Diem-Caitlynn.

Über die Autorin Angelika Diem

– geboren 1968 im schönen Ländle hinter dem Arlberg

– leidenschaftliche Leseratte (Fantasy, Mystery, Mangas, Krimis, historische Romane und vieles mehr...)

– verschlingt daneben viele Bücher über Japan


– schrieb mehrere Jahre Artikel und Rezensionen für die Zeitschrift "MangasZene" unter dem Nick "Lady Raven"


– kocht mit Leidenschaft und erfindet gern neue Rezepte


– spielt am Wochenende gern World of Warcraft (aktueller Chara: Jägerin Caitlynn (Mensch) auf dem Server “Der Mithrilorden”


– schrieb ihre ersten Geschichten auf einer alten schweizer Schreibmaschine ohne "ß"


– verwöhnt ihren rotgetigerten Stubenkater namens Akira


– liebt ihre Arbeit als Lehrerin und Schulbibliothekarin an der Mittelschule Bludenz


– hätte gern noch mehr Zeit, sich mit Lesern, Autoren und interessanten Menschen im Web auszutauschen


Ihre wichtigsten Werke

Österreichisches Nachwuchsstipendium für Kinder- und Jugendliteratur 1993

Eusebius und Pontifex – Verlag St. Gabriel (1996)

Für mich bist du der Beste – Albarello Verlag (2000)

Hexe Pollonia macht das Rennen – Albarello Verlag (2001)

Gut so, Hexe Pollonia – Albarello Verlag (2002)

(alle drei Hexenbilderbücher noch lieferbar)

2002 bis 2007 freie Redakteurin der Zeitschrift „MangasZene“

Jigoku no Merodi (Text zum Manga) – Christian Solar Verlag 2004

Zwischen den Toren. Weltenwanderer XIV – scratch Verlag 2010 (unter dem Pseudonym Susanne Nort)

Wir vom Jahrgang 1968. Kindheit und Jugend in Österreich – Wartberg Verlag 2012

Nicht schlank? Na und! – Bc Publications 2012

Das Grauen im Spiegel (Beitrag in Diebesgeflüster 1 – ebook Aeternica Verlag 2012)

Seelendieb (Beitrag in Diebesgeflüster 4 – ebook Aeternica Verlag 2013)

– beide Geschichten enthalten im Taschenbuch Diebesgeflüster 1-4 Aeternica Verlag 2014


Von der gleichen Autorin

bereits im Machandel Verlag erschienen:

Der Baeldin-Mord

in diesem Buch enthalten unter dem Titel

Das Rätsel von Baeldin“

Das Grüne Tuch

in diesem Buch enthalten unter den Titeln

Das grüne Tuch“

Halbe Hand“

Schmerztrinker“

Drei Tropfen Dunkelheit

im Machandel Verlag erscheinen unter der

ISBN 978-3-95959-049-5

292 Seiten

schließt in der Handlung direkt an den

hier vorliegenden Sammelband an


www.machandel-verlag.de

 


Vollstrecker der Königin

Sammelband 1

 

Caitlynn

 

Angelika Diem

 

 

4 Novellen

Bonus: 2 Kurzgeschichten

 

Heiratshandel

Das grüne Tuch

Halbe Hand

Schmerztrinker

Der schwarze Turm

Das Rätsel von Baeldin

 

 

 

Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover-Titel: Katharina Brand

Einband-Rückseite: www.shutterstock.com
Landkarte: Angelika Diem

Sonstige Illustrationen: German Bogomaz/ pavila/www.shutterstock.com

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-95959-084-6

 

 

 

 

 

Jadon

 

 

Das Mädchen fegte an den Boxen vorbei, dass ihre langen Zöpfe flogen.

„Jadon! Jadon!“

Der Stallmeister legte die Mähnenbürste beiseite und hob die Hand. „Psst, Lady Lynna! Ihr erschreckt mir noch die Mäuse zu Tode.“

Mit hochrotem Gesicht hielt Lynna inne und lachte. „Jemand muss es ja tun, wenn Mika ausfällt. Wo ist sie?“

Jadon schloss die Box des grauen Wallachs und deutete ganz nach hinten. „In der leeren Box, hinter den alten Sätteln. Ab...“ er versuchte ein strenges Gesicht, „... erst steckt Ihr Eure Zöpfe hoch, kleine Lady. Eure Mutter schimpft mit mir, wenn Ihr mit Stroh in den Haaren zur Anprobe erscheint.“

Lynna seufzte und angelte in ihrer Kleiderschürze nach den Ersatzhaarnadeln, die sie immer dabei hatte. „Ist doch halb so schlimm. Ich wünschte, Mutter könnte sich endlich für ein Kleid entscheiden.“

