Martin Koschorke

Männer haben keine Probleme.
Männer lösen Probleme.

Das ist das Problem.

Mit Zeichnungen von Klaus Martin Janßen

KREUZ

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotive: © shutterstock.com – Waren Goldswain,

© goodluz – Fotolia.com

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Buch) 978-3-451-61277-0

ISBN (E-Book) 978-3-451-80188-4

Inhalt

Warnung vor »den Männern«

1. Reden

Wenn die Sonne untergeht

Wenn sie endlich sagen würde, was sie will

2. Sich binden

Sich anstrahlen

Versprechen und erwarten

Das Kleingedruckte übersehen

Du stehst mir zur Verfügung

Konto führen

Bilanz ziehen

3. Überleben

Existenzielles Geschrei

Durchhalten, Nerven sägen

Überlebensprogramme

Auf Durchzug stellen, abtropfen lassen

Existenzielle Automatik

4. Reden, um zu reden. Reden, um zu lösen

Sackgasse Sex

Reden schafft Beziehung

Lösungsreden

Beziehungsreden

Suchmaschine fahndet nach Lösungen

5. Übersicher und Untersicher

Sicherheit vermitteln

Hilfe erbitten

Retten, gerettet werden

6. Zuschreiben

Soziale Luft

Zupacken, zuhören

(Er-)Wachsen

Wachstumsfolgen

7. Unterschiede

Testosteron und die Folgen

Bewegungsdrang

Den Hormonen ausgeliefert?

8. Männerquote, Männerschleier – alles einmal andersherum

Verschleierte Frauen

Verschleierte Männer

Frauenherrschaft

Noch ein Matriarchat

Gewohnheiten legen fest

9. Der ewige Hausbau

Verschiedene Sprachen

Verrechnet

Machen oder machbar?

Ein Haus ist nie fertig

10. Potenz und PS

Das Fahrzeug, die Identität

Am Steuer

Vater tot am Vatertag

11. Die Kleidung des Mannes – Territorium der Frau?

Wer zieht wen an?

Männliches Territorium, weibliches Territorium

Strick um den Hals

12. Mann, Familie, Beruf – Stress

Auf der Rutsche zur Besprechung

Reibungsverluste

Machtkampf oder Wechselbeziehung

Glück und Zufriedenheit daheim

13. Mann werden

Nicht ganz bei der Sache

Ein Chef der Kindererziehung

Zwei Chefs im Erziehungsterrain

14. Die Sprache der Gefühle lernen

Der große Bruder und die kleine Schwester

Das Verhalten der Eltern – Lesebuch für die Kinder

Gefühle ausdrücken schützt vor Gewalt

15. Männerparadies und Männerhölle

Ungestört

Gewalttätig

Vater-Sein – Anlage mit hoher Rendite

16. Warum Männer früher sterben

Krank sein – eine Kränkung

Religion Fußball

»Probleme gibt es nicht, nur Lösungen!«

Klippen

Heilmittel – über Alltägliches reden

17. Krieg oder Frieden

Scheinbilder

Der Marinesoldat

Amazonen

18. Gott – ein Mann?

Rabbi, Priester, Imam – alles Männer

Schöpfung männlich, Schöpfung weiblich

Ist Gott männlich?

19. Männer sind verschieden. Frauen auch

Mentale Verspätung

Mehrfachbelastung macht fit

Kooperation oder Konkurrenz?

Seine eigenen Prioritäten setzen

Literaturnachweise

Warnung vor »den Männern«

Männer. – Es gibt so viele davon. Allein in unserem Land sind es Millionen. Große und kleine, junge und alte, Kinder und Erwachsene. Dicke und dünne. Schwache und starke, aktive und passive. Selbstbewusste und ängstliche, Draufgänger und Feiglinge, mutige und vorsichtige. Humorvolle und verdrießliche, unternehmungslustige und scheue. Es gibt große Männer, damit ist diesmal nicht die Körperlänge gemeint. Kleine Männer können groß sein. Genauso gibt es große Frauen.

