Eva Jaeggi

Alte Liebe rostet
schön

Was Paare zusammenhält

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotive: © Getty Images

ISBN (E-Book) 978-3-451-34583-8

ISBN (Buch) 978-3-451-61190-2

Inhalt

Vorwort

Weißt du noch? – Die gemeinsame Welt

Wie siehst du das eigentlich? – Deutungen der Welt

Immer wieder das Gleiche – Wohltuende Routine und Langeweile

Bist du mir noch böse? – Verzeihen – verdrängen – vergessen

Kann er mich noch begehren? – Sexualität und der alte Körper

Wie hieß der noch mal? – Schwäche und Krankheit

Muss ich denn alles alleine machen? – Hilfe und Fürsorge

Wohin mit Mama? – Die uralten Eltern

Kinder? Naja … – Aber Enkelkinder, die sind ein Glück

Gelingende Gemeinsamkeit – Was ist denn eine »gute Ehe«?

Lieben wir uns noch? – Die Liebe bewahren

Gertrud und Paul – Ein ungewöhnliches Paar

Niemals mehr? – Witwenschaft und zweite Bindung

Empfohlene Literatur

Vorwort

Dies ist ein Buch über das langjährige Zusammenleben älterer Menschen. Ich habe viele Paare danach gefragt, wie sie ihr Leben organisieren, welche Bedeutung ihre gemeinsam verbrachte Vergangenheit hat und wie sie mit mancherlei Widrigkeiten des Alters umgehen. Vor allem aber wollte ich auch wissen, ob sie im Alter neue und vielleicht sehr befriedigende Ressourcen für ihre Partnerschaft entdeckt haben.

Alle Menschen, die hier vorgestellt werden, sind mir bekannt aus freundschaftlichen und auch aus therapeutischen Gesprächen. Sie entstammen meist einer finanziell gesicherten Mittelschicht und haben keine Probleme mit der »Altersarmut«, wie leider heutzutage schon wieder mehr Menschen als früher.

Wie immer in solchen Darstellungen habe ich Personen und Situationen so vermischt, dass zwar typische Strukturen, aber keine Einzelpersonen erkennbar sind.

Man fragt sich natürlich, für wen solche Darstellungen überhaupt noch Sinn machen? Die von mir beschriebenen Menschen sind meist im Pensionsalter, manche werden vielleicht nicht mehr lange leben, einige sind schon gestorben. Jedenfalls sind sie nicht mehr sehr weit entfernt vom Ende ihres Lebens. Was also soll das Ganze? Sind die inneren und äußeren Kämpfe, die eine Beziehung ausmachen, die schönen und die weniger schönen Zeiten, wirklich noch interessant für jüngere Menschen? Kann man etwas lernen, wenn man sich das Leben nunmehr 60- bis 80-jähriger Paare ansieht?

Wie bei vielen bedeutenden Lebensfragen: Rezepte gibt es sicher nicht. Es gibt aber typische Fragen, die man sich auch in jüngeren Jahren stellen kann. Dass unser Leben von den historischen Bedingungen, unter denen solche Fragen stehen, bestimmt wird, dass die Lösungen solcher Lebensfragen sowohl unter historischen als auch unter individuell veränderlichen Vorzeichen jeweils anders aussehen – das zu erkennen scheint mir auch für jüngere Menschen wichtig.

Paare im höheren Alter (sofern sie aus der Mittelschicht stammen) haben sich in ihren mittleren Jahren z. B. oft mit den damals neu aufgekommenen Partnerschaftskonzepten abgemüht, wobei die Vorstellung, die Ehe, die Sexualität, der gemeinsame Alltag müsse »frei« sein, die Beziehung müsse ein Maximum an Freiheit für den Einzelnen bedeuten, einen wichtigen Raum einnahm. Die damals noch recht kontrovers diskutierte Frage des Berufes der Frau war Teil vieler Ehestreitigkeiten. Die 68er-Generation, wenngleich erst in den Startlöchern ihres Lebens, bestimmte manchmal sogar das Leben der Eltern mehr, als es umgekehrt der Fall war.

