Über das Buch

Das Viertel, in dem Charlie aufwächst, ist im Krieg zerbombt und in den Fünfzigern als Demonstrationsobjekt für die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus neu aufgebaut worden. Es gehört zum Weltkulturerbe und fühlt sich an wie das Ende der Welt. Während ihre Mutter das letzte Einkaufsgeld vertrinkt, beobachtet Charlie vom Balkon ihrer Betonmietskaserne die benachbarten Bungalows und deren Bewohner: Millionäre, an deren Verhalten sie ablesen kann, dass es mehrere soziale Klassen gibt und sie selbst zu einer der untersten gehört. Dann, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, zieht ein Ehepaar ins Viertel, das sich jeder Kategorie entzieht. Die beiden sind Schauspieler, unberechenbar, chaotisch, luxuriös, schlauer als alle anderen – und von der ersten Begegnung an für Charlie das, was der Rest der Welt als ihre »erste große Liebe« bezeichnen würde: Spielkameraden und Lover, größter Einfluss und größte Gefährdung. Was sie verbindet, ist die Haltung der Furchtlosigkeit gegenüber dem überall grassierenden Gefühl von Chaos und Wertezerrüttung, ohne Rücksicht darauf, ob die Tyrannei der Angst in einem Krieg kulminiert oder nicht.

Helene Hegemann

Bungalow

Roman

Hanser Berlin Verlag

Es braut sich eine neue Religion zusammen. Aus Überresten.

Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod

Ich war siebzehn, wir durften das Haus nicht verlassen wegen Ozonwarnung, Hitzefrei für Erwachsene, mir gefiel das immer, obwohl die Strahlung uns draußen nach fünf Minuten mit blauer Haut und Tränen in den Augen in die Knie gezwungen hätte. Den ganzen Tag rummachen bei geschlossenen Vorhängen und »University Challenge« streamen, eine Sendung, in der die besten Studenten britischer Eliteuniversitäten Fragen zu antiker Architektur oder dem Aufbau des endoplasmatischen Retikulums oder der Sonatenhauptsatzform beantworten müssen und die vor zehn Jahren abgesetzt wurde, alles wie immer, aber an diesen Tag erinnere ich mich besser als an andere.

Mein Oberkörper liegt auf der Waschmaschine, Georg steht hinter mir, ich trage die horizontal gestreifte Strickjacke, in der Maria normalerweise den Müll wegbringt, und muss an das Blut und die Hautfetzen denken, die nach dem Scheren der Merinoschafe in ihrer Wolle hängen bleiben, daran, wie man Schafe ins Gesicht schlägt, um ihren Widerstand zu brechen. Maria hängt zu dem Zeitpunkt kiffend auf dem Sofa, die Tür steht offen. Ihr ist langweilig. Mir auch. Ihm auch, obwohl er kurz davor ist, zu kommen. Ich drehe mich um und schubse ihn weg, das ist weder Intuition noch ein klarsichtig gesteuerter Akt sexuellen Einfallsreichtums, einfach was Überlebenswichtiges, zu dem ich mich überwinden muss. Er stolpert über seine Hose, anthrazitgrau, die doppelt paspelierte Arschtaschen hat und ihm in den Kniekehlen hängt. Dann knallt er mit dem Hinterkopf an die Holzregale. Ich lege meine Hände um seinen Hals und meine Daumen auf die Stelle zwischen den Schlüsselbeinen, dorthin, wo die Kehle beginnt. Für zwei Sekunden ist er ohnmächtig. Ich knie auf seinen Oberschenkeln. Vielleicht habe ich ihn umgebracht. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er mich genauso an wie früher, ganz früher, als ich ihm mit elf zum ersten Mal »Guten Tag« gesagt und an seinem Ausdruck festgestellt habe, dass er irgendwas interessant an mir findet.

Ich ging nicht davon aus, dass er es mochte, keine Luft mehr zu kriegen. Ich habe das auch nie wieder gemacht. Also, ihn würgen. Wäre vergleichbar mit einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte gewesen, von dem er seiner Tante irgendwann mal höflichkeitshalber gesagt hat, es würde ihm schmecken, und dann kriegt er das sein Leben lang bei jedem Besuch serviert. Es ging da nicht um die Abwandlung irgendeiner Routine, nur darum, dass Maria wegen uns den Fernseher ausmachen sollte. Sie machte ihn aus. Wir waren zufrieden. Wir waren wieder interessant für sie, wir waren wieder interessant füreinander. Sie wollten keinen Ersatz für das Kind, das sie nicht rechtzeitig gekriegt hatten. Echt nicht. Sie wollten auch nicht meine Seele, fällt mir gerade auf. So eine Seele ist viel zu belanglos. Sie wollten jemanden, der besser spielte als sie selbst. Der noch brutaler war. Und ich glaube, das war ich. Noch brutaler. Aber nicht von Geburt an.

Ich schreibe das in einen Stapel Notizbücher, die ich auf dem Antiquitätenhaufen am Strand gefunden habe. Ich schreibe das für mich, ich weiß nicht, wer diese Geschichte außer mir zu Ende lesen soll. Ich habe ihnen meine Seele nicht hinterhergeschmissen, ich habe sie ihnen verkauft. Warum man so etwas tut, seine Seele verkaufen, warum ich das getan habe? Weil sie anders waren. So hübsch und alleine und gefährlich wie Wölfe. Anders als alle, anders als die Selbstmörder. Sie hatten Panik, ich weiß das. Aber sie waren zu arrogant, zu brutal, um auf das überall grassierende Gefühl von Chaos und Zerrüttung genauso zu reagieren wie der Rest der Welt, sie gehörten nicht zu diesem Rest der Welt, der mit gegenstandslosen Wertemaßstäben verängstigt vor einem schwer zu identifizierenden Abgrund stand. In ihren Augen war kein aggressives »Helft mir« zu lesen, das ich in den Augen aller anderen sah. Vielleicht doch. Vielleicht taten sie nur so, als wären sie anders, vielleicht taten sie nicht mal so, vielleicht unterstellte ich ihnen bloß, anders zu sein, weil ich selbst anders sein wollte. Ich habe einen angemessenen Preis für etwas bezahlt, das ich bekommen habe, auch wenn davon inzwischen nichts mehr übrig ist außer der beruhigenden Gewissheit, dass sie sich nicht umgebracht haben. Aus Feigheit, nehme ich an. Weil sie zu feige sind. Oder waren. Ich erinnere mich an alles. Ich bin heute mit alldem aufgewacht.