„Das dreizehnte Geburtsfest ist etwas Besonderes.“ Jadon lächelte. „Ihr bekommt Euer Familienzeichen erneuert und legt Euren Kindernamen ab, Lady Caitlynn“, er betonte den Titel, „und Ihr müsst verkünden, welches Standeszeichen Ihr anstrebt.“

„Das wissen doch alle längst.“ Lynna bohrte die letzte Haarnadel in das ungleichmäßige Gebilde an ihrem Hinterkopf. Sie legte ihre rechte Hand auf die linke Schulter. „Ich will Heiler werden wie du, Jadon.“

„Ihr wisst, ich habe die Schule des Grünen Turmes nie beendet, Lady Lynna. Meine Gabe war nicht stark genug, um Menschen zu heilen. Ihr solltet die Eure hegen und wachsen lassen.“

Sie hob die Achseln. „Wozu denn? Gared wird Vaters Erbe antreten und Shina…“ Sie zögerte. „Jedenfalls hasse ich diese Charismaübungen. Warum können wir nicht einfach „bitte“ sagen, wenn wir etwas getan haben wollen? Weshalb muss ich üben, Menschen zu ‚überzeugen‘, meinem Willen zu gehorchen?“

Jadon runzelte die Stirn. „Solche Fragen stellt Ihr besser nicht laut in Gegenwart Eures Vaters, Lady Lynna.“

Sie seufzte. „Ist schon gut, Jadon. Ganz hinten, hinter den alten Sätteln?“

Seine Gesichtsmuskeln entspannten sich. Er nickte. „Seid vorsichtig. Mika beschützt sie wie eine kleine Königin.“

„Ich will ja nur schauen!“ Lynna hüpfte mehr als sie lief zur halb offenen Box am Ende des Stalles. Sie stieg über den Eimer mit den Bürsten und einen halben Sack Hafer und stellte den wackeligen Hocker zur Seite. Ganz in der Ecke, hinter dem Stapel alter Sättel, auf einem Bett aus Heu lag die gefleckte Katze auf der Seite. An ihrem Bauch aufgereiht vier, nein fünf Katzenbabys, die eifrig Milch saugten. Mika hob den Kopf und sah Lynna an.

„Hallo Mika. Du hast aber schöne Kinder.“ Mika fauchte leise. „Keine Angst, ich fass' sie nicht an. Noch nicht. Jadon sagt, in drei Wochen darf ich mit ihnen spielen, vielleicht in zwei.“ Sie bemerkte, dass das Wasserschälchen in der Ecke leer war und langte ganz langsam danach. Mika fauchte lauter, als Lynna das Gefäß an sich nahm. „Ich bringe dir das beste Wasser aus dem Hof, frisch vom Brunnen.“

Lynna wandte sich gerade zur Boxentür, da wurde die Stalltüre weit aufgerissen.

„Jadon!“

Sie zuckte zusammen. Vater! Er war selbst nicht so streng, was das Benehmen einer Grafentochter anbelangte, aber er würde sie bei Ihrer Mutter verpetzen. Lynna hatte keine Lust auf eine weitere Predigt an diesem Morgen.

„Ja, Herr Graf?“

„Was ist mit dem Neuen? Gared will ihn auf der Parade des Königs reiten.“

„Mein Graf“, Jadon klang sehr bestimmt, „Ich habe mich mit dem Händler unterhalten, und er hat bestätigt, dass der Neue noch nie geritten worden ist. Es wäre für mich jetzt und für Euren Sohn auf der Parade zu gefährlich. Der Hengst duldet zwar den Sattel und die Trense und ich kann ihn führen, aber...“

„Nichts aber. Fang endlich an, ihn zuzureiten!“

„Er ist noch nicht soweit, mein Graf. In drei Wochen vielleicht.“

„Nein! Heute! Jetzt!“

Lynna kannte diesen Tonfall und sie hasste ihn. Vater sprach immer so, wenn er sein Charisma einsetzte. Sie duckte sich tiefer hinter die Boxentüre, als sie spürte, wie der Graf seinen Willen über Jadons Geist stülpte und dessen Widerstand erstickte. „Du wirst jetzt sofort beginnen, ihn zuzureiten. Nächste Woche wird Gared mit ihm arbeiten, und in zwei Wochen wird er mit dem Hengst auf der Parade des Königs glänzen. Verstehst du mich?“

„Wie Ihr wünscht, mein Graf.“

„Gut. Melde mir in einer Stunde, wie es gelaufen ist. Ich bin in meinem Schreibzimmer.“

Nachdem die Stalltüre hinter dem Grafen ins Schloss gefallen war, atmete Lynna tief durch. Sie musste ihm etwas Vorsprung lassen, damit er sie nicht über den Hof laufen sah.