Und es gibt neue Männer. Haben Sie schon mal einen neuen Mann gesehen? Offensichtlich ist das eine ganz besondere Gattung. Wer als Mann vom neuen Mann spricht, scheint meist selbst keiner zu sein. Wer indessen dem Anforderungsprofil des neuen Mannes entspricht, weiß es oft selber nicht. Oder es ist ihm egal.

Männer und Frauen, Frauen und Männer – Begierde und Verlangen, Sehnsüchte und Träume, erfüllte und unerfüllte. Zugleich Minenfeld und Schauplatz für den Krieg der Geschlechter. Zeiten der Leidenschaft und Erfüllung, des Erfolgs und des Glücks wechseln mit Verletzungen und Niederlagen. Wo gekämpft wird, kommt es zu Angriffen, Überfällen, Hinterhalten. Unweigerlich führen Attacken zu Verteidigung und Sich-Verstecken, zu Rückzug hinter Schutzmauern oder Flucht. Auf beiden Seiten. Das Ergebnis erbitterten Streits ist am Ende leider allzu häufig Gewalt. Jeder fühlt sich als Opfer. Die Kämpfer bleiben mit heftigen Wunden zurück. Oder sie sitzen auf einem Sack ärgerlicher Gefühle: Wut, Schmerz, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Feindseligkeit, Hass. In Paarbeziehungen muss, wer den anderen besiegt, meist teuer dafür bezahlen.

Allerdings: das Spiel der Geschlechter ist nicht immer nur traurig oder tragisch. Oft genug ist es auch komisch. Es lädt zum Parodieren und Witze reißen geradezu ein. Was wäre die Weltliteratur ohne männlich-weibliche Verwicklungen? Worüber würde in Kabaretts noch gespottet oder gelacht? Außerdem ist das Thema einfach unerschöpflich. Frauen und Männer werden nie miteinander fertig. Also, noch ein Buch über Männer (und damit zugleich auch eins über Frauen)? Ja. So gewiss dies nicht das erste Männerbuch ist, so sicher wird es nicht das letzte sein. Wetten?

Bestseller leben von Vereinfachungen. Manche Bilder oder Beschreibungen sind arg simpel, der angebliche Tunnelblick der Männer zum Beispiel. Die angebliche Dummheit der Blondinen ist vielleicht auch nur eine Rache von Männern, die bei Frauen nicht landen. Auch die Behauptung »Frauen lieben zu viel und Männer lassen lieben« ist eine sehr grobe Zuschreibung. Werden Männer auf dem Mars angesiedelt und Frauen auf der Venus, so dürfte man sich eigentlich nicht darüber wundern, dass sie Beziehungsprobleme haben und sexuell frustriert sind. Und doch, wenn man Vereinfachungen mit Humor nimmt, treffen sie oft den Nagel auf den Kopf. Wenn auch nicht in jedem Fall und nicht für alle Männer (oder Frauen). Sie machen etwas deutlich, selbst wenn sie überzeichnen. Wie oft haben bei Vorträgen viele (nicht alle) Frauen herzlich gelacht, wenn ich sagte: »Männer haben keine Probleme. Männer lösen Probleme – das ist das Problem.« Und viele (nicht alle) Männer haben leicht irritiert geschaut, einige sogar geschmunzelt. So möge man mir den Buchtitel verzeihen. Ich will damit nicht Männer festschreiben. Ich möchte etwas schildern, was mir im Gespräch mit Männern und Paaren häufig begegnet.