An den Tagen mit Ozonwarnung durften wir nur nach draußen, wenn es dunkel war, Georg und ich beschlossen, spazieren zu gehen, Maria lag immer noch auf dem Sofa, in ihrem Nachthemd, auf dem grünen Samt. War gleichmäßig am Auf- und Abatmen, so wie sich das gehört für wen, der pennt. Ich setzte mich auf die Bierzeltbank vor dem Flachbau am anderen Ende des Viertels, während er hineinging, um etwas zu kaufen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, für Außenstehende nicht mehr bloß wie seine Tochter auszusehen. Es wurden gerade Scheinwerfer und Lichtkräne abmontiert, die zwei Tage zuvor im ganzen Viertel aufgebaut worden waren. Team einer chinesischen Doku-Serie, die drehten hier irgendwo was.

Er sprach von einem Verdacht auf einen Tumor in seinem Kopf. Der hatte sich letzte Woche aber nur als Schatten im MRT herausgestellt. Ich fragte, warum er mir von solchen Dingen immer erst nachher erzählte, er lachte. Er hatte Ausschlag am Unterarm. Er krempelte sein Hemd hoch, um ihn mir zu zeigen. Er trank Bier, ich aß ein Bounty, weil ich schon zu besoffen war. Zwölf Uhr nachts, vielleicht früher. Wir redeten nicht, sondern saßen da bloß, und ich erinnere mich, wie ich in einem Anflug von besoffenem Größenwahn als einziger Mensch der Welt begriffen zu haben glaubte, was Liebe war, worum es bei Sex ging, auf keinen Fall um Skills oder Sportlichkeit, nicht mal um Erfahrung, sondern um etwas, das nichts mit dem Vorgang zu tun hatte, nichts damit, ob man wem die Klamotten vom Leib riss oder erst in Zeitlupe an dessen Ohrläppchen rumkaute, nur mit diesem Erbarmen, das gerade in meiner Brust explodierte wie Panik und mich zu einer überdurchschnittlichen Version meiner selbst werden ließ, zwei Menschen gegenüber, die das verdammt noch mal wert waren. Manche Leute sagten über andere Leute, die seien gut im Bett oder schlecht. Manche Leute sprachen über schlecht gelaunte, missgünstige Beziehungen, aber der Sex war so toll, weil der oder die echt gut im Bett war, mir kam das vor, als würden sie das, was sie guten Sex nannten, zu einer Rechtfertigung dafür degradieren, dass sie jahrelange Debatten über die fachgerechte Entsorgung von Haaren aus dem Abflussnetz ausgehalten hatten oder Streit darüber, ob man eine Pfanne noch benutzen darf, wenn die Beschichtung leicht zerkratzt ist, dabei ging draußen die Welt unter, totaler Idiot, aber sehr gut im Bett. Konnte ich mir schlechterdings nicht vorstellen, dass man jemanden verabscheut, aber trotzdem bei ihm bleibt, nur weil der immer einen hochkriegt und mal beim Netflix-Gucken oder auf der Flugzeugtoilette eine gängige Stellung originell abgewandelt hat, man war nicht gut im Bett, niemand war das. Alles hing echt nur mit Selbstaufgabe zusammen, dachte ich, zumindest in diesem Moment. Abgründige Mischung aus Selbstaufgabe und Überlegenheit, scheißegal, ob man Spagat konnte oder ausdauernd war oder entspannt genug, um sich bei Tageslicht im Stehen voreinander auszuziehen, scheiß drauf, wirklich.

Inzwischen schäme ich mich für das, was ich als betrunkener Teenager gedacht habe. Weil die beiden gut im Bett waren. Die waren besser im Bett als alle.

1

Georgs Großvater wurde neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs als letzter deutscher Oberstleutnant aus einem russischen Gefangenenlager entlassen und hat dann irgendwann damit begonnen, Georg in verzweifeltem Kummer mit der immer gleichen Geschichte seines Überlebens vollzulabern, also dreißig oder vierzig Jahre später, Luftwaffe, Fernaufklärer, der hinter den feindlichen Linien operiert und in seinem Flugzeug manchmal Mundharmonika gespielt hat.

Er ist abgeschossen worden, konnte sich mit knapper Not aus den Trümmern retten. Dann kam er nach Sibirien. In so einem Waggon. In dem die meisten bereits verhungert oder erfroren waren. Er aber nicht. Er war klug und mutig und überlebenswillig. Die Aufseher fanden ihn zu interessant, um ihn irgendeiner sadistischen Willkür auszusetzen. Er hatte keine Vorurteile, begann Russland zu lieben. Zehn Jahre lang gab es nichts außer Kartoffeln zu essen, zumindest behauptete er das. Er brachte den Russen bei, dass man Kartoffeln nicht nur als Matschkartoffeln zubereiten konnte, sondern auch auf zwanzig verschiedene andere Arten. Und das schmeckte denen dann scheinbar. Und so kam ein bisschen Abwechslung auf den Speiseplan.

Er hatte Georg seit dessen Geburt eine Menge über den Krieg erklärt.

Georg sagte: »Ja, kapier ich.«

Und sein Großvater sagte: »Nichts hast du kapiert.«

Dann musste Georg alles, was ihm zuvor erzählt worden war, textidentisch wiederholen. Harter Unterricht. Georg baute Modellflugzeuge, als er klein war. Er hielt sich in diesem Bereich für ziemlich kompetent. Sein Großvater hielt sich für kompetenter, schließlich war er Pilot. Eine seiner vielen, bis zum Exzess verteidigten Weisheiten besagte, dass nichts, was nicht schön aussah, funktioniert.

»Flugzeuge, die nicht schön aussehen: Mit denen stimmt was nicht.«

Irgendwann wurde Georg volljährig. Er zog als eine Mischung aus Späthippie und provinziellem Punk-Schlagzeuger nach Berlin, es existieren aus dieser Zeit Fotos von ihm, auf denen er mit der E-Gitarre von Rio Reiser herumfuchtelt oder als türkische Putzfrau verkleidet in den Vorgarten eines Großindustriellen kackt. Zur selben Zeit fing sein Großvater an, leere Joghurtbecher zu sammeln. Die vergrub er dann stapelweise im Garten, vor allem im Sandkasten. Eine total fixe Idee. Überall gab es Nester mit gesammelten Joghurtbechern. Wofür er die hätte gebrauchen können, war nicht aus ihm rauszukriegen. Georgs Mutter kümmerte sich neunzehn Jahre lang um ihn. Dann brach er mit einem Herzinfarkt zusammen, nachdem er sich vor ihren Augen im Stehen in die Hosen geschissen und danach die Klospülung betätigt hatte.

