Stephan Valentin

Freie Eltern – freie Kinder

Warum wir auf Vertrauen setzen können

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61317-3

ISBN (E-Book) 978-3-451-80276-8

Inhalt

Vorwort

I Wer ist Ihr Kind?

Ihr Kind ist einmalig

Ihr Kind ist, was man ihm gibt

Ihr Kind ist, was es will

Ihr Kind ist, was es sich zu werden vorstellen kann

Ihr Kind ist, was ihm überliefert wird

Ihr Kind ist, wer es ist

Ein bisschen unabhängig gibt es nicht

II Der Rahmen für Erziehung

Prägende Erziehungsstile

Allgemeine und eigene Werte weitergeben

Wunschkind nach Maß

Kultur als Ratgeber

III Die Stellung des Kindes und seiner Eltern

Eltern machen »große« Kinder

Der Platz des Vaters

Gute Eltern lieben alle ihre Kinder gleich. Oder?

Single-Eltern: Alles selber machen?

Verloren zwischen zwei Fronten

IV Von Supermamas und Superpapas

Eltern unter Erfolgszwang

Wenn Eltern ihr Kind managen

Das Nein des Kindes auf dem Weg zur Autonomie

Vorbilder und Ideale

Das Kind als Hoffnungsträger

V Frei sein

Die richtige Distanz finden – immer wieder

Grenzen ausloten – immer wieder

»Du wirst dir wehtun«

Schafft mein Kind das?

Nabelschnur Handy

Glücklich mit Oma und Opa

Freiräume für die ganze Familie

Reif für das eigene Leben

Nachwort

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Eltern sein, das ist wie Seiltanzen. Ständig muss man wie auf einem gespannten Seil laufen und mithilfe einer Balancierstange das Gleichgewicht halten, um nicht auf der einen oder der anderen Seite herunterzufallen. Eltern sein, das bedeutet auch, unterstützt zu werden. Von den Großeltern, Verwandten, ErzieherInnen, Lehrkräften, Freunden, um gemeinsam das Kind auf seinem Weg zu begleiten. Eltern sein, das heißt für sein Kind da zu sein und ihm ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, das ihm ermöglicht, die Welt zu entdecken. Eltern sein verlangt auch, zu wissen, wann man die Hand seines Kindes loslässt, damit es Fortschritte machen kann. Ja, Eltern sein ist immer auch ein Balanceakt zwischen Präsenz und Abwesenheit, zwischen elterlicher Präsenz, die dem Kind das Gefühl von innerer Sicherheit verleiht, und elterlicher Abwesenheit, die es wachsen lässt.

In einer Zeit, in der in vielen Lebensbereichen ein gewisses Maß an hilfreicher Stabilität und Kontinuität immer seltener wird, scheint für Eltern der Seiltanz der Erziehung allerdings zunehmend zu einem Hochseilakt zu mutieren. Die Befürchtungen, vielleicht nicht die richtigen Entscheidungen für das Wohl des Kindes zu treffen, engen viele Eltern in ihrem Handeln ein. Ein Großteil der Eltern fühlt sich zudem in dieser Hinsicht von der Gesellschaft allein gelassen, die eigentlich eine Art Sicherheitsnetz für Familien bieten könnte.

Die Tendenz, dass die Freiräume des Kindes und auch die seiner Eltern Zukunftsängsten zum Opfer fallen und verschwinden, nimmt immer mehr zu.

Deshalb möchte ich mit diesem Buch Eltern in ihrer Rolle als Erzieher unterstützen. Ich werde Wege aufzeigen, die Eltern und ihre Kinder in ihrer Beziehung zueinander stärken. Das gegenseitige Vertrauen in der Familie ist dabei der Ausgangspunkt der Erziehung. Einer Erziehung, die Kindern die Freiräume lässt, die notwendig für das lebenslange und selbstständige Sammeln eigener Erfahrungen sind. Einer Erziehungshaltung, die auch die Eltern nicht einengt bis zur Selbstaufgabe. Einer Erziehung, die dem Kind den Rückhalt und die Sicherheit gibt, reif zu werden für das eigene Leben.

Wir können auf Vertrauen setzen in der Erziehung, davon bin ich überzeugt. Wie diese Haltung Eltern und Kindern eine grundlegende Hilfe sein kann, werde ich in fünf Abschnitten aufzeigen: Im ersten Kapitel skizziere ich die wesentlichen Phasen, in denen ein Kind seine Persönlichkeit entwickelt: Es beantwortet die Fragen: »Wer ist Ihr Kind?« beziehungsweise »Wie wird es, wer es ist?« Anschließend gehe ich auf den allgemeinen, den größeren Rahmen ein, in dem die Erziehung stattfindet. Denn diese Einflüsse, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind, wirken unmittelbar in die Erziehung hinein. Im dritten Kapitel geht es um die für das Kind zentralen Beziehungen, die zu seinen Eltern – und umgekehrt um die Stellung der Eltern zu ihrem Kind. Danach werden im vierten Kapitel Supermamas und Superpapas betrachtet, denn an sich ist es der natürliche Wunsch aller Eltern, ihre Aufgabe wirklich gut, sehr gut zu bewältigen. Dabei – oft gerade dann, wenn man es besonders gut machen will – tun sich Fallen auf, durch die das angestrebte Gute ins Gegenteil verkehrt werden kann. Schließlich, im fünften Kapitel werde ich wesentliche Aspekte und Wege darstellen, wie »Frei sein« gelingen kann – für die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit und für die Kinder in ihrem Wachsen und Reifen.