Haben die Paare sich, nach dem Abflauen dieser bewegten Jahre, wieder zurück bewegt, haben sie sich doch wieder der »guten alten Zeit« angenähert? Oder hat sich ihr Altersleben grundsätzlich geändert, gibt es heutzutage andere Formen der Altersehe als früher – jenseits von Streitehe und Philemon-Baucis-Kitsch? Hat die damals durchgesetzte »Streitkultur« bis ins Alter hinein vorgehalten?

Wie verbindet man die altersgemäß einsetzenden Schwächen, oft peinliche Schwächen, mit dem Respekt vor dem anderen? Und: Wie kann man die früher empfangenen Wunden verzeihen?

Bei der Begleitung von Menschen über längere Zeit – sei es in Freundschaften oder in Therapien – habe ich es immer wieder spannend gefunden, wie die jeweils unterschiedlichen Bedeutungen, die man dem eigenen Paarleben im Laufe der Entwicklung gegeben hat, sich im Alter nun wiederum verändern können. Der »Rahmen« des Lebens erlaubt es nun, neue Facetten des Ehelebens zu sehen. Es handelt sich manchmal um eine zweite Ebene der Reflexion, also um eine Deutung der früheren Deutungen. Man weiß darum, was man früher dem Partner und der Partnerschaft zugeschrieben hat und man kann diese alten Ebenen neu aufbrechen und neu überdenken – das ist einer der Vorteile reflektierten Alterns.

Ich denke, dass dies jüngeren Menschen einen Horizont aufzeigt, der sie in ihrem Denken über sich selbst und andere freier machen kann, und ihnen die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Deutungs- und Reflexionsmuster zu relativieren.

Ein anderes Thema, das auch für jüngere Menschen wichtig sein kann, ist der Umgang alter Paare mit den Verletzungen, die man einander im Laufe des Lebens zugefügt hat. Ist Verzeihen – Verdrängen – Vergessen der angemessene Umgang damit? Bleiben immer noch Wunden? Gibt es Dinge, die man nicht vergessen und verzeihen kann? Wie viel Offenheit ist nötig, was bleibt im Dunkeln?

Oft erst beim Verlassen der Ehe (oder wenn einer stirbt) merkt man, wie viel an »gemeinsamer Welt« man sich erobert hat, wie sehr die Kategorien, unter denen man die Welt betrachtet, sich angeglichen haben. Dies kann man als einen großen Vorzug des Paarlebens ansehen, es kann aber auch zur Verengung führen und bringt dann Verkümmerungen hervor. Wie man zur »gemeinsamen Weltkonstruktion« (Berger & Luckmann, 1969) steht, in welcher Weise man sich davon auch wieder lösen kann: Auch das ist ein Thema, das weit über das Alter hinaus für denkende Menschen und Paare in jedem Alter relevant sein kann.

Auch alte Menschen haben die Möglichkeit, sich neu in der Welt einzurichten und damit wiederum ein Stück neue gemeinsame »Weltkonstruktion« zu gestalten. Meist bietet ihr Leben nun andere Möglichkeiten als früher – egal, ob sie als schlechter oder als besser bewertet werden. So ergibt sich mehr oder weniger Zufriedenheit im Alter.

Alle diese Themen greifen tief in die Grundtatsachen des menschlichen Lebens hinein, vor allem in die des menschlichen Beziehungslebens.

Dies ist also mehr als ein Buch über die Altersehe; es ist – wenn es sein Versprechen erfüllt – ein Buch über das menschliche Leben selbst in seinen immer wieder neuen Gestalten und Gestaltungsmöglichkeiten.

Wie in vielen Bereichen unseres Beziehungslebens steht auch die Altersehe unter dem Diktat der Moderne, das heißt, sie wird weniger »selbstverständlich« gelebt als in früheren Zeiten. Nicht nur ist ihre Dauer länger als sie je war, sie wird auch mit mehr Reflexionen begleitet als früher, sie wird sogar, öfter als gedacht, noch im hohen Alter geschieden.