Dieser Tod verunsicherte Georg nachhaltig, er war jetzt achtunddreißig Jahre alt und saß ohne Fahrschein in einer U-Bahn. Seine Frau hatte ihm am Tag zuvor erklärt, warum sie ihn liebte, wegen seiner zu eng beieinanderstehenden Augen, er sehe aus wie ein Schakal, das sei ihr bei einem Dokumentarfilm über Steppentiere klar geworden, der auf ihrem Flug nach São Paulo gelaufen war und damit endet, dass der Schakal von einer Herde Zebras zertrampelt wird. Georg trug weiße Jeans, er kannte mich noch nicht, aber ich kannte ihn schon lange. Innerhalb der nächsten Jahre würden wir uns als mittellose Menschen vor Gott sehen. Das Muster der Hartschalensitze war hässlich, der Westen ging unter, planlos gedruckte Farbkleckse auf rotem Plastik. Gegenüber von Georg saß eine Kleinfamilie. Der Mann war doppelt so alt und dick wie seine Frau. Er hob sein Kind an eine der durch den Waggon verlaufenden Querstangen, damit es den Rest der Fahrt von der Decke baumeln konnte. Poloshirt, Undercut, neun oder zehn Jahre alt. Die Mutter wies den Jungen auf einen Labradorwelpen unter ihrem Nachbarsitz hin, danach auf Militäraufnahmen im Fahrgastfernsehen. Doppelmonitore, in denen eine 40-kg-Drohne ihre Startbahn entlangfuhr. Die Drohne sah hässlich aus, sie war völlig idiotisch proportioniert. Zehn Meter Spannweite, anstelle der Pilotenkanzel nur ein weit geöffnetes Waffenbuchttor. Sie fragte das Kind, ob es wisse, wie man diese Maschinen nennt. Es begann, über die Bedienung unbemannter Jagdflugzeuge zu spekulieren, als ginge es um ein Computerprogramm, das den Pokémons in seinem Videospiel beim Aufspüren von Staubwolken oder raschelndem Gras half. In Georgs Herz pulsierte irgendwas. Stechender Schmerz. Er hielt das zuerst für Abscheu, danach für endgültig eingestandene Schwäche, seine eigene. Er hatte es nicht länger als sieben Tage bei der Bundeswehr ausgehalten und danach unter anhaltendem Ekel Rentnern den Arsch abgewischt, zwanzig Monate Zivildienst, achtzehn Jahre her. An seinem ersten Tag war eine querschnittsgelähmte Frau bei dem Versuch, aus dem sechsten Stock zu springen, auf dem Weg nach unten an irgendeinem schmiedeeisernen Balkongitter hängen geblieben, das Genick brach, der Widerstand zerriss Fleisch und Sehnen und Haut, sie kam auf wie eine entsorgte Stoffpuppe, der ein Kind vor Wut den Kopf abgerissen hatte. Zweimal musste er Menschen aus den Flammen brennender Stockwerke retten, weil die alten Leute nicht aufhören wollten, ihre Kühlschränke mit Kerzen abzutauen. Inzwischen glaubte er, über sich selbst zu wissen, dass er im Zweiten Weltkrieg keinen Verfolgten versteckt oder gar protestiert, sondern losgelöst von allen sozialen Bindekräften als halbseiden gegolten und sogenannte Geschäfte auf beiden Seiten gemacht hätte. Er hatte das sich immer mehr verdeutlichende Bild von sich selbst als eine Art Doppelagent vor Augen, der am Ende des Films qualvoller als alle anderen abgemetzelt werden muss. Er verließ die U-Bahn an einer Station, an der er nie zuvor ausgestiegen war, einer der Themenbahnhöfe, die Stararchitekten Anfang der Siebziger entworfen hatten. Durch Aussparungen von Fliesen sollten Glaseinsätze an die frühere, kriegsbedingte Bunkernutzung erinnern. Die Türen der U-Bahn schlossen sich, und Georg sah die Familie jetzt für einen Augenblick durch das Glas. Die Frau ließ sich in die Arme ihres Mannes fallen, rückenfreies Oberteil, das Kind gähnte. Georg bekam Angst. Er verlor sich zwei Minuten in der tranceartigen Entwicklung neuer Verführungsstrategien, das, was er sah, erinnerte ihn an auf Verdorbenheit folgende Erschöpfung, an Blut, an den Moment, in dem die Geilheit im Blick eines Mädchens ordinärer, verletzter Bedeutungslosigkeit wich. An die Hilfsbedürftigkeit von Tierkindern. An seine Frau. An die vor einiger Zeit von Jay-Z gerappte Textzeile »I got a main chick, a mistress, and a young bitch. Forget it«.

Auf der Mitte der Stufen, die aus der Unterführung zurück in die Stadt führten, schlug ihm kein Wind entgegen, sondern eine Vorwarnung auf in naher Zukunft drohende Notstandsgesetze, er hatte die Erdoberfläche zu verachten begonnen wie andere Menschen die Hölle. Hätte er mich damals schon gut genug gekannt, hätte ich seinen Zustand als mindfuck bezüglich eines Zeitalters eingeordnet, mit dem niemand gelernt hatte umzugehen, kein Selbstmitleid, eher Bewegungsstarre plus erschrocken, Flammenwerfer, die Menschheit war im Grunde eine einzige Obszönität, der Teil der Menschheit, zu dem er gehörte, hatte Appetit auf argentinisches Büffelfilet und machte Urlaub in Umbrien, der andere Teil war arm und gelangweilt, und zu dem gehörte ich, wir waren Speere der Verdammnis, Mythos, Geschichte, Stille, Verwandlung, Moskau, Rom, Paris, Berlin.

Der Asphalt raunte Georg die gröbsten Absurditäten zu. Teilweise sogar auf Sächsisch. »Geh nach Hause« und so was. Totaler Quatsch.

Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt zu Hause, in der Nähe meiner Mutter, die in ihrer eigenen Kotze lag und heulte. Oder draußen oder in der Schule oder in einem Wald, in dem es phänomenal hübsch gezeichnete Steine gab, mit denen konnte ich den ganzen Sommer lang reden.