Sie setzte sich auf den Hocker und sah Mika zu, wie sie ihre Kleinen putzte, nachdem diese fertig getrunken hatten.

„Du kannst von Glück sagen, dass du kein Mensch bist, Mika“, murmelte sie. „Sonst würde Vater noch verlangen, dass du ihm die Mäuse der Größe nach geordnet vor die Stalltüre legst.“ Der Gedanke heiterte sie ein wenig auf.

Ein schrilles Wiehern riss sie in die Gegenwart zurück. „Der Neue!“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie drückte die Boxentür auf und rannte in die Reithalle.

Jadon hatte gehorcht. Der dunkelbraune Hengst war gesattelt und gezäumt, und er saß auf dessen Rücken. Besser gesagt, er klammerte sich mit beiden Händen an dessen Mähne fest, während das Tier sich erst aufbäumte und dann mit den Hinterhufen ausschlug.

Lynna wollte ihm zurufen, damit aufzuhören, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Bei der Stärke des Charismas, das Vater eingesetzt hatte, konnte nur ein scharfer Schmerz oder ein gegenteiliger Befehl den stumpfen Gehorsam brechen, zu dem er Jadon gezwungen hatte.

Sie rannte zur Umzäunung und überlegte fieberhaft, ob sie versuchen sollte, ihre Gabe einzusetzen, um Jadon wieder zur Vernunft zu bringen. Aber falls sie es falsch machte, war er schlimmer dran als jetzt.

In diesem Augenblick stellte sich der Hengst auf die Hinterhufe. Jadon rutschte aus dem Sattel, in den Sand, wo er benommen liegen blieb. Der Hengst rollte die Augen, weißen Schaum vor dem Maul, holte aus und trat zu. Einmal, zweimal. Nach dem letzten Tritt tänzelte er zur Seite und trabte schnaubend in die andere Ecke des Platzes.

„Jadon? Jadon!“ Lynna kletterte über die Abzäunung und rannte zu ihm hin. Das viele Blut ... die Abdrücke auf seiner Brust, die Art wie er da lag... Sie ließ sich auf die Knie fallen und strich ihm die blutverklebten Haare aus dem Gesicht, um seine Augen zu sehen.

„Jadon, schau mich an, sag etwas!“

Sein Blick war so leer, wie sie es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Hatte ihn Vaters Charisma so sehr im Griff? Sie musste es brechen, sofort!

Lynna brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, so wie Gared es bei den Übungen immer machte. Ihre Gabe lag offen da, bereit, benutzt zu werden. Sie griff mit ihrem Geist nach Jadons, aber da war nichts. Oder doch? Ihr Wille stieß gegen eine Barriere. Vaters Charisma, vermutete sie. Dahinter wartete Jadon darauf, aufwachen zu dürfen. Entschlossen drückte sie mit all ihrer Willenskraft gegen die Barriere. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn, lief ihre Schläfen hinab, tropfe in den Sand. Die Zähne aufeinander gebissen schlang sie ihre Hände um Jadons schlaffe Finger. Ein bisschen mehr, ein ganz kleines bissch... Plötzlich entstand ein Riss in der Barriere, sie griff hindurch, und ihre Gabe berührte seine Seele.

Eine Flut von Gefühlen brach über sie herein: Ärger und Bangen, ein wenig Hoffnung und noch mehr Unbehagen. Unsicherheit, dumpfe Verzweiflung. Erschrecken, ein Stoß und ein Schlag auf den Rücken. Verwirrung, Schmerz ... Angst und noch mehr Schmerz. So viel Schmerz ... Wimmernd zog Lynna ihre Gabe zurück. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie musste den Schmerz loswerden, rasch. Mühsam schob sie ihn in einen Winkel ihres Geistes, rappelte sich auf und taumelte aus dem Stall. Vater. Sie musste Vater finden. Er würde ihr helfen, er wusste doch alles.

Ohne nach rechts oder links zu schauen tappte sie halbblind vor Tränen über den Schlosshof zum linken Flügel des Haupttraktes. Niemand begegnete ihr, um diese Zeit hielt Mutter die Bediensteten alle auf Trab, damit das Abendessen rechtzeitig fertig wurde. Lynna schleppte sich zum Schreibzimmer und stieß die Tür ohne anzuklopfen auf.