Schon ihre im Prinzip lange Dauer (oft 50 bis 60 Jahre statt der, je nach Zeitalter, 12 bis 20 Jahre) fordert neue gesellschaftliche und persönliche Überlegungen und Bedachtsamkeiten heraus. Es gibt neue Problemfelder, etwa die »postelterliche Partnerschaft«, und neue Formen der Kommunikation. Wo die traditionelle Rolle der Ehe als Hort der Nachkommenschaft und Lebensgemeinschaft für die Kinder nicht mehr genügt, muss man sich fragen, welche Funktion denn die lange Dauer der Gemeinsamkeit im Alter noch haben kann und wie sie sich gestaltet.

Unsere Beziehungen insgesamt – Partnerschaft, Elternschaft, Freundschaft, Kollegenschaft – sind nicht mehr in gleicher Weise wie in anderen Zeiten von klaren Rollenvorgaben geprägt. Deshalb müssen alle diese Beziehungsformen, die variationsreicher aussehen als früher, in einem Prozess individueller Reflexion neu gestaltet werden. Nichts ist mehr ganz selbstverständlich. Man wird zum Reflektieren über die eigene Lebensform gezwungen – spätestens dann, wenn die üblichen Probleme des Alters zuschlagen.

Natürlich, und das ist gar nicht so selten, kann man sich einfach in Klagen ergehen über die vielen Veränderungen, die sich im Laufe eines gemeinsamen Lebens ergeben haben. Oft empfindet man sie als Verschlechterung, ja als eine Ungerechtigkeit. Eigentlich, so denkt man mehr oder weniger bewusst, hätte man vom Leben mehr erwarten dürfen. Und jetzt wird einem auch noch das genommen, was man sich so mühsam erarbeitet hat an Gemeinsamkeit: Der Partner ist kränklich oder einfach nicht mehr so lebenslustig, die Freunde sterben, das Leben engt sich ein, weil der Beruf oft wegfällt.

Dieses Leben in einem anderen Rahmen aber ist eine neue Chance, auch für die alte Ehe. Es ist die Chance, sich reflektierend mit einer geänderten Situation auseinander zu setzen – übrigens fast ohne ein Vorbild durch die ansonsten sehr redseligen Medien. Denn für die Lebensformen alter Paare gibt es wenige Leitbilder. Alte Paare fungieren in den durch die Medien vermittelten Bilder meist nur als Hintergrundfiguren, es tut sich bei ihnen scheinbar nicht mehr sehr viel. Für die Dramatik sorgen die jüngeren Paare, bei denen noch Leidenschaften lodern und heftige Veränderungen möglich sind.

Alte Paare leben im Durchschnitt bestimmt ruhiger und undramatischer. Aber wenn das Paar sich nicht einigelt in eine nur allzu vertraute Lebensform, dann tut sich sehr viel im »Inneren«; es gibt eine innere Dramatik, die durchaus beachtenswert ist. Sie bietet immer wieder neue Entwicklungsmöglichkeiten, wenn man sie wahrnehmen kann. Das innere Leben des Menschen kann – Gott sei Dank – nie ganz zur Ruhe kommen, bevor die letzte Ruhe eintritt.

Tritt diese Ruhe schon vorher ein, dann allerdings hat sich alles »nicht gelohnt«. »War das alles?«, fragt sich manch einer, der mit dem Leben im Alter unzufrieden ist. Ja, das war alles – aber es hätte sehr viel mehr sein können!

Weißt du noch? –
Die gemeinsame Welt

Die Soziologen P. Berger und Th. Luckmann (1969) haben in ihrem Buch über die Konstruktion der Wirklichkeit sehr eindringlich beschrieben, wie Menschen sich in dialogischer Form die Ereignisse in ihrem Leben veranschaulichen: bewertend, pointierend, mit bestimmten wichtigen Zeichen versehend. Meist tauscht man sich im Gespräch aus, es kann aber auch nonverbale Zeichen geben – ein hämischer oder bewundernder Blick, die sorgenvoll gefurchte Stirn und Ähnliches. In überspitzter Form könnte man sagen, dass erst solche Zeichen den Ereignissen Bedeutung verleihen und auf diese Art eine gemeinsame »Welt« zwischen Menschen entsteht. Diese gemeinsam besprochenen oder auf andere Weise bewerteten Ereignisse lassen »Erlebnisse« entstehen. Aus sozusagen neutralen Fakten werden gemeinsame Erfahrungen, die man benennen und wieder hervorrufen kann. Nicht jedes einzelne Erlebnis ist immer bedeutungsvoll, aber die Summe von gemeinsamen Erlebnissen zwischen Menschen, die miteinander viel zu tun haben, lässt einen gemeinsamen Erfahrungsraum entstehen, der innere Verbindungen schafft. Das müssen nicht Paare sein, das gleiche gilt auch für Freunde, Arbeitskollegen oder alte Schulkollegen.