2

Georgs Kindheit ist nicht ganz so erheblich wie die seiner Frau. Großvater, nette Eltern, Scheißumfeld, sein Daddy war Biologe, die Mutter kümmerte sich um demente Verwandte, mit einem Stoizismus, der an den englischen Landadel des neunzehnten Jahrhunderts erinnerte, sie lernte Sprachen in der Volkshochschule, begann Telefonate deshalb mit Sätzen wie »Hello, I am your mother!« und schickte Georg zum Geburtstag mit absoluter Zuverlässigkeit Geld für Unterwäsche. Davon kaufte er sich die immer gleichen Feinrippgarnituren, in denen er, sobald die ausgefranst genug waren, aussah wie Marlon Brando im Spätwestern One-Eyed Jack. Es gibt da diese Szene, in der Marlon Brando seelenruhig zwei Bananen isst, während seine Kumpels im Hintergrund eine Bank überfallen. Danach kommt er ins Gefängnis, schwängert aus Rache die Tochter seines Verräters und verspricht, kurz bevor er sich über die Grenze nach Mexiko absetzt, dass er zu ihr zurückkehren wird.

Sein großer Bruder war inzwischen mit einer Unternehmensberaterin verheiratet, sein kleiner Bruder mit einer Frau, die aus postnataler Erschöpfung über Monate hinweg versucht hatte, ihr Kind aus dem Fenster zu schmeißen. Irgendwann trafen sich alle bei der goldenen Hochzeit ihrer Eltern wieder, und da fragte jemand seinen Vater, ob er ein Lieblingskind habe, und der Vater war besoffen und zeigte auf Georg und schrie: »Ja, das da«, und meinte das ernst. Holzvertäfeltes Schützenvereinsheim in der Nähe von Lüdenscheid. Der Raum verstummte, weil fünfzig Partygäste spürten, dass sie Zeugen einer tiefen, unangemessenen Wahrheit geworden waren.

Georgs Brüder gingen nach draußen, um sich im Hinterhof eine Zigarette zu teilen. Sie wirkten in ihrer Verbundenheit so gedemütigt, dass Georg, der sie durchs Klofenster beobachtete, das Gefühl bekam, jemand hätte ihm mit voller Wucht in den Solarplexus getreten. Er war kriminell und im übelsten Maße vereinsamt, er wurde wirklich zu Unrecht geliebt. War er früher stolz darauf gewesen, zwei Varianten menschlichen Daseins in sich zu verbinden, sich nie entschieden zu haben, ob er besser Einzelkämpfer oder Protegé sein sollte, wurde ihm inzwischen klar, dass ihm dieser Ansatz bisher zu nichts anderem verholfen hatte als gutem Sex und ein paar Möbeln vom Flohmarkt. Aus der Ferne bot sein kleiner Bruder einen ähnlich traurigen Anblick, obwohl er Kohle hatte und ein Haus und eine Sauna, die er nie benutzte. Die Zigarette brannte zu nah an seiner Knöchelkerbe, er starrte in irgendeine Ferne. Mit derselben Frustration hatte Georgs großer Bruder letzte Nacht versucht, auf der Treppe zum Badezimmer seine Pantoffeln nicht zu verlieren.

Georg musste lachen. Das hatten wir, wie ich später rausfinden sollte, gemeinsam, dass wir anfingen zu lachen in Momenten, in denen wir eigentlich einen Ganzkörperspiegel hätten zertrümmern wollen. Nicht, um »etwas zu spüren«, sondern eher, um die Welt spüren zu lassen, dass sie uns egal war.

Am nächsten Morgen wachte Georg in der Nähe seiner Grundschule auf. Er hatte Nasenbluten und versuchte, anhand bruchstückhafter Erinnerungen zu rekonstruieren, ob er letzte Nacht in eine Schlägerei geraten war. Ihm fiel auf, wie hässlich es hier war und schon immer gewesen sein musste, aschgrauer Himmel, schwarze Fensterisolierungen aus Plastik, schmutzige Fassaden. Er schaltete sein Handy an und stellte fest, dass er keine grenzwertigen Textnachrichten geschrieben und stattdessen seinen Facebook-Status um 01:24 Uhr auf »stay true to this shit« aktualisiert hatte. Keine Likes, bloß zwei unzusammenhängende Kommentare seines ehemaligen Steuerberaters, in denen es, warum auch immer, um Bio-Ethanol für Wandkamine ging. Kurz zuvor hatte Georg sich in der toskanainspirierten Wohnküche einer Nutte zu Sex bereiterklärt und eine Line mit Narkosemittel verschnittenen Kokains genommen, sein Kummer blieb über Stunden, es schien etwas vorgefallen zu sein, das eine Veränderung seiner Empfindsamkeit verursacht hatte. Ihm fiel nur leider nicht mehr ein, was. Er glaubte, sich an ein Frauengesicht zu erinnern. An auf unregelmäßigen Zähnen verschmierten Lippenstift, schwarzen Nagellack, er schlich die Straßen seiner Geburtsstadt zum Hauptbahnhof entlang. Sein Portemonnaie und sein Schlüsselbund waren gestohlen, er konnte die Fahrkarte nicht bezahlen. Er fragte ein Mädchen in der Bahnhofshalle nach einer Seite aus ihrem Spiralblock, sie kauerte neben der Digitaluhr, pauste Mangas ab, sie gab ihm das Blatt, er fragte nach einem Stift, sie gab ihm auch den, dann kritzelte er »Toilette defekt« und bedankte sich. Das Mädchen kratzte an ihren Nagelbetten rum und fing an, Hautfetzen abzuziehen. Darunter traten blutige Rinnsale hervor. Schlechtes Melodram, dachte Georg, suizidale Rich Kids und bindungsunfähige Männer Anfang vierzig hatten den Platz von Elizabeth Taylor und Richard Burton eingenommen.

Zwanzig Minuten später klebte er den Zettel mit Kaugummi an eine Klotür des ICEs und schloss sich in die Kabine ein, so nervös, wie er zuletzt mit sechzehn beim Trampen nach Spanien gewesen war.

Erst unter den Stahlträgern des Hauptbahnhofs fiel ihm ein, dass sich seine Frau noch immer in Südamerika aufhielt. Sie würde erst in zwei Tagen zurück sein. Er beschloss, zu Fuß zu seiner Geliebten zu gehen. An all den Baustellen vorbei, an denen gerade Brachland zum Standort zugangsbeschränkter Wohnkomplexe gemacht wurde. Nirgendwo empfand er die Stadt als bedrohlicher.