In meinem Beruf höre ich Männern zu und rede mit ihnen. Als Berater begleite ich Paare bei ihren Versuchen, sich auseinanderzusetzen und zusammenzufinden, aufeinander zuzugehen oder voneinander loszukommen. Mein Eindruck ist jedes Mal: Ich begegne nicht Männern, sondern stets einem einzelnen Mann, einer einzelnen Frau, einem ganz besonderen Paar. Selbst in Männer- oder Frauengruppen habe ich das Empfinden: Mir tritt ein Einzelner, eine Einzelne gegenüber. Jeder ist er oder sie selbst. Keiner ist wie der andere. Jeder ist eine eigene Persönlichkeit, mit seiner eigenen Herkunft und Geschichte, seinen Gedanken und Überzeugungen, mit einem ganz eigenen Entwurf zu leben, zu fühlen, zu handeln, in seinem Körper und in der Welt zu sein. Und doch gibt es bei vielen Männern (und auch Frauen) Verhaltensweisen, die einander gleichen. Oftmals haben sie auch vergleichbare Folgen. Das mögen nun Sackgassen sein oder Auswege aus Engpässen.

Es gibt sie tatsächlich: Männer, die Probleme nicht haben, sondern sie nur lösen. Und es gibt mehr davon, als man denkt. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Mag sein, Sie erkennen sich (oder Ihren Partner) an der einen oder anderen Stelle wieder. Wenn Sie dann schmunzeln oder lachen, weil Sie sich eingestehen: So ähnlich ist es auch bei uns, dann haben Sie zugleich den Trost: Sie sind damit nicht allein auf der Welt.

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1
Reden

Wenn die Sonne untergeht

»Wir sollten mal über unsere Beziehung reden!«, sagt sie.

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Sie sitzen im Wohnzimmer. Es ist Abend. Der Tag war lang und anstrengend für ihn. Im Betrieb gab es Ärger, mal wieder. Der Chef hat gestresst und Druck gemacht. Auf der Heimfahrt dann auch noch Stau. Jetzt ist er müde. Er sehnt sich nach Ruhe. Ein Bier. Fernsehen. Ein schöner entspannter Abend. Das ist, was er jetzt braucht. Nur keine Konflikte.

Über die Beziehung reden. Auch das noch. Was soll das schon bringen? Gut, sie hat recht. Die Beziehung ist nicht mehr wie früher. Wir sind aber auch nicht mehr so taufrisch wie am Anfang, denkt er. Das ist eben so. Da kann man nichts machen. Wozu darüber reden? Reden ist ja nun wirklich das Letzte, was da hilft.

Seine Hand zuckt zur Fernbedienung. Aber er hält sich zurück. Wenn er etwas gelernt hat in 17 Ehejahren, dann dies: Wenn sie reden will und er den Fernseher einschaltet, ist die Hölle los.

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Dass von ihm nichts kommt, das kennt sie ja nun schon. Sie hat ebenfalls einen anstrengenden Tag hinter sich. Auf der Arbeit war die Stimmung ebenfalls nicht so toll. Kommt sie dann nach Hause, so stürzt der Haushalt auf sie ein. Die Kinder haben die Küche als Saustall hinterlassen. Die sind inzwischen auch in einem schwierigen Alter.

Das wäre alles gar nicht so schlimm, wenn sie sich darüber austauschen könnte. Eine Tasse Kaffee trinken oder ein Glas Bier und einfach ein bisschen nett miteinander reden. Aber wenn er zur Tür hereinkommt so wie heute, sieht sie gleich: Da wird nichts draus. Er ist müde, er ist zu. Er trägt einen unsichtbaren Schutzanzug. Der sagt: »Rühr mich nicht an. Lass mich in Ruh.« Da kommt sie nicht an ihn ran. Da fühlt sie sich abgewiesen. Wenn sie etwas gelernt hat in den 17 Jahren, in denen sie jetzt schon zusammenleben, dann dies: Wenn er nicht reden will und sie will reden und sie drängt ihn, dann wird alles nur noch schlimmer.

Doch sie hält es nicht mehr aus. So kann es ja nun nicht ewig weitergehen. Irgendwann muss sie mal ihren Mut zusammennehmen und die Situation ansprechen. Sonst stirbt die Beziehung völlig ab. Darum hakt sie nach. Mit etwas mehr Nachdruck. Ihre Stimme einen halben Ton höher.