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, aus der Lektüre Impulse mitnehmen, die Ihnen helfen, auf Vertrauen zu setzen und Freiräume für Ihr Kind und auch für sich zu wahren und vielleicht auszubauen, dann erfüllt sich das Anliegen, das ich mit diesem Buch habe. Ich freue mich, wenn Sie es mich wissen lassen; Anregungen und Kritik sind mir ebenfalls willkommen. Nutzen Sie dafür bitte meine Website: www.stephan-valentin.com

Haben Sie eine gute Lektüre.

Stephan Valentin

Wer ist Ihr Kind?

Für Eltern ist es hilfreich, sich bewusst zu machen, wo ihr Kind in seiner Entwicklung steht und was für es zu welcher Zeit wichtig ist. In jedem der sechs großen Entwicklungsstadien richtet sich das Kind auf einen besonderen Aspekt aus. Der folgende Überblick zeigt, worin Eltern ihr Kind in diesen Schritten unterstützen können.

Ihr Kind ist einmalig

Jedes Kind ist einmalig – und das nicht nur in den stolzen Augen seiner Eltern. Sein Wesen, seine Eigenschaften und Fähigkeiten machen es zu einer einzigartigen Persönlichkeit, die unverwechselbar ist. Diese Einmaligkeit wird durch die Erbanlagen definiert, mit denen es auf die Welt kommt, und ganz besonders durch postnatale Einflüsse, wie zum Beispiel die Eltern-Kind Beziehung.

Aber auch schon während der Schwangerschaft entwickelt sich jedes Kind durch das Zusammenspiel vieler Faktoren zu einem einmaligen Wesen. Wie verläuft die Schwangerschaft? Hat die Mutter einen gesunden Lebensstil? Welchen Stimulationen wird das Kind im Bauch der Mutter ausgesetzt? Es befindet sich nicht in einem Vakuum. Es begleitet seine Mutter und erlebt in gewisser Hinsicht mit, wie sie ihre Tage verbringt. So strampelt der werdende kleine Mensch ab der zwölften Schwangerschaftswoche mit, wenn Mama sich regelmäßig bewegt und Sport treibt. Wenn Mama zu Tisch ist, isst ihr Ungeborenes sozusagen mit. Durch eine ausgewogene Ernährung kann sie ihm eine ganze Palette verschiedener Geschmacksrichtungen anbieten, die nach der Geburt eine Basis für seine eigenen Präferenzen darstellen können. In einem Experiment aßen zum Beispiel Mütter zum Ende der Schwangerschaft sechs Wochen lang täglich einige Anisbonbons. Nach der Geburt reagierten die Babys positiv auf diesen Geschmack. Durch die Bauchwand nimmt das Ungeborene ab dem sechsten Monat Stimmen wahr; kommunizieren die Eltern mit ihm, indem sie mit ihm sprechen oder etwas vorsingen, beginnt es sehr früh zu spüren, dass es nicht allein auf der Welt ist. Mamas Bauch liebevoll berühren oder streicheln dient ebenfalls der Kontaktaufnahme. Das Ungeborene kann zum Beispiel auf einen leichten Druck auf den Bauch mit Bewegungen reagieren. Etwas, was zu einem Spiel werden kann. Legt man seine Hand an eine bestimmte Stelle auf den Bauch, wird das Ungeborene mit einem kleinen Tritt von innen darauf reagieren. Gerade dieses gegenseitige Sich-Wahrnehmen führt zu emotionsreichen Momenten.

Werdende Eltern kommunizieren also nicht erst nach der Geburt mit ihrem Baby. Das Mutter-Vater-Kind-Trio formt sich bereits Monate zuvor und baut langsam eine Bindung auf. Durch das Vermitteln ihrer positiven Emotionen, insbesondere durch die Stimme und durch die Reaktionen des Ungeborenen auf die Signale seiner Eltern, kann schon während der Schwangerschaft der Grundstein für das gegenseitige Vertrauen in der Eltern-Kind-Beziehung gelegt werden. Die vorgeburtlichen Erfahrungen des Kindes werden Teil seiner individuellen Entwicklung sein, die es so einmalig macht. Und dabei ist es von Anfang an nicht allein.