Die Straßenecke, an der seine Geliebte lebte, war die gekillteste. Man könnte auch sagen, die toteste, aber das stimmt nicht ganz. Sie war gekillt, auf Englisch. Die Geliebte hieß Judith. Judith war siebenundzwanzig. Aufgrund ihrer Panikattacken hatte Judith einen im vergangenen Jahr absolvierten Psychiatrieaufenthalt vorzuweisen, den Georg nie hatte nachvollziehen können, inzwischen aber höflichkeitshalber ernst nahm. Manchmal ging sie auch in »Fuck me like the whore I am«-Shirts in Uni-Seminare zum Thema Gleichberechtigung, so was war problemlos möglich in dem Teil der Stadt, in dem sie sich aufhielt, während zehn Kilometer weiter nördlich Frauen zusammenhangslos Nutte oder Fotze genannt wurden, einfach so, ohne dass das ein ironischer Bruch war. Irgendwas mochte er an ihr, trotz allem, vielleicht, dass sie anders war, harmloser, wilder, bisschen dümmer als er, dass sie, wie alle anderen, ihre Probleme auf ihr eigenes unüberwindbares Versagen zurückführte statt auf das, was sie immer noch bereitwillig Gesellschaft zu nennen fähig war.

Zum ersten Mal war er ihr, zusammen mit seiner Frau, in einem Café begegnet. Judith hatte den beiden aus ihrem Auto zugewinkt und direkt vor ihnen im Halteverbot geparkt.

Seine Frau kannte sie, wusste aber nicht mehr, woher.

Judith stieg aus, lief auf die beiden zu, ließ sich ohne Begrüßung zu ihnen an den Tisch fallen und grinste.

»Wie läuft es im Laden?«, fragte seine Frau. Laden konnte alles sein, Schuhgeschäft, Plattenfirma, Pharmakonzern.

»Voll okay, nur zu heiß da drin, bräuchte ’ne Klimaanlage.«

»Lass doch die Tür offen.«

»Schon versucht, vorne und hinten. Zu große Angst vor den Waschbären.«

»Waschbären?«

»Nicht Waschbären, sorry, zu lange Amerika. Füchse. Vor den Füchsen. Stellt euch vor, da läuft ein Fuchs rein und ich kriege den nicht mehr raus. Da schwitze ich lieber.«

Während seine Frau noch immer zu grübeln schien, in was für einer Art von Laden sie dieser Person mal begegnet war, fuhr Judith übergangslos damit fort, dass sie vorherige Nacht »1 km/h langsamen Liebessex« mit einem Typen gehabt hätte, der Florian oder Fabian hieß.

»Er jedenfalls bei mir, hat mich ’ne Stunde geleckt, ich wollte dann blasen, aber er wollte, wie er sagte, keinen Sex beim ersten Mal.«

Sie bestellte ein Omelett mit Pilzen, rief dem Kellner, als er wegging, jedoch hinterher, dass sie dafür gar nicht genug Zeit hätte und »okay for now« sei. Dann fuhr sie fort: »Ich habe ihn dann genötigt. Man kann es auch Vergewaltigung nennen. Wie der sich gewehrt hat. Das hättet ihr sehen sollen. Immer wenn ich den in den Mund nehmen wollte, hat er seine Beine verschränkt. Dann hab ich die auseinandergedrückt und ihn erst gelutscht, bis er besinnungslos war, und mich dann draufgesetzt.«

»So, wie sich das für eine richtige Vergewaltigung gehört«, sagte Maria.

»Genau«, sagte Judith.

Irgendwann stand sie auf. Genauso plötzlich, wie sie gekommen war, wollte sie auch wieder abhauen, vorher ließ sie noch die Information fallen, dass sie seit neuestem einen 90 x 70 cm großen Porträtdruck von Judith Butler über dem Bett hängen habe. Nachdem Georg seine Frau beim Zahnarzt abgeliefert hatte, fuhr er nach Hause, zog sich einen Schlafanzug an und googelte Judith Butler. Sie stellte sich als amerikanische Genderphilosophin heraus, deren gesamtes Werk auf die zentrale These reduziert werden konnte, dass die Gebärmutter gar nichts Realbiologisches, sondern nur diskursiv erzeugt worden war. Ihn befiel eine Reumütigkeit, die ihn irritierte.

Am nächsten Abend war Maria bei einem Essen mit Freunden noch besser drauf als sonst, sie ließ Theorien vom Stapel, die Georg noch nie von ihr gehört hatte, die ihn in der Ausführlichkeit ihrer Beobachtung beeindruckten, unter anderem, dass Menschen soziale Wesen und deshalb auf Geschichten über sich und ihre Beziehungen angewiesen seien, das kannte er schon von ihr, aber nicht das Buch, über das sie im Anschluss sprach, von einem italienischen Autor, der vor 1900 geboren wurde und sich vom skeptischen Zyniker irgendwann zum Folklorekatholiken entwickelt hatte.

»So müssen wir das auch machen«, sagte sie. Nahm sich eine zweite Süßkartoffel, gab einem der Gäste zu verstehen, dass er ruhig schon rauchen könne, während sie noch aß. Dann läutete sie mit dem Satz »So, irre, wie der Typ sich am Ende umbringt!« eine kurze Abhandlung über seinen Skandalroman von 1921 ein.

»Wirklich, wirklich irre! Diese Typhusvergiftung. Gut für Film, by the way. Dass sich jemand bewusst mit einer potenziell tödlichen Krankheit ansteckt, um daran draufzugehen, und dann wochenlang nicht weiß, ob es klappt. Seine Frau schwört ihm kurz vor seinem Tod ewige Treue, leidet paar Tage. Und dann schreibt sie eine Nachricht an ihren Liebhaber mit der Asche aus seiner Urne. Weil sie auf die Schnelle keine Tinte findet.«

Maria schlug die Beine übereinander, wie sie das in Fernsehinterviews tat, sobald es ihr wirklich um was ging. Sie schob den Teller mit der zermatschten Kartoffel weg und ließ sich eine Zigarette reichen.

»Weiß jemand, ob es stimmt, dass Fichte Hausstauballergiker war?«, fragte sie dann.

»Johann Gottlieb?«, fragte einer der Gäste.