»Wir sollten mal über unsere Beziehung reden!!«

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Inzwischen ist er so weit, dass er reagieren kann. Er rafft sich auf.

»Hm«, macht er.

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Was soll denn das nun heißen? Ist das alles, was er zu sagen weiß? Ein »Hm«, das reicht ja nun wirklich nicht.

»Hast du gehört? Wir sollten mal über unsere Beziehung reden!!!«

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Am liebsten würde er aufspringen und raus rennen, in den Hobbykeller, in die Kneipe, egal, irgendwohin. Nur weg. Aber er spürt: Das bringt jetzt auch nichts mehr. Ohne groß nachzudenken, weiß er: Wenn er jetzt aufsteht und verschwindet, dann kommt sie hinterher. Dann wird alles nur noch schlimmer. Dann kriegen es auch noch die Kinder mit. Oder die Nachbarn.

Darum macht er, obwohl total kaputt, einen übermenschlichen Kraftakt. Er stellt sich ihrem Drängen: Er haut nicht ab, er läuft nicht fort. Er bleibt und sagt:«Dann red’ doch!«

Wenn sie unbedingt reden will, dann soll sie es tun. Sie lässt sich davon ja eh nicht abhalten. Er weiß zwar nicht, was sie will. Aber er ahnt schon, was jetzt kommt: Unzufriedenheit. Jammern, dass es nicht mehr so ist wie früher. Klagen. Vorwürfe. Er kriegt mit: Sie ist frustriert, enttäuscht. Immer wenn sie mit ihm reden will, dann hört er: Sie will mir Vorwürfe machen. Dass ich nicht so bin, wie sie sich vorgestellt hat, dass ich bin. Doch dafür kann ich nichts, denkt er. Unwillkürlich geht er in Deckung, duckt sich weg.

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Das spürt sie. Sie will nicht, dass er zumacht. Denn das nützt ihr nichts. Sie wünscht, dass er sich öffnet. Dass er sich ihr zuwendet. Er schaut sie nicht einmal an. Er dreht die Fernbedienung in den Händen und starrt vor sich hin. Wie soll da ein Gespräch zustande kommen? Wie soll da Nähe entstehen? Wenn er so abweisend dasitzt?

Enttäuschung macht sich breit in ihr und Ärger. Immer soll sie den Anfang machen beim Reden. Stets müssen die Anstöße von ihr kommen. Ergreift sie dann die Initiative, so reagiert er wie ein halbtoter Fisch. Sie kann sich nicht mehr zurückhalten. Es brodelt in ihr. Wieder einen halben Ton höher stößt sie hervor: »Du bist ja gar nicht bereit zum Gespräch!«

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Das ist ja jetzt die Höhe, denkt er. Hat er etwa keinen ruhigen Abend verdient? Er hat ihr doch gesagt, sie soll reden. Wenn es schon sein muss, reden, dann soll sie doch endlich loslegen. Damit sie es hinter sich bringen. Die Champions League hat auch schon angefangen.

»Ich bin doch da!!«

Sein leicht genervter Ton ist nicht zu überhören. Miese Atmosphäre macht sich im Zimmer breit. Der Ärger hat beide angesteckt.

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»Wie du schon dasitzt! Du bist gar nicht wirklich bereit!«, faucht sie.

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»Und ich hatte mich so auf einen schönen Fußballabend gefreut!«, rutscht es ihm raus, halb resigniert, halb vorwurfsvoll. Zack, jetzt hast du’s ihr gegeben, meldet eine Stimme in seinem Hinterkopf.

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»Genau, was ich mir gedacht habe! Fußball ist dir viel wichtiger als ich!!«

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»Mein Gott!«, entfährt es ihm. Aber der kommt jetzt auch nicht zu Hilfe.

Die Gefühle werden heftiger, die Sätze immer kürzer. Die Haltung ist gespannt, die Köpfe werden rot, der Blutdruck steigt. Bis zum Höhepunkt fehlt nicht mehr viel.