Das Leben und der Kontakt mit anderen Individuen nehmen, durch den Einfluss, den diese täglich aufeinander ausüben, einen großen Platz in der Individualität eines Menschen ein. Wir alle sind Teil von Gemeinschaften, im kleineren Sinne (Mitglied der Familie) wie im größeren (zum Beispiel als Teil eines Volks). Schon der Philosoph Aristoteles bezeichnete uns als ein soziales Wesen, das Gemeinschaften aufbaut und von ihnen geprägt wird. Menschen brauchen das Leben in der Gemeinschaft. Sie ist Teil unseres Daseins. Und es gibt sehr viele unterschiedliche Wege, Gemeinschaften zu erleben und auszuleben: Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Glaubensgemeinschaften, Vereinsmitglieder oder eine Nation … Von Anfang an sind wir auf den Anderen angewiesen. Jedes Kind, das in unsere Welt hineingeboren wird, steht zum Beispiel vom ersten Atemzug an vor einer großen Herausforderung. Es muss ihm gelingen, so klein und hilflos es noch ist, seine Eltern, insbesondere seine Mutter oder die Person, die es ernähren und liebevoll umsorgen wird, an sich zu binden, damit sein körperliches und emotionales Überleben gesichert ist. Sein angeborenes Bindungsverhalten hilft ihm dabei. Durch Weinen und Klammern gelingt es dem Säugling zum Beispiel, seine Mutter beziehungsweise seine Bezugsperson zu rufen und sie bei sich zu behalten. Babys lieben und brauchen die Nähe ihrer Eltern und suchen besonders den Körperkontakt zu ihnen. Sogar das Babylächeln schafft Nähe zu Mama, denn es aktiviert in ihrem Gehirn das Belohnungszentrum, ähnlich wie eine Droge. Kein Wunder, wenn nach einer schlaflosen Nacht alles mit einem Babylächeln vergessen ist! Und was macht man, wenn ein Baby so süß lächelt? Man bleibt bei ihm, nimmt es vielleicht auf den Arm und will es weiter zum Lächeln bringen. Babys erkennen schnell, dass ihr Lächeln Kontakt schafft und aufrechterhält. Forscher gehen übrigens davon aus, dass emotionale Gesichtsausdrücke eine genetische Ursache haben. Freude durch ein soziales Lächeln (Widerlächeln) zu zeigen gehöre dazu.

Immer wieder wird das Baby erleben, dass es Fähigkeiten besitzt und nach und nach neue erlangen wird, um mit seinen Mitmenschen in Interaktion zu treten und eine Beziehung beziehungsweise eine Bindung aufzubauen und zu festigen. Emotionen sind in dieser Hinsicht ein wichtiger Baustein in der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie Emotionen Beziehungen festigen können, dafür ist besonders die Gemeinschaft »Familie« mitverantwortlich. Hier wird das Baby seine ersten sozialen Erfahrungen machen und in der Eltern-Kind-Beziehung sowie durch die elterliche Erziehung lernen, welche Auswirkungen Emotionen auf den Mitmenschen, aber auch auf es selbst haben können. Mit seinen eigenen Emotionen umgehen zu können ermöglicht, in Harmonie mit seinen Mitmenschen zu leben. Und das ist nicht immer so einfach, denn Einmaligkeit kann anstrengend sein, wenn sie außer Rand und Band gerät. Kinder stellen das selbst schnell fest, wenn sie auf andere Kinder treffen, die genauso einmalig sind wie sie und glauben, nur ihre eigenen Emotionen und Bedürfnisse hätten Vorrang.

»Ich bin einmalig« ist allerdings kein Freibrief für »Ich kann machen, was ich will«. Damit alle miteinander auskommen, ist es unabdingbar, sich anpassen zu können. Individuen, so einzig und unterschiedlich sie sind, benötigen eine gemeinsame Basis an sozialen Kompetenzen und Werten, die ein harmonisches Zusammenleben in der Gemeinschaft möglich machen. Als einmaliges Individuum sind wir nun mal auch Träger von Verantwortungen, Pflichten und Rechten. Nicht umsonst heißt es im Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt …«1. Erst im gegenseitigen Respekt kann sich Einmaligkeit positiv entfalten und dennoch nicht als Grenze fungieren, die uns Individuen voneinander trennt.

Doch auch wenn Gemeinschaft eine wichtige Funktion hat, so muss gewährleistet sein, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, sich zu einem eigenständigen Individuum mit seiner ihm eigenen Persönlichkeit zu entwickeln. Die Gemeinschaft sollte daher nicht das Kind verdecken, sondern versuchen, es mit seinen individuellen Fähigkeiten hervorzuheben, die wiederum die Gemeinschaft positiv bereichern können. Sie sollte aber auch nicht versuchen mit allen Mitteln eine »künstliche« Einmaligkeit zu schaffen und das Kind zu einer Einmaligkeit zu drängen, die nicht seinem Wesen entspricht und es im Grunde überfordert. Wird dieses Anliegen aber in der Realität respektiert?