„Lynna, du siehst doch, ich ...“, empfing sie ihr Vater unwirsch. Als er ihren Zustand bemerkte, sprang er auf. „Was ist dir denn zugestoßen?“

„Jadon“, wimmerte sie und krümmte sich zusammen. „Jadon ist gefallen, von dem neuen Pferd gefallen. Vater, er ist“ sie würgte das Wort heraus, „tot. Und es tut weh, es tut so weh!“ Sie hob den Kopf und sah ihn durch ihre Tränen hindurch an. „Warum hast du ihn gezwungen, den Neuen zu reiten, Vater?“

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Gezwungen?“, seine Stimme troff vor falschem Entsetzen. „Wie kommst du denn darauf, Lynna?“

„Ich war in der hintersten Box“, quetsche sie mühsam heraus und schlang die bebenden Arme um ihren Oberkörper. „Ich habe euch gehört, dich gespürt, Vater.“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Du irrst dich, Kleines.“ Sein Griff um ihre Schulter wurde fester. Zwei steile Falten bildeten sich auf seiner Stirn „Er ist von selbst auf die Idee gekommen, eingebildet wie er war auf sein bisschen Talent, der Dummkopf. Wer soll den Neuen jetzt rechtzeitig zureiten? Dein Bruder wird bei der Parade auf seinem alten Wallach reiten müssen. So eine Schande!“

War das jetzt noch wichtig? Warum hörte er ihr nicht zu? „Der Hengst, er hat Jadon getreten. Seine Augen, Jadons Augen – so leer ... Hilf ihm doch, Vater! Es tut so weh!“

Er richtete seinen Blick auf die Wand hinter seinem Schreibtisch. „Ich kümmere mich sofort darum, Lynna. Aber vorher“, er beugte sich zu ihr herab, „versprichst du mir, dass du niemandem erzählst, was du glaubst im Stall gehört zu haben. Jadon war dumm. Er hat es nicht anders verdient.“

Seine kühlen, grünblauen Augen bohrten sich in ihren Blick. Sie spürte, wie er sein Charisma über sie stülpte, wie er es bei Jadon getan hatte. Sie wollte das nicht! Er sollte damit aufhören! Sofort!

„Sei ein gutes Kind und gehorche!“, zischte er.

Seine Finger krallten sich tiefer in ihre Schulter. Neuer Schmerz. Verzweifelt griff Lynna nach seinem Handgelenk, zerrte daran. Vergeblich. Wut keimte in ihr hoch. Warum wollte er nicht verstehen, nicht helfen? Warum tat es ihm nicht einmal leid? Sie griff nach der einzigen Waffe, die sie hatte, verband ihr Charisma mit seinem und gab den Schmerz frei ...

 

Heiratshandel

 

„Kannst du nicht stillhalten?“ Karinna, Gräfin von Ehredar, umrundete ihre Tochter und musterte jede Falte des grün- und cremefarbenen Kleides mit kritischem Blick. Zwei Schritte hinter dem hohen Spiegel stand die Dorfschneiderin und spielte nervös mit ihren Fingern, während sie auf das Urteil der Gräfin wartete.

Schließlich richtete sich die Gräfin auf und nickte zufrieden. „Gute Arbeit. Es sieht aus wie neu.“

Caitlynn fragte sich stumm, wem ihre Mutter hier etwas vormachen wollte. Sicher, die breiten Goldborten am Rock, die von der Hochzeitsrobe ihrer Mutter stammten, verdeckten die abgewetzten Stellen an den Nähten und durch die Kürzung war auch der mitgenommene Saum weggefallen. Doch unter dem Spitzeneinsatz am breiten, rechteckigen Halsausschnitt lag der Stoff sehr locker auf ihrer Haut, da ihre Oberweite kleiner war als die ihrer Mutter, welche das Kleid vor Jahren für ihre Verlobung gekauft hatte.

Die trompetenförmigen Ärmel waren längst nicht mehr in Mode, ebenso wenig wie die flachen weißen Lederschuhe. Shina, ihre Schwester, hatte diese bei ihrem Perlenfest getragen.

Die Schneiderin machte einen tiefen Knicks. „Vielen Dank, Frau Gräfin. Wenn Ihr sonst noch eine Arbeit für mich habt?“

„Danke, meine Liebe, wenn dem so ist, lasse ich nach dir rufen.“ Ein kleiner Samtbeutel wechselte die Besitzerin. Doch statt ihn einfach einzustecken, zog die Schneiderin die Schnüre auf und zählte die Silbermünzen nach.