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In Kürze wird sie schreien: »Hör endlich zu!«

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Er wird zurückblaffen: »Hör endlich auf!«

Oder umgekehrt. Oder beide gleichzeitig.

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Voll Wut verlässt sie den Raum. Immer dasselbe! Warum können sie bloß nicht miteinander reden? Warum?

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Und er denkt, während ein Knopfdruck den Bildschirm anschaltet und die Geräuschkulisse der Fußballfans das Wohnzimmer füllt: »Ich hab’s doch gewusst! Reden – wozu? Reden bringt nichts!«

Beide haben geredet in dieser Szene, ausgesprochen lebhaft sogar. Bloß, was haben sie sich gesagt? Hatten sie sich etwas zu sagen?

Wenn sie endlich sagen würde, was sie will

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Früher, denkt sie in der Küche, während sie sich zur Beruhigung einen Tee macht, haben sie doch miteinander diskutieren können. Sie entsinnt sich noch genau. Sie saßen im Park und am See, im Frühling, im Sommer. Sie waren verliebt. Er war aufmerksam und liebevoll. Er hat um sie geworben. Er wollte immer in ihrer Nähe sein. Er hat sie angelächelt. Er konnte nicht genug davon kriegen, sie anzuschauen. Ganz viel Zeit haben sie miteinander verbracht. Er war zärtlich mit mir – was er ihr nicht alles gesagt hat! Sie haben miteinander geredet. Sie hat ihm ihr Herz ausgeschüttet – und er hat zugehört. Alles haben sie sich erzählt! Ja sicher, schon damals war er ein Fußballnarr. Ein aktiver Fußball-Zuschauer, verbessert sie sich. Als ein Spiel übertragen wurde, das er unbedingt sehen wollte, kam er und fragte ganz lieb und vorsichtig: »Hast du nicht Lust, das mit mir zusammen anzugucken?« Da haben sie Fußball geschaut und dabei gekuschelt. Sie waren zusammen, es war wunderbar.

Warum, verflixt noch mal, können sie das jetzt nicht mehr: miteinander reden? Sie versteht absolut nicht, warum sie sich nicht mehr verstehen!

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Früher, denkt er beim Pinkeln in der Halbzeitpause, hat es doch prima geklappt zwischen ihnen. Sie haben sich doch verstanden! Sie hat ihn in Ruhe Fußball gucken lassen, sie war sogar dabei. Es war kein Problem! Was haben sie nicht alles gemeinsam gemacht! Alles hat sie ihm erzählt, was ihr durch den Kopf ging. Manchmal hat er gar nicht mehr richtig zuhören können. Aber sie war so hübsch, wenn sie sich über etwas aufgeregt hat. Mit den Fäusten hat sie gefuchtelt, eine steile Falte auf der Stirn. Da musste er sie einfach immer anschauen.

Jetzt will sie immerfort reden. Wozu? Wenn er das nur wüsste. Alles, was er hört, ist: Du bist so anders geworden. Aber das stimmt überhaupt nicht. Er ist nicht anders. Sie haben schon damals nicht nur geredet. Manchmal haben sie einfach beisammen gesessen, ganz nahe, sein Arm um sie geschlungen, ihr Kopf an seiner Schulter, haben nichts gesagt und waren glücklich.

Warum, verflixt noch mal, will sie jetzt dauernd reden? »Über unsere Beziehung!« Was soll denn das heißen? Ein konkretes Problem, ja, darüber könnte man reden. Dann könnte man auch was machen. Doch er weiß wirklich nicht, was sie will. Wenn sie das mal sagen würde. Er ist sich sicher, sie weiß es selber nicht!

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2
Sich binden

Früher, da waren beide frisch verliebt. Da waren sie noch verrückt aufeinander, weil die Hormone verrückt spielten. Jeder zeigte sich von seiner besten Seite. Sie haben umeinander geworben. Jeder hat sich um den anderen bemüht.