In der gegenwärtigen leistungsorientierten Gesellschaft versuchen zahlreiche Eltern immer früher, ihr Kind zu fördern, um es genau auf diesen Leistungsdruck vorzubereiten. Kein Wunder, wenn manche Kleinkinder keine Zeit mehr zum Spielen haben und sagen: »Ich bin beschäftigt!« Das aktuelle Leitmotiv der Kindererziehung scheint häufig »Fördern und fordern« zu sein. Dabei laufen Eltern Gefahr, ihr Kind zu einem Produkt zu machen. Die natürliche Einmaligkeit eines jeden Menschen wird in diesem Zusammenhang zunehmend unter Druck gesetzt, fortwährend Außerordentliches zu leisten. Die Einmaligkeit soll in Form einer großen Leistung, sei es im Sport, in den Sprachen oder in einer der Künste, nach außen hin sichtbar gemacht werden. Während diese Art »Einmaligkeitstraining« des Kindes beruhigend auf seine Eltern wirken kann, setzt sie das Kind unter einen enormen Druck: Es meint, erst durch eine über dem Durchschnitt liegende Leistung in den Augen der Eltern und der Gesellschaft existieren zu können. Das Kind hat nicht mehr die Möglichkeit, seine Einmaligkeit selbst im Laufe seiner Entwicklung zu entdecken. Sie wird ihm von klein auf anerzogen. Manche Volkshochschulen berichten mittlerweile, dass Eltern sogar schon Chinesischkurse für ihre Zweijährigen verlangen und empört reagieren, wenn ihrer Anfrage nicht nachgegeben wird. Viele Babys haben einen vollgepackten Tagesablauf in dem von Babymassage bis Lern-DVD oftmals nichts ausgelassen wird, um es auf sein späteres Leben vorzubereiten. Dabei wird nicht immer auf die reale Veranlagung beim Kind geachtet, sondern ein Ziel angestrebt, für das sich meistens die Eltern entschieden haben – lange bevor das Kind selbst in der Lage wäre, Entscheidungen zu treffen oder seine Talente zu erkennen. Wird aber auf diese Weise die Individualität eines Kindes respektiert? Kann es sich so frei entfalten? Handelt es sich nicht eher um das Umsetzen eines Wunschbildes, das den Eltern hauptsächlich von der Gesellschaft suggeriert wird. »In Zürich bekommen 60 % – mehr als die Hälfte! – der Grundschulkinder eine Therapie, obwohl sie gesund sind. Es fehlt ihnen nichts, nur Eltern und Lehrer wollen sie anders haben«2, stellt Remo Largo, der renommierte Professor für Kinderheilkunde, fest. Daran erkennt man, welche Anforderungen auf den Schultern vieler Kinder lasten und welche verheerenden Signale von der Gesellschaft gesendet werden.

In den letzten Jahren wurde zudem deutlich, dass es manchen Eltern schon von Anfang an, schon vor der Zeugung nicht reicht, wenn das Kind so geboren wird, wie es eben ist. Mediziner berichten von Eltern, die sich für eine Gen-Manipulation interessieren, um spezielle Wünsche wie das Aussehen ihres Kindes genau im Voraus zu planen. Bis jetzt wurden diese Bitten abgelehnt, aber US-Samenbanken berichten von einer erhöhten elterlichen Nachfrage nach intelligenten Nachkommen. Schon im Jahre 1979 hat Robert Klark Grahams Spermabank »Repository for Germinal Choice« bei San Diego damit angefangen, unter anderem Samenspenden von Nobelpreisträgern zu speichern, um die Zeugung von scharfsinnigen Kindern voranzutreiben. Innerhalb von zwei Jahrzehnten, bis 1999 die umstrittene Spermabank geschlossen wurde, sollen 215 »Superbabys« gezeugt worden sein. Allerdings ohne die Spenden der drei Nobelpreisträger, da sie zu alt waren und deren Sperma nicht besonders fruchtbar war. Von den Superbabys hat man bisher nichts mehr gehört. Vielleicht auch, weil die Eltern sie schützen möchten.

Wenn auch bisher nur wenige Eltern solche extremen Wege gehen, ist doch eins sicher: Viele Eltern stehen wie ihre Kinder unter einem enormen gesellschaftlichen Druck. Es wird ihnen vermittelt, dass wünschenswert ist, einer von der Gesellschaft anerkannten Norm zu entsprechen. Manche Eltern greifen zu allen möglichen Mitteln, um den Anforderungen zu entsprechen. Wohl wissend, wer nicht in dieses gesellschaftliche Raster reinpasst, fällt durch. Von wem aber werden diese Kinder dann aufgefangen?

Alle Kinder sind extrem unterschiedlich. Doch alle haben sie wohl etwas gemein – das Streben nach Individualität: »Ich möchte so sein, wie ich bin!« Gerade das macht sie einmalig, macht sie zu einem Individuum. »Du darfst so sein, wie du bist.« – Das ist die Basis für ein gesundes Selbstvertrauen und eine positive Selbstwahrnehmung. Das Kind begreift, dass es eigene Gedanken und Erinnerungen hat und haben darf. Wie jedes Kinder aber Individualität spürt und ausleben darf, das hängt besonders von zwei Menschen ab – von Mama und Papa. Eltern, die die Einmaligkeit ihres Kindes annehmen und die ihrem Kind die zentrale Botschaft »Wir lieben dich so, wie du bist!« vermitteln, öffnen dem Kind die Tür für die Entwicklung seiner Persönlichkeit.