Caitlynn nahm es ihr nicht übel. Im Dorf hatte es sich herumgesprochen, dass nur noch selten kostbare Kutschen nach Ehredar unterwegs waren, um Pferde vom Grafen zu kaufen. Nach Jadons Tod vor zwei Jahren hatte sich rasch herausgestellt, dass Caitlynns Vater selbst unfähig war, die Arbeit mit den widerspenstigen Jungpferden auch nur ansatzweise so erfolgreich fortzusetzen. Ebenso wenig Perlus, der neue Stallmeister, der früher für das Rasthaus der Grauen Kette im Dorf gearbeitet hatte. Er war fleißig, ehrlich und pflichtbewusst und hatte eine gute Hand für Tiere, doch er war kein Jadon.

Als die Tür hinter der Schneiderin ins Schloss fiel, atmete Caitlynn auf und ließ sich von ihrer Mutter aus dem Kleid helfen.

„Mutter ...“, begann Caitlynn, während die Gräfin das Kleid sorgsam über zwei Stuhllehnen breitete. „Mutter, warum muss ich das überhaupt alles mitmachen?“

Gräfin Karinna verengte die Augen zu zwei schmalen Schlitzen.

„Du weißt schon“, legte Caitlynn nach und schlüpfte in die schlichte Bluse und den weiten, grauen Rock, zwei Stücke, die sie von Shina geerbt hatte, die Bewertung und die große Feier in zwei Wochen. Ich brauche doch gar keine Platzierung in den Heiratslisten.“

„Spielst du schon wieder auf deinen kindischen Plan an, Vollstreckerin zu werden?“, zischte die Gräfin und trat ganz nah an ihre Tochter heran. Hektische rote Flecken erblühten auf den ansonsten blassen Wangen und sie kniff die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen.

„Es ist kein kindischer Plan!“, verteidigte sich Caitlynn und legte die Hand auf ihren rechten Handrücken. Er war leer wie bei allen, die ihre Bestimmung noch nicht gefunden hatten.

„Doch, das ist er“, sagte die Gräfin scharf. „Ein Glück nur, dass dein Vater nichts davon weiß. Deine Bestimmung ist es, eine gute Partie an Land zu ziehen, das bist du ihm schuldig.“

Wofür? Jadons Tod hat Vater sich selbst zuzuschreiben. Und den Schmerz hat er zu Recht abbekommen. Nichts davon sprach sie laut aus, weil sie genau wusste, dass ihre Mutter immer zum Vater hielt und das, obwohl sie geweint hatte, als sie Jadon auf den Scheiterhaufen gebettet hatten. Ich werde Mutter wohl nie verstehen. Schweigend senkte sie den Blick, was ihre Mutter wie immer als Kapitulation auslegte und ihr zufrieden den Kopf tätschelte, wie einem kleinen Tier. „Mach nicht so ein unglückliches Gesicht, Caitlynn. Wir wissen, was in dir schlummert. Bald schon wirst du auf einem großen Schloss wohnen, Köstlichkeiten genießen und in wunderschönen Kleidern prachtvolle Feste geben. Du wirst sehr, sehr glücklich sein.“

Vorsichtig öffnete Caitlynn ihr Auragespür. Ihre Mutter glaubte das tatsächlich. Ich bin nicht du. Meine Vorstellung von Glück ist anders. Doch darüber hatte sie mehr als einmal mit ihrer Mutter Streit gehabt und war gegen eine Wand gelaufen. Ein Adelstitel, ein Vermögen, bewundert zu werden, Glitzer, Tand und der Neid der anderen – nur das schien für die Gräfin von Ehredar zu zählen.

Es klopfte an der Tür. Die Gräfin wandte sich von Caitlynn ab und räusperte sich. „Ja?“

Perlus, der Stallmeister, öffnete die Tür. Seine Verbeugung wirkte so ungelenk wie immer. „Frau Gräfin, die Heiratshändlerin ist eingetroffen.“

 

*

 

Als Caitlynn, lediglich mit einem ihrer Schlafhemden bekleidet, von der Mutter in jenes Turmzimmer geführt wurde, das die Gräfin als Schreibzimmer zu nutzen pflegte, stand das große Fenster zum Burggraben hin weit offen.

Die Heiratshändlerin erhob sich vom gepolsterten Stuhl, den sie vor den Sekretär der Gräfin gestellt hatte.

Caitlynn hatte eine alte Frau erwartet, runzelig und in schweren Samt gekleidet. Doch Bryanna, wie sie sich mit weich klingender Stimme vorstellte, war nicht nur jünger als die Gräfin, sie überragte diese auch um fast einen halben Kopf. Ihr lohfarbenes Kleid aus Fadenglanz hatte bestimmt so viel gekostet wie die gesamte Garderobe der Gräfin.