»Ja«, sagte sie. Kurze Pause, in der sie die Zigarette anzündete, um nach zwei oder drei Zügen wild gestikulierend weiterzumachen:

»Ich glaube, das stimmt. Der war Hausstauballergiker. Und hat seine Bude trotzdem mit alten Teppichen vollgehängt und er hatte eine Katze, obwohl er auch gegen Katzenhaare allergisch war. Der hat also die Widerstände verstärkt, so hätte er selbst das jedenfalls formuliert. Und an dieser Verstärkung der Widerstände ist er dann gestorben. Hustenanfall.«

Kurz bevor Georg einschlief, es war Viertel nach elf und noch ein bisschen hell draußen, seine Frau räumte die Spülmaschine ein, stellte er fest, dass seine Reumütigkeit nicht anders aus der Welt zu schaffen sein würde als durch Sex mit Judith.

Eine Gelegenheit dazu bot sich ihm zwei Wochen später, er war ziellos durch die Stadt gelaufen, hatte sich an der Bar eines Hotels niedergelassen und dort zwischen zwei Porzellanelefanten im Colonial Chic einen Whiskey bestellt, er lächelte den Pianisten an, ging zur Klavierversion von Smooth Operator auf die Tanzfläche, es ging ihm gut. Jademosaike, gelber Marmor. Er hatte keine Ahnung, was er hier tat.

Judith saß mit zwei Freundinnen auf einer Clubsofalandschaft in der anderen Ecke, ihr Profil hatte kaum was mit der Front ihres Gesichts zu tun, sah man sie von der Seite, hielt man sie für eine hübsche, feingliedrige Prinzessin, ihr Hals ging in einer perfekten Linie in ihr Kinn über, von vorne wirkte sie einfach nur vulgär, was Georg nicht störte, überhaupt nicht. Sie trug einen bauchfreien Zweiteiler, der irgendwie indianisch aussah. Georg brachte das mit dem Begriff »Aztekenlook« in Verbindung, den er im Badezimmer immer wieder auf dem Cover einer von Maria liegengelassenen Zeitschrift zu lesen gezwungen war. Sie lachte zu viel, fuhr sich zu oft durch die Haare, war dünn genug, um kein Problem damit zu haben, nackt durch die Wohnung zu rennen, sie würde, so nahm er zumindest unbewusst an, im Gegensatz zu seinen vorigen Affären keine stundenlangen Monologe darüber halten, wie sie durch ayurvedische Klopftechniken ihre Depression in den Griff gekriegt oder einen mit gehobeltem Trüffel garnierten Parmesanknödel für Stracciatella-Eis gehalten hatte. Sie war unter dreißig und gehörte zu den Frauen, denen man erstens zuhören, zweitens ein Kompliment für ihr Armband machen und drittens eine Reise nach Australien versprechen musste, weil dort ihr Vater lebte, der vor Jahren abgehauen und ein Arschloch war und nicht auf ihre Briefe antwortete. Egal ob er mit ihr nach Australien fliegen würde oder nicht, es zählte die nette Idee. Deshalb drehte sich Judith noch am selben Abend zu Georg um und küsste ihn auf den Mund.

In den folgenden Monaten kam Georg zwei- oder dreimal pro Woche bei ihr zum Kaffee vorbei, mit einer Selbstverständlichkeit, die zu seinem eigenen Entsetzen konstant und verlässlich blieb. Sie wohnte fünf Stationen entfernt im dritten Stock eines Altbaus, harmlos eingerichtet, mit der Intention, IKEA-Möbel nach teurem, skandinavischem Vintage aussehen zu lassen.

Ihr Hund konnte sich auf Kommando mit den Pfoten die Augen auswischen, kam aber nie, wenn man ihn rief.

Judith hatte Archäologie studiert. Seit etwas mehr als zwei Jahren war sie trotzdem nur noch mit parallel zueinander laufenden Psychotherapieverfahren beschäftigt, viermal wöchentlich stattfindende Analyseeinheiten wurden durch kognitive Verhaltenstrainings ergänzt, in denen es ab einem gewissen Zeitpunkt nichts anderes mehr zu besprechen gab als gesunde Ernährung oder den Kauf eines neuen Autos.

Wenn Georg sich dazu hatte breitschlagen lassen, mit Judith auf irgendeine Ackerfläche am Stadtrand zu fahren, analysierte sie während des Spaziergangs detailgenau, warum sie als Sechstklässlerin ihrem Klassenkameraden den Arm gebrochen hatte oder bis heute manchmal völlig grundlos zu heulen anfing. Ihr Hund, der als »Notfell« aus einer Todesstation gerettet worden war, wälzte sich in Taubenkadavern oder rempelte alte Ehepaare an.

Was Judith noch mehr zu beschäftigen schien als ihre eigene Psyche, war die Psyche ihrer Bekannten, denen sie abwechselnd Selbstbezogenheit oder entfesselten Jähzorn unterstellte, beides Eigenschaften, die ihr selbst in ihrem »hochsensiblen Helfersyndrom« angeblich fremd waren. Als eine dieser Bekannten, sie hieß Agathe und war Model, spontan auf den Spaziergang mitkam, fand Georg sie ziemlich normal. Sie sprach unterhaltsam über die Probleme mit ihrem Mann und reagierte nur dann auf die beiden, wenn das, was sie sagten, interessant war. Nachvollziehbar, dachte Georg, Judith hingegen dachte, dass Agathe an einem »histrionischen Aufmerksamkeitsdefizit« litt und deshalb »bedauerlicherweise« nur im »Reiz-Reaktions-Schema« kommunizieren konnte.

Zwei Wochen später gab Judith ihren Hund ins Tierheim. Er hatte zweimal hintereinander in ihr Bett gekotzt, das Internetkabel angenagt und sich den Brustkorb geprellt. Georg begann, Judiths psychologischen Erkundungstrieb in Frage zu stellen. Irgendwann sagte er ihr, in einem für ihn untypischen Geständniszwang, dass sie ihn nervte. Er hatte gehofft, dass sie ihn daraufhin beschimpfen und nie mehr wiedersehen wollte, stattdessen lachte sie nur und zog sich aus.