Ihr Kind ist, was man ihm gibt

Beziehungen zu anderen spielen schon in der frühen Kindheit eine wichtige Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung. Das Kind begreift sich als soziales Wesen durch Anregungen von außen und durch Kontakt mit anderen Menschen. Auf dem Weg zur eigenen Identität wird es vor allem von seinen familiären Beziehungen geleitet. In der Familie wird es zum Beispiel im ersten Lebensjahr sein emotionales Ur-Vertrauen aufbauen, unter dem der Psychoanalytiker Erik H. Erikson das »Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens« versteht und das er als den »Eckstein der gesunden Persönlichkeit«3 bezeichnet. Dieses positive Grundgefühl, »Ich kann anderen vertrauen. Sie sind mir gut gesinnt!«, ist das Fundament für ein gesundes und eigenständiges Leben. Es basiert auf emotional positiven und liebevollen Erfahrungen des Babys mit seinen Bezugspersonen. Da es sich nicht allein versorgen kann, muss es seinen Eltern signalisieren, wenn es sie braucht und was es braucht: körperliche Sicherheit, Nahrung, Geborgenheit … Durch sein Schreien und Weinen versucht das Baby sich mitzuteilen, und es erfährt durch das regelmäßige Antworten auf seine Signale, dass es Vertrauen in Mama und Papa haben kann. Sie stillen seine Bedürfnisse. Es kann sich auf seine Eltern verlassen. Damit gewinnt das Kind ein inneres Gefühl der Sicherheit und macht die Erfahrung, dass es auf seine Umwelt einwirken kann, und es entwickelt gleichzeitig sein Selbstvertrauen.

Was Erikson als Ur-Vertrauen bezeichnet, nennt der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby eine »sichere Bindung«. Wir alle haben das universelle menschliche Grundbedürfnis, enge emotionale Bindungen zu Mitmenschen einzugehen. »Bindung kann definiert werden als das gefühlsmäßige Band, welches eine Person oder ein Tier zwischen sich selbst und einem bestimmten anderen knüpft – ein Band, das sie räumlich verbindet und das zeitlich andauert.«4 Schon während der Schwangerschaft beginnt die Mutter-Kind-Bindung zum Beispiel durch ihre Haltung gegenüber dem Ungeborenen; nach der Geburt wird sie weiter gefestigt. Durch das angeborene Bindungsverhalten wie Schreien, Lächeln, Festklammern, Krabbeln zur Mutter sucht der Säugling die Nähe zu seiner Mutter. Durch die Antworten der Mutter und nun auch des Vaters auf sein Bindungsverhalten fühlt sich das Neugeborene wie oben ausgeführt beschützt und erfährt, dass ihm zum Beispiel bei Schmerz, Angst oder Hunger geholfen wird.

Je besser die Bezugsperson, auch Bindungsperson genannt, auf die Bindungswünsche des Babys eingeht, desto sicherer wird die Bindung sein. Je sicherer die Bindung ist, desto mehr wird das Kind seine Umwelt aktiv und allein erkunden können und dabei die Trennung von seiner Bezugsperson oder seinen Bezugspersonen verkraften, ohne dass dies sein Verhalten negativ belastet. Daraus resultieren ein starkes Selbstwertgefühl und eine gesunde Entwicklung beim Kleinkind.

»Ich bin, was man mir gibt« kann man diese Phase der Entwicklung nennen. Werden dem Kind seine Wünsche nach körperlicher Nähe, Schutz, Nahrung und Sicherheit von seinen primären Bezugspersonen verweigert, die für sein Überleben notwendig sind, besteht die Gefahr, dass das Baby eine »unsichere Bindung« entwickelt, was Erikson als Ur-Missvertrauen bezeichnet. Dieses tief empfundene Misstrauen beim Kind nährt sich von ständigen Abweisungen. Starke Verlustängste und andere infantile Ängste können dadurch entstehen. Die Folgen eines verletzten Vertrauens können sich, so Erikson, später im Leben des Erwachsener manifestieren: »Ein solcher Mensch zieht sich in einer bestimmten Weise in sich zurück, wenn er mit sich uneins ist«5. Dies wird er besonders dann tun, wenn er mit Konflikten in seinem sozialen Umfeld konfrontiert wird.

