem nahestehenden Personenkreis rekrutieren sich ja leider bekanntlich die meisten Verursacher von Schmerz und seelischer Verletzung – sei es durch den Verlust (Tod, Trennung, Abschied) oder durch eine Tat (emotionaler oder tätlicher Missbrauch, Gewalttat, sexualisierte Gewalt). Angehörige und nahestehende Personen fügen dem Selbst meistens prägende und nachhaltige Verletzungen zu. Bei der Instruktion, eine Gestalt zu imaginieren, ist es also wichtig, dass diese als ein Teil des eigenen Selbst deklariert wird. Dies muss eindeutig und klar durch die Instruktion ausgesprochen werden. Entsprechendes gilt, wenn mit Alter Egos gearbeitet wird: Schnell sollte klar werden, dass es ein Alter Ego ist, das da imaginiert wird, und nicht ein real existierender anderer. Die Arbeit mit dem Fremden sollte daher eher mit Bildern statt mit menschlichen Gestalten erfolgen. Wichtig ist dementsprechend, das Imaginieren von konkreten Gesichtern zu vermeiden, etwa durch Stellvertreter (z. B. Naturszenen oder Tiere, die für den Zuhörer selbst stehen), die nicht immer in ihrer Funktion aufgedeckt werden müssen. Nach dieser Übung bzw. nach dem Hören einer Fantasiereise, die mit diesen Elementen arbeitet und die Kontaktstörung zu uns selbst überwindet, sollte sich das Selbst – also wir in uns – klarer, gegenwärtiger und echter anfühlen (vgl. hierzu auch die Fantasiereise „Der Wolf“). Ein echt gutes Gefühl!

 INFOBOX

Dissoziative Effekte nutzen

Übungsanleitung: Die Kontaktstörung des Selbst wird überwunden. Hier geht es beispielhaft um Themen wie Dankbarkeit, Selbstliebe und Überlebenskraft. Wichtig bei der Durchführung der Übung ist, sehr authentisch und wahrhaftig zu wirken, also stark suggestiv zu sein, um emotional zu berühren.

Als Therapeut lade ich den Klienten ein, sich sein inneres Kind vorzustellen. Meistens ist dieses innere Kind im Alter der Traumatisierung oder der seelischen Belastung. Der Klient bestimmt das Alter, beispielsweise ist das Kind um die sieben oder acht Jahre alt. Ich warte einen Moment ab, bis der Klient eine Gestalt in sich oder (gestalttherapeutisch konkret) im Raum erzeugt hat. Wir setzen das Kind auf einen Stuhl oder auf den Schoß des Klienten. Das rührt bereits ein paar Emotionen, die lange nicht gespürt worden sind. Und dann werden wir uns darüber klar, dass das Kind etwas zu sagen hat, und der Therapeut gibt dem Kind eine Stimme. Es bedankt sich bei dem Erwachsenen dafür, dass der Erwachsene auf das Kind aufgepasst hat und die ganze Zeit bis heute durchgehalten hat: „Danke, dass du es geschafft hast, dass du auf mich aufgepasst hast, dass ich sicher war, du mich beschützt hast und ich es bis heute geschafft habe ...“ – Pause – „… ich es bis heute geschafft habe zu überleben.“ Dann warten wir den magischen Moment ab, in dem sich im Klienten Gefühle aufbauen. Vielleicht auch überwältigende Gefühle, die traumatischen oder die wunderschönen Erinnerungen, die bis heute wenig realisiert wurden, können nun wahrgenommen werden. Da sich das Kind bedankt, wird zunächst das Gelingen gewürdigt. Die schwierigen Emotionen nimmt der Klient ganz für sich wahr. Sollte der Klient diese inneren Emotionen nicht wahrnehmen, so entwickelt er vielleicht an dieser Stelle zumindest ein Konzept davon, dass es emotionale Erfahrungen in der Vergangenheit gab, die ihm noch verborgen sind. Dann bedankt sich auch der Erwachsene beim Kind. Der Therapeut formuliert nun für den Erwachsenen: „Danke für die Kraft, die du, mein kleiner (Vorname), mir gegeben hast. Denn ohne deine Kraft hätte ich diesen langen Weg nicht geschafft. Danke dafür.“ Erneut warten wir den magischen Moment ab, in dem sich die Gefühle im Klienten weiter aufbauen. Der Erwachsene erkennt den Kern seiner eigenen Fähigkeiten, diese tiefe, intrinsische Lebensenergie, die Willenskraft und vielleicht auch die kindliche Lust auf das Leben, die vielleicht durch eine „zu erwachsene“ und „verklärte“, ja, sogar dysfunktionale Haltung verleugnet wurde. Jetzt schließen wir diese Übung, indem beide Anteile des Selbst sich gegenseitig bewusst werden, sich gegenseitig erkennen und jeweils im Bewusstsein des anderen sein dürfen und die Erfahrungen des einen kindlichen Bewusstseins in den Bewusstseinsstrom des Erwachsenen einfließen – oder umgekehrt, denn wer kann mit Gewissheit behaupten, ob wir erwachsene Kinder oder kindliche Erwachsene sind? Der Therapeut sagt: „Und fortan sind eben beide, der kleine und der erwachsene (Vorname), zusammen, gemeinsam und nie mehr allein. Sie werden sich weiterhin gegenseitig helfen und füreinander da sein.“

5.3 Fantasiereisen für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen

Ein besonderes Patientenklientel sind Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung des Clusters B (dramatisches, emotionales und launenhaftes Verhalten). Dazu gezählt werden die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die histrionische Persönlichkeitsstörung, die antisoziale Persönlichkeitsstörung und die narzisstische Persönlichkeitsstörung.