Als Judith Georg am Tag seiner Rückkehr von der goldenen Hochzeit die Wohnungstür aufmachte, trug sie Lippenstift und einen Morgenmantel aus Stretchseide mit eingebautem Schal, dreihundert Dollar auf eBay, Balenciaga, ihre Freunde hatten zu ihrem Geburtstag zusammengeschmissen, sie ließ sich in seine Arme fallen, fragte ohne Kenntnisnahme seiner Niedergeschlagenheit, ob er »Spaß in der Heimat« gehabt hätte, woraufhin er ihr beinahe etwas von einer bevorstehenden Beinamputation erzählt hätte oder dass er vergewaltigt worden sei. In seinem jetzigen Zustand konnte er ihren von William James bereits im letzten Jahrhundert als solchen bezeichneten komfortablen medizinischen Materialismus, der alles, was heilig war, mit Narzissmus oder falscher Ernährung oder Nahrungsmittelintoleranzen neutralisierte, noch weniger ertragen als sonst. Selbstmord, Herzklopfen, religiöse Erweckung hatten ihrer Meinung nach nur zu tun mit überreizten Nerven und zu viel Weißmehl, was einen Kriminellen wie ihn, der trotz seiner Apathie gierig auf alles gleichzeitig war und wirklich nichts als brennen wollte, wütend machte. Selbst wenn er erzählt hätte, dass er in Hundescheiße getreten und danach zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, hätte Judith ihm bloß auf die Schulter geklopft und beteuert, dass das eine wichtige Erfahrung für ihn werden würde. Oder sie hätte gesagt: »Vielleicht wolltest du das ja sogar, also, unbewusst.« Das war ihr bevorzugtes Statement zu jeder Art des Elends, jemand wurde verlassen, jemand wurde mit Säure übergossen, jemand wurde grundlos gefeuert, ihrer Meinung nach alles ein Akt des unbewussten freien Willens.

Georg nickte Judith zu, rang sich ein Lächeln ab und zwängte sich an ihr vorbei durch den Wohnungsflur in die Küche. Sie lief hinter ihm her, setzte Teewasser auf und ließ sich auf die Fensterbank fallen, halb gespreizte Beine, die eine Hand zwischen den nackten Kniescheiben, in der anderen eine Zigarette mit weißem Filter.

Er wollte ihr wehtun, ohne Rücksicht darauf, dass sie ein Mensch mit Gefühlen und »eigentlich immer ganz nett« zu ihm gewesen war. Er fing an sie zu beleidigen, sie verstand kein Wort, das war alles zu diffus, nicht schlimm, null, es ging nicht um das, was er sagte, sondern um seine Augen, die nach Wochen der Teilnahmslosigkeit endlich nicht mehr schläfrig waren, sondern sich zu strengen Schlitzen verzogen hatten.

Er wusste, wie unmissverständlich seine Stimme klingen konnte, wenn ihm sein Gegenüber nichts mehr bedeutete. Und er erkannte in Judiths Gesicht die Mischung aus Empörung und tief erschütterter Ungläubigkeit, die er als Reaktion auf seine schlechte Laune schon so oft erzielt hatte.

Die Verwundbarkeit eines Menschen auszuschlachten, kam ihm, sobald er sich nicht mehr beherrschen konnte, wie die gerechte Strafe für etwas vor, das Maria »geheuchelten Stolz« nannte – so viele dieser ehrwürdigen Frauen und Männer verwechselten Pünktlichkeit mit Zuverlässigkeit, Authentizität mit Ehrlichkeit oder poliertes Silberbesteck mit guten Manieren, und Judith, die sich in eine Obsession hineinmanövriert hatte, die ihr jede ungefilterte Reaktion auf Georg verbot und nur noch darum kreiste, mit welchem Verhalten sie den größtmöglichen Beweis für ihre Wirkung auf ihn erreichen konnte, war weiß Gott kein Opfer seiner gedankenlosen Hurerei, sondern eine Narzisstin, die mit ihm umging wie mit einem Straßenhund, dem man durch konsequente Selbstbeherrschung irgendwann »Sitz« und »Platz« würde beibringen können. Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Sie hatte ihren Morgenmantel ausgezogen und nur noch ein Unterhemd an, das in gekreuzten Drapierungen über ihre Schulterblätter verlief. Jetzt sah sie wie ein Geschäftsmann aus, der in Singapur auf seinen Verbindungsflug wartet – zurückgeworfen auf sich selbst und die eigene, sinnlose Existenz. Sie ging zum Herd und drehte die Gasflamme runter. Dann stützte sie sich mit durchgedrückten Armen auf der Anrichte ab und rang sich von dort aus zu einem letzten, aussichtslosen »Ich liebe dich« durch. Ekelhaftes Schlachtfeld. Wenn Maria »Ich liebe dich« sagte, forderte das nichts ein. Es stellte etwas unter Beweis, nämlich, dass sie ihn jederzeit verlassen konnte.

Georg sah aus dem Fenster, draußen nur Staub und Hitze. Als er nach seiner Jacke greifen wollte, hörte er, wie jemand versuchte, Judiths Wohnungstür aufzuschließen. Geklapper wie in Horrorfilmen, schwere Schritte im Flur.

Dann stand ein Mann im Türrahmen, der Mitte zwanzig und einen Kopf größer war als er selbst. Berufssoldat oder Busfahrer oder Sportler, im Gegensatz zu ihm wirklich das, was man einen echten Kerl nennt. Er hatte rote Haare, einen Blumenstrauß in der Hand und stellte seinen Trekkingrucksack ab, der auf mehrwöchige Naturabenteuer im Erzgebirge oder die Bezwingung der Eiger-Nordwand schließen ließ; eindeutig ihr Freund, grob gestrickter Typ, der, solange er keine Erektion hatte, wahrscheinlich immer nur Fußball spielte oder Hotdogs aß.

»Überraschung«, grunzte Judith. Und danach, zwei Oktaven tiefer als sonst, mit in der Luft angedeuteten Gänsefüßchen: »Es ist nicht das, wonach es aussieht.«

Judith ließ die beiden in der Küche alleine, um im Schlafzimmer die Tür hinter sich zuzuknallen.

Georg stammelte »Entschuldige, ich –«, aber der Rothaarige unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. Er war jung, alles tat ihm weh, er zeigte auf eine Glasflasche auf dem Küchentisch.

»Ist das Wasser oder Wodka?«

Georg zuckte mit den Schultern, der Mann nahm die Flasche und trank aus ihr.

»Man soll tun, was man kann, um die Härten des Krieges zu mildern«, sagte er.