Wenn die Eltern oder die Bezugspersonen sich nicht immer sofort um ihr Baby kümmern können, entwickelt sich nicht automatisch ein Ur-Missvertrauen. Mit der Zeit muss so manches Baby feststellen, dass seine Eltern nicht ständig sofort oder auch einmal gar nicht auf seine Signale eingehen. Seine Forderungen werden verweigert. Redewendungen wie »Lass es nur schreien, das kräftigt seine Lungen« oder »Lass es nur schreien, dann bekommt es ein starke Stimme« werden auch heute noch vielen bekannt sein. In Frankreich sagt man übrigens, »Lass es nur weinen, dann pinkelt es weniger«. In der westlichen Kultur herrscht oft die Vorstellung, dass es gut für ein Kind ist, sich allein und ohne die Hilfe seiner Eltern zu beruhigen. Man glaubt, dass es dann schneller autonom wird. Es ist aber längst bewiesen worden, dass Kinder, die man im ersten Lebensjahr schnell beruhigt hat, mit zwölf Monaten viel autonomer sind, als Kinder, die man oft weinen oder schreien lassen hat. Auch hier spielt sicher die wiederholte positive Erfahrung eine wichtige Rolle, dass die Eltern da sind, wenn das Baby sie braucht. So kann es auch später viel besser allein sein, denn es weiß, »Mama oder Papa wird kommen, wenn ich Angst habe«. Auch wenn also nicht gleich ein Ur-Missvertrauen durch das gelegentliche Ignorieren der Signale des Babys entstehen muss, ist es dennoch ratsam gerade im ersten Lebensjahr schnell auf die Signale seines Babys einzugehen, besonders dann, wenn auch die innere Stimme Mama und Papa dazu drängt.

Die Familie, in die ein Kind hineingeboren wird, ist eine Art sozialer Mikrokosmos in welchem es seine Identität ausbilden kann. Die Eltern samt ihren Verhaltensweisen und Werten wirken als Modell auf das Kind ein. Und Kinder saugen alles auf, was sie bei ihren Eltern beobachten können. Für die Erziehung ist dies eine ideale Vorraussetzung, denn so können die Eltern ihr Kind erziehen, indem sie ihm vorleben, was sie für wichtig halten. Aber was bedeutet eigentlich Erziehung? »Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen mit psychischen und (oder) sozial-kulturellen Mitteln in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten«6, erklärt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka. Wichtig ist natürlich, dass die Eltern diese Rolle des Erziehers auch annehmen und nicht erwarten, dass jemand anderes diesen Job für sie erledigt. Ein Kind braucht in erster Linie seine Eltern, damit durch Erziehung seine Persönlichkeitseigenschaften gefördert werden. Natürlich sind die Eltern dabei nicht allein. Die Familie im großen Sinne, das heißt Geschwister, Großeltern und Verwandte fungieren ebenfalls als primäre Sozialisationsfaktoren. ErzieherInnen, LehrerInnen, PädagogInnen etc. unterstützen ebenfalls die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Doch »Eltern sind noch immer die wichtigsten Erzieher, und die Lebensgemeinschaft der Familie ist zugleich die wichtigste Erziehungsgemeinschaft. Alle anderen Erzieher in Kindergärten und Horten, Schulen und Heimen können nur ergänzen, was die Eltern erzieherisch leisten sollen, aber sie können es nicht vollwertig ersetzen. Sie sind bloß für Teile der gesamten Erziehung verantwortlich. Die Verantwortung für die Erziehung als Ganzes liegt bei den Eltern«7. Je mehr sich Eltern bewusst sind, dass sie für die psychische und physische Entwicklung ihres Kindes die Hauptverantwortlichen sind, und zwar von Geburt an, genauer gesagt ab der Schwangerschaft, umso besser wird ein Kind auf das Leben in der Gemeinschaft vorbereitet werden. In der Eltern-Kind-Beziehung wird das Fundament für seine emotional stabile Persönlichkeit gelegt. Eltern können daher stolz darauf sein, dass sie einen Anteil daran haben, dass ihr Kind sich sicher in unserer Welt fühlt und zufrieden mit sich ist, indem sie ihm das dazu Notwendige mit auf seinen Weg geben.

Ihr Kind ist, was es will

Im zweiten Lebensjahr beginnt das Kind zu laufen und zu sprechen. Es kann nun noch besser die Welt erkunden und sie durch seine Fragen verstehen lernen. Anfangs noch mit wackeligen Schritten geht es auf seine Unabhängigkeit zu, indem es sich physisch von seiner Mutter und seinem Vater entfernen kann. Es kann mehr allein machen und traut sich allmählich auch mehr zu. Doch noch etwas anderes, eine weitere Etappe in der Entwicklung, unterstützt seine Emanzipation von seiner primären Bezugsperson: die anale Phase.