„Dies ist meine jüngste Tochter, Caitlynn.“ Die Gräfin schob Caitlynn nach vorn.

Der Kopf mit den blonden Locken, aus denen nur wenige graue Haare hervorblitzten, neigte sich höflich, als Caitlynn ihren Knicks machte. Sie überkreuzte auch ihre Hände vor der Brust, sodass Caitlynn ihr Berufszeichen, die beiden Kränze – Blüten für die Braut und Laub für den Bräutigam, zusammengebunden durch ein weißes Band und eine goldgelbe Kette – auf dem rechten Handrücken gut erkennen konnte. Ihr Familienzeichen auf dem linken Handrücken beinhaltete auf der Mutterseite die berühmte Raubvogelklaue mit den drei Blutstropfen zusammen mit einer Bronzekrone und zwei Perlen, welche sie als Enkelin einer Baronin aus dem mächtigen Greifenclan auswies. Caitlynn schluckte. Die Sippschaft war bekannt für ihr mächtiges Charisma und Heiratshändler wurden gut geschult. Das würde alles andere als einfach werden.

Bryanna erhob sich und trat ganz nah an Caitlynn heran. Der Blick aus ihren blassblauen Augen wanderte langsam über Caitlynns Gesichtszüge. Diese musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen, als ihr Bryannas nach vergorenem Entenbeerensaft riechender Atem in die Nase stieg.

„Nicht ganz so hübsch wie Eure ältere Tochter, aber trotzdem nett anzusehen“, sagte die Heiratshändlerin und tat einen Schritt zurück. „Jetzt möchte ich den Rest sehen.“

Caitlynn war vorgewarnt worden, was jetzt kam. Dennoch hätte sie sich am liebsten geweigert, als ihr die Mutter befahl, das Nachtgewand auszuziehen. Splitternackt stand sie da und durfte sich nicht rühren, während Bryanna jede Handbreit ihres Körpers genauestens betrachtete.

„Ein bisschen dünn ist sie und ziemlich klein“, bekam sie zu hören. „Hat sie schon geblutet?“

Caitlynns Wangen brannten und sie starrte auf den Boden, während ihre Mutter verkündete, dass sie seit dem Winterlichtfest vor einem Jahr ihre Brutreife erreicht hätte.

„Gut“, nickte Bryanna. „Sie soll sich wieder verhüllen. Ich werde sie prüfen.“

Caitlynn riss ihrer Mutter das Nachtgewand fast aus der Hand und streifte es sich rasch über. Heiratshandel und Viehhandel haben mehr gemein als nur den zweiten Teil des Wortes. Dieser Satz ihrer Schwester Shina kam ihr in den Sinn, als sie Bryannas amüsiertes Lächeln bemerkte.

„Wir hegen große Hoffnung“, sagte die Gräfin. „Ihr Widerstand ist mitunter noch heftiger als der ihrer Schwester.“

„Meine Vorgängerin hat Eure älteste Tochter recht hoch eingestuft“, erwiderte die Heiratshändlerin mit freundlichem Nicken. „Und wie ich hörte, macht sie sich in Maesinar sehr gut. Euer Sohn ist noch nicht geprüft worden?“

„Wir möchten ihm noch etwas Zeit geben. Seine königliche Hoheit ...“

Bryanna runzelte die Stirn. „Ihr spekuliert auf den Kristallreif? Für Euren Sohn?“

Caitlynns Mutter straffte den Rücken und schob ihr Kinn vor. „Gared ist sehr begabt.“

Die Lippen der Heiratshändlerin zuckten. „Die Berichte von Maesinar ...“

„Er ist noch in der Entwicklung“, unterbrach sie die Gräfin.

Caitlynn kannte diesen Ton. In den Augen ihrer Mutter war Gared alles, nur nicht fehlbar. Dass er in Maesinar nicht so gut abschnitt, lag natürlich daran, dass es ihm dort nicht gefiel und er nicht besser sein ‚wollte‘, wie er immer lautstark verkündete. Und dann ‚besiegte‘ er Shina zuhause, sie, welche ein Jahr Vorsprung sowie die viel besseren Noten in allem hatte. Nicht zu vergessen, die ‚Übungen‘ mit ihr selbst und wie leicht er jedes Mal ihren Widerstand brach. Darauf sind wir trainiert worden, Shina und ich. Und genauso würde sie es jetzt auch machen.