Berger und Luckmann erläutern dies beispielhaft am »Nach-der-Party-Gespräch«. Erst in der Nachbesprechung des Paares wird herausgearbeitet, welche Bedeutung die Bemerkung von Frau M. hatte, wie man die auffällig jugendliche Kleidung von Herrn L. beurteilen soll und ob die Kinder der K.’s nicht doch allzu brav seien. Das muss nicht immer in Eintracht geschehen, aber es werden die Kategorien herausgearbeitet, unter denen man Geschehnisse betrachten kann. Manches Paar wird sich nach der Party vor allem an der Kleidung der einzelnen Gäste orientieren, ein anderes an der Art und Weise, wie sich die Leute ins Gespräch brachten oder wie viel sie gegessen und getrunken haben.

Einander langjährig verbundene Paare entwickeln solche Kategorien und grenzen sich damit auch ein wenig ab von anderen Menschen. Es entsteht im Inneren eines Paares eine eigene »Welt«, in der man sich oft mit Andeutungen begnügen kann, wenn man einander etwas mitteilt, das unter anderen Umständen sehr viel mehr Worte bräuchte. »Na, heute war Liselotte wieder mal in ihrem Element« – das genügt um auszudrücken, dass Liselotte, eine begeisterte Anhängerin des Vegetariertums, die ihre Haltung zum Fleischessen immer mit viel Verve vertritt, sich heute wieder einmal sehr viel Raum genommen hat, um ihre Thesen auszubreiten, ja, dass einem dies wieder einmal auf die Nerven gegangen ist.

Das Leben eines Paares bestimmt sich auch dadurch, ob ein mehr oder weniger reichhaltiges Netz von Kategorien zur Beurteilung der gemeinsamen Welt entwickelt werden kann. Auch die Dominanz des einen oder anderen in dieser Beziehung wird hier sichtbar. Es gibt Paare, die sehr stark von den Kategorien des einen (der einen) geprägt sind, es gibt aber auch solche, die sich ihr System laufend neu und noch vielfältiger erarbeiten, indem sie alle Ereignisse gemeinsam besprechen.

Thomas und Angelika sind ein solches Paar, das sich redend und handelnd die Welt immer wieder neu erschließt. Sie arbeiten gemeinsam als Ärzte auf dem Land und sind in vieler Hinsicht ein Herz und eine Seele – vor allem aber auch im dauernden Gespräch. Angelika sagte mir einmal, dass sie, wenn sie etwas alleine erlebe, sich immer schon darauf freue, dies mit Thomas besprechen zu können – es wäre für sie jedes Mal interessant zu hören, wie er eine Situation beurteile, im beruflichen wie im privaten Leben. Dass diese Dimension ihres Paarlebens auch zur gegenseitigen Liebe beiträgt, kann man verstehen.

Heinz und Irene allerdings sind nicht unbedingt ein Idealpaar, sie hatten und haben viele Probleme. Andere Partner(innen), fremdgehen, Geheimnisse – das alles nagt auch noch im Alter an ihrer Beziehung. Immer aber haben sie betont, dass sie es »interessant« fänden, miteinander zu sprechen. Sie teilen einander gerne ihre Beobachtungen mit, sie versuchen, Motive anderer Menschen zu begreifen, sie beurteilen gemeinsam die politische Lage und sind – wenn es gut geht – einander im Gespräch sehr zugetan.