Für Sigmund Freud befindet sich das Kind jetzt im zweiten Stadium seiner psychosexuellen Entwicklung. War im ersten Stadium des Säuglingsalters, der sogenannten oralen Phase, der Mund die primäre Quelle der Befriedigung (Saugen, Lutschen am Daumen, Nuckeln), so steht nun die Kontrolle des Afters im Mittelpunkt seiner Befriedigung oder besser gesagt, das Ausscheiden oder Zurückhalten von Exkrementen. Die anale Phase ist zwischen dem 18. Lebensmonat und dem dritten beziehungsweise vierten Lebensjahr. Sie dreht sich nicht nur um die Kontrolle des Schließmuskels. Sie ist ein wichtiger Angelpunkt, was die Autonomie des Kindes und die Beziehung zu anderen betrifft. Das Kind erkennt, dass es in gewisser Weise seinen Körper kontrollieren und so seine eigene Individualität ausdrücken kann. Es begreift sehr schnell, was seine Eltern von ihm erwarten. Denn während das Kind seine zwei neuen Fähigkeiten, »festhalten« und »loslassen«, austestet, ist es in den Augen der Eltern vor allem Zeit, das Kind zur Reinlichkeit zu erziehen. Töpfchen-Training ist angesagt! Das Kleinkind wird sich bewusst, dass es ganz allein an ihm liegt, ob es den Wunsch der Eltern nach Sauberkeit erfüllt oder eben nicht. »Mach ich in das Töpfchen oder nicht?« Das ist die Frage: Wer ist stärker? Wer ist mächtiger? Und vor allem: Wer hat Macht über wen? Jetzt hat das Kind nicht nur die Möglichkeit, sich den Eltern zu widersetzen, indem es zum Beispiel beim Essen die Lippen zusammenpresst. Nun kann es auch noch bestimmen, ob das, was oben rein kommt, unten wieder rausgeht. Und lohnt sich das überhaupt? Immerhin wollen die Eltern unbedingt, dass ihr Kind ins Töpfchen macht, was das Kind als eine Art Geschenk an Mama und Papa versteht, und dann wird einfach die Spülung gezogen und das »Präsent« verschwindet irgendwohin. Das ist bestimmt nicht einfach zu begreifen, wenn man noch klein ist.

Das stolze Betrachten oder das Spielen mit seinen Exkrementen – nicht umsonst spricht man auch von der »Matschphase« – stößt bei den Eltern auf Ekel. Das Herummatschen setzt sich dann fort beim Essen oder draußen im Schlamm. Und all das macht dem Kind ja so Spaß – auch weil es auf diese Art und Weise seine Aggressivität gegenüber seinen Eltern ausdrücken kann. Mama oder Papa seine Fäkalien zu reichen, ist sicher nicht als Friedensangebot zu deuten. Redewendungen mit aggressivem Charakter wie »Scheiß mich nicht an!« unterstreichen dies. Auch noch nach der analen Phase kann es, wenn die Eltern-Kind-Beziehung gestört ist, immer wieder zu Vorfällen kommen, wo das Kind zum Beispiel in die Badewanne »groß macht« und so lange im Wasser bleibt, bis die Eltern es aus dem Wasser holen. »Warum hast du denn das gemacht? Wieso bist du denn nicht aus der Wanne gestiegen?«, fragte zum Beispiel genervt eine Mutter ihre siebenjährige Tochter im Rahmen einer Therapiesitzung. Die zuckte nur die Achseln. Doch ihr Verhalten sagt an sich schon alles.

Die anale Phase ist eine sehr wichtige Etappe in der Entwicklung eines Kindes. Wie verhält man sich aber als Elternteil? Natürlich wünschen sich die meisten Eltern, dass ihr Kind schnell sauber wird, weil es so autonomer wird, und mit den Windeln ist dann auch endlich Schluss. Generell sollte die Sauberkeitserziehung nicht zu früh beginnen. Es sollte ebenfalls vermieden werden, dass Druck auf das Kind ausgeübt wird. Manche Eltern beginnen mit diesem Training schon ab dem 12. oder 18. Lebensmonat, was jedoch nicht viel Sinn macht, denn erst mit zwei oder zweieinhalb Jahren ist das kindliche Gehirn fähig, die Ausscheidefunktion zu kontrollieren und überhaupt zu begreifen, um was es bei diesem wichtigen Entwicklungsschritt eigentlich geht. Ratsamer ist es, ruhig und geduldig zu bleiben und das Kind in diesem Schritt zur Sauberkeit zu begleiten, es also positiv dabei zu unterstützen. Kinder lernen auf die Signale ihres Körpers zu achten; zum Beispiel einen vollen Darm oder eine volle Blase bemerken sie zunächst im Nachhinein, durch das Bemerken einer vollen Windel, später stellen sie rechtzeitig das Völlegefühl fest. Sigmund Freud geht davon aus, dass die Art und Weise, wie das Kind die anale Phase löst, als eine Art Muster für Lösungen späterer Konflikte funktioniert.

In der analen Phase hören Eltern übrigens am meisten das Wörtchen »Nein«, denn sie fällt zusammen mit der Oppositionsphase. »Nein, nein, nein!« In jeder Situation wird es Mama oder Papa entgegengeschrien, selbst wenn es nur darum geht, dem Kind die Tür aufzuhalten. Das ist eine schwierige Zeit für die Eltern und benötigt viel Kraft und Energie. Für das Kind spielt dieses »Nein« aber eine sehr große Rolle in der Entwicklung seiner Autonomie. Indem es »Nein« sagt, grenzt es sich als eigenständiges Individuum von seinen Eltern ab. Es beginnt über sich und sein Leben zu bestimmen und eigene Entscheidungen zu fällen.