Sie bekam nicht so richtig mit, wie die Heiratshändlerin ihre Mutter nach draußen wies, und auch nicht wie diese ihr noch einmal zurief, sich anzustrengen, so sehr war sie damit beschäftigt, ihre Abwehr aufzubauen. Um ein vielfaches sorgfältiger, als wenn sie gegen Gared antreten musste. Diese Frau schien stark genug, selbst Caitlynns Vater, den Grafen, in einer seiner ‚starken Phasen‘, wie ihre Mutter es zu nennen pflegte, das Fürchten zu lehren. Ihr durfte es nicht so ergehen wie Shina.

„Nun denn“, elegant ließ sich Bryanna wieder auf dem Sessel nieder. „Dann wollen wir beginnen. Ich werde etwas von dir verlangen und du wehrst dich, so gut du kannst. Verstanden?“

Caitlynn nickte. Zu sprechen wagte sie nicht.

„Du kniest dich vor mir nieder“, lautete der Befehl. Der erste Angriff von Bryannas Charisma war mehr ein vorsichtiges Anklopfen, ein Abtasten ihrer Abwehr. Caitlynn wusste, wie ihre Abwehr von außen wirkte. Eine solide, starke Mauer wie die einer machtvollen Charismanutzerin. Das war eines der Dinge, die sie die letzten Tage über wieder und wieder geübt hatte, ganz für sich. Zwar war sie es gewohnt, für Gared den Schein einer Abwehr zu erwecken, doch für die Heiratshändlerin war sie weiter gegangen. Viel weiter.

„Knie nieder!“ Der Ton verschärfte sich, in gleichem Maße nahm der Druck von Bryannas Charisma zu.

Caitlynn holte tief Luft, senkte den Kopf und ballte die Fäuste – ein Bild verzweifelten Widerstandes. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, während sie ihr Innerstes so tief in sich verkapselte, dass sie sich selbst kaum noch spürte. Wie durch eine dicke Wand aus rauchigem Quarz registrierte sie, wie leicht Bryanna ihre Abwehr in Stücke schlug und ihren Willen über sie stülpte. Sie wehrte sich mit allem, was sie an der Oberfläche aufzubieten hatte, doch glichen ihre Versuche den Pfotenhieben eines kleinen Kätzchens ohne Krallen.

Sie brach in die Knie.

„So leicht ...?“, hörte sie die Heiratshändlerin murmeln und spürte, wie deren Wille härter zupackte.

„Leck den Fußboden!“

Die wehrlose Caitlynn gehorchte. Der Schmutz schmeckte widerlich und sie musste würgen.

„Hmm ... Kann es wirklich sein?“ Bryanna erhob sich, packte Caitlynn im Nacken an den Haaren und zwang sie, aufzustehen.

„Deine Mutter sagte, du bist stark, Kleine“, zischte sie. „Wenn du mit mir spielst, wirst du es bereuen.“

So abrupt wie sie zugegriffen hatte, ließ sie wieder los. „Andererseits scheint deine Mutter ein blindes Auge zu haben, wenn es um ihre Brut geht. Geh ans Fenster!“

Eine laue Frühlingsbrise empfing Caitlynn. Steif wie ein Brett stand sie dort und starrte geradeaus, sodass ihr Blick die blühenden Baumwipfel auf der anderen Seite des Grabens streifte.

„Jetzt klettre auf den Sims. Auf den äußeren!“

Caitlynn zögerte keine Sekunde. Es war nicht das erste Mal, dass sie durch ein Fenster kletterte, doch mit Bryannas Willen über dem ihren wurden ihre Bewegungen steif und ungelenk, sodass sie sich erst mal das Knie anschlug und dann mit dem Saum des Nachthemds an einem Zacken im Mauerwerk hängen blieb. Zudem hatte es heute Morgen noch geregnet und der Sims erwies sich als feucht und gefährlich glatt.

„Mach einen langen Schritt hinaus“, befahl Bryannas Stimme in ihrem Rücken.

Ein letztes Mal versuchte Caitlynn eine verzweifelte Gegenwehr, so schwach wie die erste. Doch der Wille der Heiratshändlerin war unerbittlich und Caitlynn machte den Schritt.

In dem Moment, als sie den Halt verlor und in die Tiefe stürzte, zog sich Bryannas Charisma von ihr zurück und Caitlynn ‚erwachte‘.