Früher – diese Zeit taucht bei Paaren immer wieder auf. Entweder zaubert sie ein Lächeln auf die Gesichter, wärmt die Herzen und lässt Schmetterlinge im Bauch flattern. Oder sie dient als Kontrast zu einem Beziehungsalltag, der mühsam und grau geworden ist. Diese besonderen Wochen und Monate, in denen man den anderen entdeckt und sich in ihn  verliebt, werden unwillkürlich zum Maßstab. Den legen die Partner an den anderen und sein Verhalten an. Durch diese goldene Brille blicken die Paare auf ihre Beziehung und ihre Gemeinsamkeit, später, in schwierigen Zeiten. Entsprechend bewerten und beurteilen sie dann den anderen.

Sich anstrahlen

Die Phase der allerersten Verliebtheit wird damit, bewusst oder unbewusst, zum Modell für glückliches Zusammensein. Das ist eigentlich unfair. Denn gewöhnlich ist es eine außergewöhnliche Zeit. Wie Geburtstag, Weihnachten und Urlaub auf einmal. Die Hormone drücken jedem der Verliebten einen Scheinwerfer in die Hand. Mit dem strahlt der eine den anderen an. Verliebte setzen sich gegenseitig in goldenes Licht. Sie sind hellsichtig – sie bringen die positiven Möglichkeiten des anderen zum Leuchten.

Nun kann man aber nicht sein ganzes Leben lang frisch verliebt sein. Mit der Zeit wird die Batterie dieser speziellen Lampe schwächer, die Verliebtheitsenergie lässt nach. Der goldene Glanz verblasst, nicht selten schwindet er völlig. Daher ist es, wie gesagt, eigentlich ziemlich unfair, den Zustand der frühen Verliebtheit zum Maßstab zu machen, mit dem man das Glück in Beziehungen misst. Doch was lässt sich gegen die Gewalt der Sehnsucht schon ausrichten? Nach Verliebtheit sehnen sich fast alle Paare. Dies ist die Zeit, die sie sich später in Erinnerung rufen. Die sie sich vorhalten, wenn es nicht so gut läuft.

Wie das kommt? Es hat damit zu tun, dass Menschen sich normalerweise nachhaltiger von Erfahrungen und Verhalten überzeugen lassen als von allen Worten und Versprechungen. In der Phase erster Verliebtheit machen die Liebenden Erfahrungen miteinander. Sie erleben, sehen, spüren, fühlen das Verhalten des anderen. Das prägt sich tief in ihr Bewusstsein ein.

Verliebte verbringen Zeit miteinander, angenehme Zeit, so viel wie möglich. Sie haben auch (fast) immer Zeit füreinander. Sind sie nicht beisammen, so sehnen sie sich nacheinander. Der andere fehlt ihnen. Sie suchen seine Nähe. Ist er oder sie da, so lächeln sie sich an. Sie schauen sich in die Augen. Sie sind zärtlich miteinander. Sie sagen sich Worte der Liebe und Zuneigung. Sie öffnen einander ihr Herz. Sie reden miteinander, sie hören sich zu. Auch wenn sie nicht zuhören, während der andere redet, so laufen sie doch nicht fort oder machen dicht. Sie bleiben in der Nähe des Geliebten. Schafft die Eigenart des einen oder des anderen Reibungsflächen oder Konflikte, so stört das zu Beginn meist wenig. Die meisten Paare nehmen kleine Eigenheiten des anderen mit Geduld oder Humor hin, am Anfang. Nicht selten finden sie die Eigenarten des anderen sogar sympathisch und entschuldigen sie. Oder sie necken sich damit.