Als eine ihrer tiefen Krisen (eine heiße Altersliebe von Heinz) beinahe zur Trennung führte, schildert Irene, wieso es nicht dazu gekommen ist. Ihre letzte gemeinsame Reise sollte der Aussprache dienen: »Wir saßen auf der Terrasse unseres Hotels und besprachen relativ ruhig, wie wir fortan unser Leben einrichten würden – getrennt, aber nicht feindselig. Als wir wie immer dieses Vorhaben nicht nur in den äußeren Belangen, sondern auch in allen inneren Vielfältigkeiten erörterten – was würde wem am meisten fehlen, welche Alltagsstrategien sind möglich, um den Verlust nicht so krass spürbar werden zu lassen etc. – da kamen mir die Tränen und im gleichen Moment sah ich, dass auch Heinz weinte. Sind wir eigentlich verrückt?, fragte er, und ich wusste natürlich sofort, was er meinte. Es war klar: In solcher Weise würden wir nie mehr mit einem anderen sprechen können, wir waren zusammengeschweißt, nicht nur durch unser langes gemeinsames Leben, sondern auch durch unser dauerndes Gespräch.« Bis heute lebt das Paar zusammen.

All dies klingt, als würden sich alle Paare im Dauergespräch befinden. Dies ist natürlich nicht der Fall, manche Paare sprechen sogar recht wenig miteinander, wie manch höhnischer Bericht über das Paarleben konstatiert. Trotzdem können sich auch solche Paare recht einig sein in der Beurteilung von Geschehnissen. Ihre Kategorien sind nicht unbedingt differenziert, aber sie haben sich eingerichtet in einer Welt, die sie nach ihrer Weise einteilen.

Leonie und Rudolf zum Beispiel haben eine alles überschattende Kategorie gefunden, mit der sie Menschen beurteilen: »Spießig«. Was immer mit dieser Kategorie ausgedrückt werden soll – sie ist zwischen den beiden eine klare Marke der Verständigung. Sie bezieht sich auf die Kleidung eines Menschen, auf seine Wohnung, auf Meinungen und Interessen. Für Außenstehende ist es nicht immer klar, wer warum unter dieses Label fällt – aber die beiden sind sich einig darüber, wer als spießig oder eben nicht spießig zu gelten hat. Auch dies einigt die beiden, obwohl es sonst vielerlei Klagen von beiden Seiten gibt.

Dass man sich eine gemeinsame Welt aufgebaut hat in den vielen Jahren des Zusammenseins, gilt für die meisten Paare. Man merkt es aber oft nicht mehr so richtig. Man »spürt« mehr, als dass man darüber spricht, dass man ähnliche Einstellungen hat, Ähnliches fühlt.

Die Dominanz des einen Kategoriensystems über das andere kann allerdings zur Beendigung einer Partnerschaft führen, oder zur Langeweile. Dass Corinna jede, aber auch jede Bekanntschaft oder Freundschaft ihres Mannes mit Arbeitskollegen als »intellektuell öde« bezeichnete, führte schließlich zum Ende der Beziehung, obwohl Hannes sich der Beurteilung durch Corinna nie ganz verschlossen hat. Hannes hatte immer gerne Karten gespielt, auch Pokern gehörte zum Hobby seiner Freundesgruppe. Er wollte, wie er sagte, wenigstens in seiner Freizeit den Kopf frei haben. Corinna, eine begeisterte Romanleserin und Theatergängerin, empfand solche Hobbys als primitiv. Die Gemeinsamkeiten in ihrem Leben wurden immer weniger. Die Ehe erodierte, Hannes brachte kaum mehr Freunde nach Hause, das Paar entzweite sich.

Natürlich ist es nicht nur das »Gespräch«, das eine gemeinsame Welt entstehen lässt. Es sind die Freunde, es sind die Interessen, es sind die häuslichen Belange. Dass aber Freunde und Interessen sich zur Gemeinsamkeit eignen, ist wiederum der gemeinsamen Beurteilung geschuldet. Ist man sich zum Beispiel uneins über die Qualität von Freunden, dann werden sie wohl bald nicht mehr zur »gemeinsamen Welt« gehören – oder solch dauernde Uneinigkeit führt dazu, dass man sich trennt. Man findet eben keine »gemeinsame Welt«.