Für den Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der seine Theorie der Identitätsentwicklung auf der Freudschen aufbaute, befindet sich das Kind im zweiten und dritten Lebensalter ebenfalls in einem wichtigen Stadium hinsichtlich seiner psychosozialen Entwicklung. Es sei »entscheidend für das Verhältnis zwischen Liebe und Hass, Bereitwilligkeit und Trotz, freier Selbstäußerung und Gedrücktheit«8. Das Kind lernt etwas mit seinem eigenen Willen festzuhalten oder loszulassen.

Was aber, wenn die Autonomiebestrebungen des Kindes von seinen Bezugspersonen nicht toleriert oder stark unter Druck gesetzt werden? Wenn sie zu sehr ihr Kind kontrollieren und es ständig kritisieren? Gerade die Erziehung rund um die Reinlichkeit kann Schauplatz von Beschimpfungen werden und Schuldgefühle verursachen, wenn Eltern zu viel fordern. »Warum hast du denn nichts gesagt?!« oder: »Musste das denn jetzt sein?!« Die Beschäftigung des Kindes mit seinen Ausscheidungen wird manchmal auch wie ein Tabu geahndet. Alles, was nicht sauber ist, wird negativ bewertet. »Mach dich ja nicht dreckig!« Doch wird das Kind in seiner Autonomieentwicklung durch übertriebenes Eingreifen seiner Eltern gehindert, kann dies zu Scham und Zweifel an der Richtigkeit seiner eigenen Wünsche führen. Muss sich das Kind ständig ihrem Willen unterwerfen, wird ihm vermittelt, dass es sich unterwerfen muss, um geliebt zu werden.

Für Erikson befindet sich das Kleinkind in dieser Phase in einer psychosozialen Krise, die durch die wachsenden Forderungen von seinen Bezugspersonen an das Kind entsteht, aber auch durch die Forderungen an sich selbst. Entsprechen diese Forderungen seinen tatsächlichen Fähigkeiten? Das Kind zweifelt in gewisser Hinsicht ohnehin etwas an sich selbst. Es sollte ihm daher vermittelt werden, dass die Eltern sein Verlangen nach Autonomie gutheißen, dies akzeptieren, unterstützen und vor allem verkraften können. Also, dass sein Verhalten nicht »schmutzig« ist und keineswegs die Eltern-Kind-Beziehung gefährdet. Laut Erikson führt beim Kind die gelungene Bewältigung der analen Phase zu einem dauernden »Gefühl von Autonomie und Stolz«9 und auch zur Überzeugung »Ich bin, was ich will«.

Natürlich hat das Kind ein Recht auf Bedürfnisse und Wünsche, und bestimmt ist es nötig, das Erwachen seiner Autonomie zu unterstützen. Das heißt aber nicht, dass man ihm alles erlaubt, aus Angst, man könnte hier negativ auf seine Entwicklung wirken. Nicht nur das Kind, sondern auch seine Eltern dürfen »Nein« sagen. Angebrachter Widerstand vernichtet nicht gleich den freien Willen eines Kindes. Im Gegenteil, wie oft spürt man nicht als Elternteil, dass das Kind sie testet?

Konflikte sind durchaus positiv, denn das Kind wird mit Regeln, Normen und Werten der Gesellschaft konfrontiert, mit denen es nicht unbedingt einverstanden ist. Der Konflikt besteht einerseits zwischen ihm und seiner Umwelt, hauptsächlich mit seinen Bezugspersonen, und andererseits spielt er sich im Inneren des Kindes ab. Es will etwas haben, kommt aber nicht damit durch. Mithilfe von Grenzen werden aber Regeln nach und nach verinnerlicht, und Kinder erfahren so, dass wenn sie die anderen respektieren, sie selbst ebenfalls Respekt entgegengebracht bekommen. Wichtig ist als Elternteil, dem Kind seinen Freiraum zu lassen, in dem es seinen Willen ausleben kann, aber der andererseits durch Regeln schützende Grenzen aufweist. Erikson kritisiert ein übermäßiges Eingreifen der Eltern. Er empfiehlt: »Sei gegenüber dem Kind in diesem Stadium zugleich fest und tolerant, und es wird auch gegen sich selbst fest und tolerant werden.«10 Um das Bestreben nach Autonomie bei seinem Kind zu gewähren, bedarf es einer wichtigen Vorraussetzung – die Eltern beziehungsweise die primären Bezugspersonen müssen sich in das Kind und seine Bedürfnisse hineinversetzen können. Das heißt, hier wird an ihr eigenes Gefühl und Verständnis von Autonomie und Unabhängigkeit appelliert. Erlauben sie sich selbst Autonomie und Freiräume? Sich als Elternteil die Zeit zu nehmen, um diesen Aspekt zu hinterfragen, wird sicher hilfreich sein, um noch besser auf das Verlangen nach Autonomie bei seinem Kind antworten zu können.

Ihr Kind ist, was es sich zu werden vorstellen kann