»Wohl wahr«, antwortete Georg. Dann verließ er die Wohnung. Vor der Haustür schlug seine Erleichterung in Leere um, und als er am Ende der Straße angekommen war, taten seine Lungen weh. Er sah violette Schatten. Seine Hände würden in den nächsten Monaten kaum mehr zu zittern aufhören. Auf dem Nachhauseweg fand er einen gefalteten Zehner in seiner Jeanstasche, er kaufte zwei Flaschen Billigrotwein, Südafrika, und konnte, als er den Discounter verließ, kaum noch atmen. Eine Klammer aus Stahl hatte sich um seinen Brustkorb gelegt, sein Hals tat weh, sein Unterkiefer auch.

Er keuchte »Baby, Notfall, ruf an« auf Marias Mailbox. Maria kroch gerade durch von Tropenglut verbrannte Einöde, fünfzehn Jahre waren vergangen, seit sie ihm versprochen hatte, sich nach seinem Tod von Wölfen zerfleischen zu lassen, nicht aus Trauer, sondern um ihm nicht untreu werden zu können.

Am Abend kämpfte sich Georg über die Sichtschutzmauer in den Garten von ihrem Bungalow. Weil sein Schlüssel weg war, musste er das Fenster zum Gästeklo einschlagen. Innen fühlte er sich wie ein echter Mensch, zum ersten Mal seit Tagen, das hier war der einzige Ort, den er jemals Zuhause genannt hätte, wenig Möbel, viele Bücher, Stahlklappenschränke standen neben viktorianischen Nachttischen und waren voll mit Weltliteratur in Originalsprachen. Alles musste immer alt sein, egal, ob es ursprünglich in einer Konservenfabrik oder einem barocken Wasserschloss gestanden hatte. Im Flur hing ein riesiger, gerahmter Fotoabzug von Maria als Johanna von Orleans. Die Aufnahme stammte aus der Zeit, in der sich die beiden kennengelernt hatten, die Produktion war ihr erster großer Bühnenerfolg an einem Staatstheater gewesen, sie war schreiend mit einem Megafon durch den Zuschauerraum gerannt und trug eine Art Ganzkörperanzug aus Naturkautschuk unter ihrem Kostüm, weil Georg sie kurz vor der Premiere mit Trichomonaden oder Krätze angesteckt hatte. Er ließ das Licht aus und betrank sich auf dem Sofa.

Er war betrunken genug, um seine Verzweiflung für einen gegenstandslosen Ausbruch zu halten, und kaum mehr zu reden imstande. Trotzdem lallte er Maria gegen Mitternacht zum zweiten Mal auf die Mailbox.

»Kennst du dieses Gedicht von Puschkin, in dem ein armer Beamter das riesige Zarendenkmal in St. Petersburg verflucht?«

Wahrscheinlich kannte sie es. Wahrscheinlich hatte sie es ihm vor einigen Jahren bereits empfohlen, mit der Bemerkung, dass er später mal verstehen würde, warum. Trotzdem las er es ihr vor. Der Beamte glaubt, dass sein Leben verpfuscht ist, weil der Zar St. Petersburg am falschen Ort hat bauen lassen. Permanent Überschwemmungen, ständig Tote, darunter auch die komplette Familie des Beamten, und er dreht durch und beschimpft und beleidigt dieses Reiterstandbild, bis der Zar lebendig wird und ihn durch die ganze Stadt in den Wahnsinn jagt.

»Ein bisschen so fühlt sich das hier gerade an«, sagte Georg. Dann legte er sich ins Bett.

Auf dem ganzen Planeten gab es keine Schauspielerin, die mehr Bücher gelesen hatte als Maria. Das wusste selbst Gott. Georg wiederum wusste, dass Maria seine Nachrichten am nächsten Morgen abgehört haben würde, und als sie das zwei Stunden später in der äquatorialen Mittagshitze von Salvador tatsächlich tat, wusste Maria, dass Georg von Judith verlassen worden war, sie kannte ihn besser als irgendwer sonst, sie liebte ihn mit jedem Schlag ihres Herzens, oder mit jeder Faser ihres Herzens.

3

Mit Anfang zwanzig hatte Maria sämtliche altgriechischen Philosophen im Original gelesen, inzwischen bevorzugte sie Bildbände über Laubbäume, ihr Geschmack beruhte auf Prinzipien, die undurchdringlich waren, mit einem einzigen Wimpernschlag konnte sie Filme, Menschen und Debatten so mitreißend zu absoluter Scheiße degradieren, dass Georg und der Rest ihres Umfelds zwangsläufig ihre Meinung zu teilen gelernt hatten. Sie hatte, trotz Legasthenie, einen essayistischen Textband zur Psychologie der Gewalt veröffentlicht. Sie hätte Kulturtheoretikerin oder Chefin eines internationalen Drogenrings sein können – doch die einzige Möglichkeit, ihrer permanenten Scheinheiligkeit zu entfliehen und ehrlich zur Menschheit zu sein, lag, wie sie oftmals betonte, im Vorgang, sich auf der Bühne zu verstellen.

Wenn Maria nicht gerade Penthesilea oder einen umfallenden Baum spielte, spielte sie, dass sie eine gute Schauspielerin, eine gute Ehefrau oder eine gute Trinkerin war. Sie hasste Regisseure, sie hasste Drehbücher, sie hasste Klassiker. Am meisten hasste sie Schauspieler, die sich dümmer stellten, als sie waren. Schauspieler, die auf Charity-Events mit Canapés rumlungerten, ihrer Rolle wegen Apnoetauchen gelernt hatten und sich vor Probenbeginn mit geschlossenen Augen ins Bühnenbild legten, um ihre Umgebung aufzusaugen. Schauspieler, die sich heulend verbeugten, weil sie annahmen, sie wären noch in der Rolle oder sogar mit dieser bescheuerten Rolle verschmolzen, und danach wurden die dann von Interviewern gefragt, was die Rolle denn mit ihnen gemacht hätte, worauf sie irgendwelche abgegriffenen Floskeln rausdonnerten, statt zu überlegen, was sie selbst denn überhaupt mit der Rolle gemacht hatten. Jeder Respekt vor den Brettern, die die Welt bedeuten, war Maria fremd. Es ging ihr um Entertainment, nicht um eine leere Geste kultureller Erhabenheit.

»Weißt du, wer meine Feindbilder sind?«, hatte sie Georg mal gefragt. »Meine Feindbilder sind die ganzen Idioten, die glauben, man müsse gut spielen können. Schon seit ich sechzehn bin. Seit ich in Kurt Cobain verknallt war. Man muss nicht gut spielen können. Es reicht, wenn man die Gitarre cool umgehängt hat.«