Albert und Connis Welt zum Beispiel hat nach den ersten Jahren des Aufbaus viel an Gemeinsamkeit verloren. »Ich finde Connis Freunde langweilig«, sagte Albert, ein Künstler, und da Conni in sozialen Belangen durchaus das Sagen hatte und Albert sich wenig um andere Freunde kümmerte, igelte sich Conni in einen Kosmos mit ihren Freundinnen ein, und Albert verlor sich im Beruf. Es dauerte lange, bis die beiden sich auch auf der Ebene der gemeinsamen Freundschaften gefunden hatten. Auch mit den gemeinsamen Interessen war es zwischen den beiden schwierig. Albert hat Conni viel zugemutet in den mittleren Jahren. »Ich habe mit dir keine geistige Gemeinsamkeit«, so begründete er seine Liebschaft mit einer Musikerin aus seiner Band. Erst in ihren späten Jahren haben die beiden wieder zusammengefunden, und Albert hat nach dem Scheitern mehrerer Außenbeziehungen gemerkt, was ihn wirklich mit Conni verbindet. Sie sind jetzt ein Paar, das sich auf vielen Ebenen gefunden hat und sich offenbar ernsthaft um Gemeinsamkeiten bemüht. Unter anderem hat Conni für Albert, einen Musiker, der angewiesen ist auf immer wieder neue Engagements, eine Art kleiner Agentur eingerichtet. Sie begleitet ihn bei Konzerten, sie knüpft Verbindungen und ist ziemlich erfolgreich damit. Ein Kollege ihres Mannes hat sie gebeten, doch auch für ihn zu arbeiten. Sie will sich das überlegen. Albert und Conni haben nun genügend Gemeinsamkeiten und natürlich drehen sich ihre Gespräche oft um die gemeinsame Arbeit. Diese gehört nun schon seit einigen Jahren zu ihrer gemeinsamen Welt.

Die gemeinsame Welt ist also ein Geflecht von Erfahrungen, Urteilen, Freunden, Familie und äußerem Rahmen, von Wohnen und Umgebung.

Das alte Paar ist oft in großem Maß darauf angewiesen, dass diese gemeinsam »erarbeitete« Welt noch einigermaßen intakt ist, denn sie ist im Alter bedroht. Sie kann auch – zumindest in einigen Teilen – verloren gehen.

Sie ist bedroht durch ihre Erstarrung, durch eine Abschottung des Paares, wenn sich nichts mehr »bewegt« und sie ist außerdem bedroht durch das Verschieben des Gleichgewichts zwischen den Partnern. Die Verlebendigung der Welt durch den Diskurs ist ein Prozess. Hat sich ein Paar allzu sehr eingeschlossen in die eigene Welt, d. h. in die Welt, in der nur mehr die eigenen Kategorien gelten, dann droht Langeweile. So wunderbar es sein kann, wenn ein Paar (es kann übrigens auch ein Freundschaftspaar sein) sich um die Herausarbeitung von Kategorien bemüht, um sich ein Stück Welt begreifbar zu machen, so schwer lasten alte und abgestandene Kategorien auf dem Paarleben, wenn sich ewig nichts ändert. Alte Paare sind gefährdet. Ist nicht alles schon gesagt über die schwierige Beziehung zur Mutter? Waren wir uns nicht schon seit Langem einig, dass die Freundin Helene nie erwachsen wird, dass ihr Mann ein armseliger Tropf ist, der sie noch immer bewundert?

Die gemeinsame Welt wird »erarbeitet«, das aber bedeutet, dass es sich um ein eigentlich unabschließbares Projekt handelt, das immer wieder neu für Spannung sorgt.

Lange Zeit kann die Dominanz eines Partners sich durchaus vertragen mit einem recht harmonischen Paarleben. Außenstehende mögen vielleicht ein wenig überrascht sein, dass es nur eine Meinung gibt, aber das Paar selbst fühlt sich dabei oft gar nicht schlecht. Wehe aber, wenn sich – was im Alter sehr oft passiert – die Dominanzebene verschiebt!