Wenn Verliebte wiederholt glückliche Stunden miteinander verbringen, wenn sie den anderen, immer wieder, als Quelle des Glücks empfinden, dann legen diese positiven Erlebnisse und Erfahrungen Spuren in ihrem Gehirn. Ohne groß darüber nachzudenken gehen sie davon aus: Es wird immer so weitergehen; die Zukunft wird immer so sein. Aus Erfahrungen mit dem Partner werden unversehens Erwartungen an den Partner: Was ich jetzt mit dir erlebe, werde ich auch in Zukunft mit dir erleben. Denn wie du dich heute zeigst, so bist du. Unter der Hand, ohne dass die Partner viel darüber reden, ja sogar ohne dass sie sich darüber so recht im Klaren sind, werden aus Erfahrungen und Erwartungen Ansprüche an den anderen, an sein Verhalten und seinen Charakter.

Versprechen und erwarten

Jeder Wunsch, jedes unbewusste Bedürfnis, das die Verliebten sich erfüllen, hat den Charakter eines Versprechens. Und eines Auftrags: sich dieses Bedürfnis auch in Zukunft fraglos zu erfüllen. Mit Worten, Blicken oder Gesten sagen Verliebte einander: »Ich liebe dich!« Nur drei Worte, eine himmlische Botschaft. Zugleich allerdings, ohne dass die glücklich Verliebten es so richtig mitbekommen, die Unterschrift unter ein emotionales und soziales Tauschgeschäft, eine Übereinkunft, die beide Partner für die Zeit ihres Zusammenlebens bindet. Die Erwartungen und Ansprüche an den anderen werden unter der Hand zu verpflichtenden Zusagen, wechselseitig.

Paare, die beschließen »Wir leben und gehören jetzt zusammen«, gehen einen Partnervertrag ein. Ich betone noch einmal: in der Regel ohne dass sie das so richtig bemerken. Sie merken es nicht, weil dieses Abkommen meist völlig unausgesprochen vereinbart wird und fast immer ungeschrieben bleibt. Heute ist viel davon die Rede, bei der Wahl des Partners spielten romantische Liebesvorstellungen eine große Rolle. Romantische Liebe, so wird gesagt, biete nun einmal für eine dauerhaft stabile Paar- und Familienbeziehung eine eher wackelige Grundlage. Mag ja sein, dass über der Partnerwahl von zwei Verliebten gegenwärtig mehr als in früheren Jahrhunderten ein romantischer Schimmer liegt. Doch einigen sich Verliebte, die zusammenleben wollen, nicht bloß auf den Austausch romantischer Liebesgefühle. Stillschweigend schließen sie auch einen Handel ab, der sie knallhart bindet und im Alltag der Beziehung ganz konkretes Verhalten von ihnen fordert. Zumindest gehen sie ganz selbstverständlich davon aus, dass der andere sich an die Verpflichtungen halten wird, die er eingegangen ist.

Hauptinhalt des unbewussten Paarvertrages ist das Versprechen: Wir befriedigen uns gegenseitig unsere grundlegenden Bedürfnisse im Alltag. Ich möchte mit dir zusammen sein – du möchtest das auch. Ich sehne mich nach deiner Nähe – auch du wünschst dir nichts sehnlicher, als bei mir zu sein. Du möchtest mich kennen lernen. Ich habe dir auch ganz viel mitzuteilen. Ich will alles von dir wissen. Du erzählst mir gerne, was du denkst und fühlst. Kontakt mit dir ist wunderbar, darum werden wir dauernd in Kontakt sein. Ich mag dich, wie du bist. Es tut gut zu wissen, dass auch du mich genau so magst, wie ich bin. Ich will dir nicht wehtun, denn ich liebe dich. Darum möchte ich auch nicht, dass du mir wehtust. Wenn es einmal schwierig wird im Leben, werden wir zueinander stehen. Ich kann darauf bauen, dass du mir Zuneigung und Wertschätzung schenkst, liebe Worte sagst und mir vertraust. Dass wir uns liebevoll und achtsam begegnen, den anderen respektieren, aber auch gemeinsam Zärtlichkeit und Lust erfahren, Sex und Leidenschaft. Wir werden Feste feiern und zusammen Urlaub verbringen. Wir werden zu zweit durchs Leben gehen. Wir werden die Aufgaben, die der Alltag mit sich bringt, so miteinander teilen, dass jeder von uns auf seine Kosten kommt. Denn wir sind füreinander da: Ich für dich und du für mich. Ich befriedige dir deine Bedürfnisse und du befriedigst mir meine.