Grete und Armin galten lange Jahre, bis weit ins beginnende Alter hinein, als ein Vorzeigepaar. Grete war Malerin, und wenn sie auch nicht als eine große Künstlerin bezeichnet werden konnte, so hatte sie auf diversen Sammelausstellungen mit ihren Collagen und sehr zarten Aquarellen doch immer wieder Erfolg und verkaufte zeitweise eine ganze Menge der hübschen Bilder. Armin, ein sehr dominierender und kluger Mann, hatte früher in leitender Stellung in einem großen Betrieb gearbeitet und sich in den mittleren Jahren auch politisch engagiert. Die beiden waren beliebte Gastgeber und Gäste: Man konnte an interessanten Diskussionen teilnehmen, Armin war in der Welt der Politik und der Wirtschaft daheim, wusste sehr viel und ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er das Sagen hatte. Grete pflichtete ihm fast immer bei; tat sie es nicht – manchmal schimmerte so etwas wie Trotz durch – dann war sie schnell zu überzeugen. Armin bewunderte Grete zwar in ihrer, wie er sagte, »hoch emotionalen Art der Weltbetrachtung«; er hatte aber jedes Argument parat, um diese Art der Weltbetrachtung wiederum an ihren eigenen Widersprüchen zerschellen zu lassen. Grete schien dies nicht übel zu nehmen.

Als beide die 70 überschritten hatten, drehte sich das Rad: Armin bekam die Parkinson-Krankheit, und langsam zeigte sich, dass er immer mehr an Kompetenzen einbüßte. Autofahren: schwierig; alleine ausgehen – nicht ganz ungefährlich; Treffen mit Freunden: Das wäre zwar ohne weiteres möglich gewesen, aber Armin schämte sich seiner zittrigen Hände. So wurde das Paar einsam. Die sanfte, liebenswerte Grete aber fühlte sich nun alleine gelassen. Dass ihre körperliche Überlegenheit dazu führen sollte, die gemeinsame Welt neu zu strukturieren, machte sie hilflos. Armin war nicht mehr der Alte, auch psychisch nicht, seine Energie schien verbraucht. »Wir sitzen nun da als zwei Alte, die sich miteinander langweilen oder streiten«, sagte er. Und von ihr konnte man hören, dass seine Passivität auch für sie lähmend sei. Grete hat sich aufs Jammern verlegt: »Und früher war er doch so lebendig, er hatte so viele Ideen, er war immer aufgeschlossen für Abenteuer« – das waren die Klagen, die man bei jedem Telefonat hören konnte. Es war klar: Grete konnte alleine nicht daran arbeiten, dass zumindest die frühere Welt noch in Konturen sichtbar blieb. Auch schien es nicht möglich, ein neues Stück Welt aufzubauen. Sie gab auf, schwankte zwischen Depression und Wut und beklagte immer wieder, dass doch »früher alles so schön« gewesen sei. Warum könne Armin sich nicht aufraffen? Warum solle sie nun alles in die Hand nehmen?

Armins Ärzte sagen einstimmig, dass er sehr viel mehr tun könne, als er nun tue: Er sei geistig nach wie vor unbeschadet, er habe eigentlich einen eher langsamen Verlauf der Krankheit. Niemand kann einsehen, wieso sich das Paar so sehr verändert hat.

Was sich verändert hat, ist die Dynamik zwischen den beiden. Natürlich ist Armin durch die Krankheit eingeschränkt. Als Paar könnten sie trotzdem noch sehr vieles kompensieren. Aber die Einschränkungen von Armin passen nicht in das Bild, das Grete hat. Sie müsste nun mehr übernehmen: an Geselligkeit, an Vorschlägen, an der »Konstruktion« einer neuen Welt, die der Krankheit angepasst ist. Natürlich wäre auch seine Mithilfe gefragt – es scheint aber so, als könne er nur dann »funktionieren«, wenn er wirklich das alleinige Sagen hat. Es bietet sich das Bild eines Paares, das nun nur mehr »reagiert« und nicht von sich aus etwas in Bewegung setzt. Sie telefonieren nicht mit alten Freunden, sie schreiben keine E-Mails mehr, und sie beschränken sich darauf, ihre zwei Töchter dauernd anzurufen und zu fragen, was sie in dieser oder jener Situation tun sollten. Sogar die einst sehr geliebten Enkelkinder sind nun nicht mehr so wichtig. Sie scheinen eher zu stören. Wenn man sich erinnert, welch wichtige Quelle von Überlegungen die vier Kleinen einmal gewesen sind, wird man ganz wehmütig. Irgendwann mussten die beiden den Entschluss fassen, in ein Seniorenheim zu ziehen, weil ihre weitläufige zweigeschossige Stadtwohnung im vierten Stock für die Behinderung von Armin zu schwierig wurde. Schon seit Längerem hatte er unten im Wohnzimmer schlafen müssen, Grete fühlte sich im eigenen Heim nicht mehr wohl. Die Übersiedlung in ein bequemes Seniorenheim schien eine gute Lösung. Es war dort wirklich angenehm, eigene Möbel hatte man mitgebracht, das Personal war freundlich. Dazu gab es noch eine Reihe wirklich guter kultureller Aktivitäten, an denen man teilnehmen konnte – aber die beiden hatten meistens »keine Lust« dazu, die Angebote entsprachen dann doch nicht ganz ihrem erlesenen Geschmack. Auch für den hübschen Park hatte Armin nichts übrig, weil das »Wohnen im Grünen« ihm nichts bedeutete.

Hier hat sich ein ganzer Kosmos zerschlagen, könnte man sagen. Es ist nichts mehr übrig von der spannenden Welt, die man in ihrem Haus erwarten konnte – und das ist nicht nur der Krankheit geschuldet. Es wird nun deutlich, dass zwar Armin diese interessante häusliche Welt im Äußeren getragen hat, dass aber Grete als ein sanfter, lieblicher Unterton viel dazu beigetragen hatte, dass diese Welt in solch harmonischem Einklang geblieben war. Die gemeinsame Welt, das kann man an diesem Paar sehr gut sehen, kann also auch verschwinden.

Natürlich fragt man sich, ob die Schicksalsschläge, die viele Paare durch Krankheit treffen, nicht notwendigerweise zum Verschwinden der gemeinsamen Welt führen. Höchstens kann man doch als alleine gelassener Paarmensch noch ein wenig für sich selbst retten? Alleine ins Kino gehen, wenn das mit Rollstuhl so schwierig ist, oder Freunde bitten, doch mal keine Familieneinladung zu machen und einen alleine einzuladen, damit man rauskommt und Ähnliches mehr. Man kann das natürlich tun, und je nach Schwere des Falls ist das auch nötig. Es kann wichtig sein, dass man sich alleine wiederum eine eigene Welt aufbaut – so schwierig das auch sein mag. Man kann aber auch einen Teil einer neuen gemeinsamen Welt aufbauen.

Sehr oft aber passiert weder das eine noch das andere: Es entsteht keine neue gemeinsame Welt, und auch der Einzelne baut sich nichts auf. Die Welt rund herum wird leblos.

Hans und Annelise sind andere Wege gegangen – fast bis zum Tod von Annelise. Hans hat nämlich trotz des schweren Schlaganfalls, der Annelise ihrer Mobilität beraubte und auch ihr Sprachvermögen behinderte, an den Gemeinsamkeiten festgehalten. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Welt waren die Freunde gewesen, wobei man sich fast in ritueller Weise immer wieder getroffen hatte: zu allen Geburtstagen, zu Sylvester, einmal monatlich zum Bowlen. Sehr oft hatte man auch gemeinsam mit den Kindern Ferien gemacht.

Hans und Annelise waren die ersten, die vom Schicksal getroffen wurden. Hans überließ sich nicht lange der Verzweiflung. Er betonte immer wieder, dass Annelise nach wie vor »dazugehöre«, dass man nun eben die geselligen Anlässe etwas variieren müsse. Man lud sehr viel seltener in nicht behindertengerechte Wohnungen ein, die Freunde wechselten sich ab im Tragen des Rollstuhls, wenn das nötig war, und man organisierte Ferien so, dass Annelise mitkommen konnte. Hans verpflichtete auch Sohn und Tochter, mit ihm und Annelise ans Meer zu fahren, weil Annelise dies immer so sehr genossen hatte.