Das Kleingedruckte übersehen

Sicher haben Sie schon einmal einen Spar- oder Kreditvertrag unterzeichnet oder beim Erwerb eines Mobiltelefons, eines Autos einen Kaufvertrag abgeschlossen. Haben Sie auch das Kleingedruckte gelesen? Bis zum Ende? Häufig verlässt selbst gewissenhafte Menschen, die sich fest vorgenommen hatten, nichts zu unterschreiben, ohne alle Bedingungen zur Kenntnis genommen zu haben, nach einer Weile die Geduld. Sie unterzeichnen und hoffen: »Wird schon stimmen.« Immerhin, Sie wissen wenigstens, dass es das Kleingedruckte gibt. Im Konfliktfall könnten Sie da noch einmal nachlesen.

Wie aber, wenn Sie das Kleingedruckte nicht mehr finden? Oder – schlimmer noch – wenn Sie der festen Überzeugung sind: Kleingedrucktes gibt es nicht – es war doch alles klar? Niemand erfüllt gerne Vertragsbedingungen, die er nicht versteht. Keiner kommt bereitwillig Auflagen nach, mit denen er nicht einverstanden ist, die ihm spanisch vorkommen. Noch problematischer wird es, wenn Sie von den Abmachungen, an die Sie sich halten sollen, gar nichts wissen. Probleme, die man nicht kennt, kann man nicht lösen.

Nun gibt es im Supermarkt der Verliebtheit allerhand zu bestaunen und zu erwerben. Doch für den Vertragstext, den die meisten verliebten Paare sich dort besorgen, existiert im Wesentlichen nur ein Standardformular. Es geht davon aus, die Partner verlangen nach Einssein und ganz viel Nähe – so als wollten sie die Erfahrungen der frühen Verliebtheit in alle Ewigkeit verlängern. Damit Sie wissen, worauf Sie sich bei der Partnerwahl eingelassen haben, möchte ich einmal die wichtigsten Klauseln in Ihrem Beziehungsvertrag aufzählen, für alle Fälle. Von denen glaubt zumindest Ihre Partnerin, Ihr Partner, Sie haben die auch unterschrieben.

Du stehst mir zur Verfügung

§ 1 Wir verstehen uns ohne Worte. Wir wissen voneinander, was wir fühlen, denken und wünschen, auch ohne es mitzuteilen. Bisher haben wir uns meistens wortlos verstanden. Darum werden wir uns selbstverständlich auch in Zukunft wie von selbst verstehen.

§ 2 Unterschiede zwischen uns stören nicht. Wir passen zusammen. Wir ergänzen uns. Darum werden uns Unterschiede auch in Zukunft nicht stören.

§ 3 Du erfüllst mir alle meine Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte, die ich als Frau habe. Du liebst mich so, wie ich mich als Frau verhalte und bin.

§ 4 Du erfüllst mir alle meine Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte, die ich als Mann habe. Du liebst mich so, wie ich mich als Mann verhalte und bin.

§ 5 Zwischen uns herrscht vollständiges Vertrauen. Ich vertraue dir. Du vertraust mir. Wir vereinbaren: Vollständiges Vertrauen ist die Basis unserer Beziehung, heute und natürlich auch in Zukunft.

§ 6 Zwischen uns herrscht totale Offenheit. Ich öffne dir mein Herz. Du öffnest mir dein Herz. Zwischen uns gibt es keine Geheimnisse. Jeder von uns hat Anspruch auf die totale Offenheit des anderen. Du wirst mir auch künftig immer dein Herz öffnen. Ich werde dir natürlich auch in Zukunft immer alles sagen können.

§ 7 absolute Sicherheit