Sie kam nicht mehr dazu, zu schreien, da schlug das eisige Wasser des Burggrabens schon über ihr zusammen. Wieder ganz sie selbst, ruderte sie hektisch mit beiden Armen, bis sie die Oberfläche durchbrach und Luft holen konnte. „Hilfe!“, schrie sie, so laut sie konnte, und paddelte mit Armen und Beinen wie ein Tier, um sich über Wasser zu halten. Dabei verfingen sich ihre Beine in den glitschigen Stängeln der frühen Teichrosen. Nur mit Mühe konnte sie sich frei strampeln. „Hilfe!“

„Allmächtige! Lady Caitlynn!“

Yadele, die Köchin von Ehredar, ließ ihre Einkäufe fallen und rutschte den Uferhang hinunter bis ans Wasser.

„Hier! Nehmt meine Hand!“ Es gelang Caitlynn nah genug an die andere Seite des Burggrabens zu paddeln, um Yadeles ausgestreckte Hand zu packen. Mit viel Ächzen und Schnaufen half ihr Yadele an Land.

„Was habt Ihr Euch nur gedacht, ausgerechnet heute im Burggraben schwimmen zu gehen? Wenn ich euch nicht gehört hätte – ertrinken hättet Ihr können!“

„Ich ... es war nicht meine Idee!“, stammelte Caitlynn und wrang ihr Nachthemd aus, so gut sie konnte. Heimlich blickte sie hinauf zum offenen Fenster. Die Heiratshändlerin war nicht mehr zu sehen. Yadele legte ihr ihren Umhang über die Schultern und hob ihre Einkäufe wieder auf. „Jetzt seht zu, dass Ihr rasch ins Warme kommt, bevor Ihr Euch noch den Tod holt!“

Kaum hatten sie und Caitlynn die Zugbrücke überquert, kam ihnen auch schon die Gräfin entgegen. Zorn funkelte in ihren Augen. Sie packte Caitlynn an den Schultern und schüttelte sie. „Du ... du ... hast alles verdorben! Lady Bryanna will sofort abreisen. Sie sagt, du bekommst höchstens einen Platz am Ende der Liste. Weißt du, was das bedeutet?“

Caitlynn machte sich mit einem Ruck frei und zog den Umhang vor ihrer Brust zusammen. „Nein, das weiß ich nicht. Und es ist mir auch egal. Ich will keine Heirat, kein Standeszeichen, das mich zum Anhängsel irgendeines Barons oder Grafen macht! Ich habe dir gesagt, was ich will: Mein eigenes Berufszeichen, meine eigene Bestimmung.“

Damit marschierte sie an ihrer Mutter vorbei, auf den Burgeingang zu. „Du wirst noch sehen, was du davon hast. Und glaub nur nicht, dein Vater lässt sich das gefallen“, hörte sie ihre Mutter rufen, doch Caitlynn drehte sich nicht um, während sie von Yadele begleitet, die Stufen hochstieg. Die beiden Flügel der schweren, mit Eisen beschlagenen Tür standen eine Handbreit offen.

Caitlynn zog sie ein Stück weiter auf und ... stand der Heiratsvermittlerin gegenüber. Bryanna trug ihre Reisetasche und hatte sich einen silberdurchwirkten Umhang aus blauem Samt übergeworfen. Caitlynn zuckte zusammen und knickste rasch, ebenso Yadele. Hat sie gehört, was ich zu Mutter gesagt habe?, fragte sie sich bang.

„Was ist mit meiner Kutsche?“, verlangte die Heiratshändlerin zu wissen.

„Meine Mutter kümmert sich darum, Lady Bryanna“, beeilte sich Caitlynn zu versichern. „Ich ... ich war nicht gut?“

Die beiden perfekten Bögen über den blassblauen Augen wanderten zwei Fingerbreit nach oben. „Nicht gut? Dein Vater wird sich anstrengen müssen, jemanden oberhalb eines Stallknechts zu finden, der dich in seiner Linie haben möchte.“ Die Verachtung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Nun, es ist im Grunde nicht verwunderlich, bedenkt man den weißen Fleck in deiner Erblinie. Ein Glück für deine Geschwister, dass sie von diesem tauben Erbe verschont geblieben sind. Weitestgehend.“

Caitlynn kam nicht mehr dazu, zu fragen, was sie damit meinte, denn Bryanna rauschte an ihr vorbei zur Türe hinaus, ohne sich zu verabschieden.

„War sie das?“, fragte Yadele. „Die Heiratshändlerin?“

„Das war sie“, nickte Caitlynn. „Ihretwegen bin ich im Graben gelandet.“

„Das wird dem Herrn Grafen nicht gefallen.“

Caitlynn nickte grimmig. „Das fürchte ich auch.“

Die erste Hürde hatte sie genommen. Jetzt kam es nur noch darauf an, ob ihr Vater sich überzeugen ließ, das Geburtsfest klein und bescheiden zu halten. Ohne Bewerber.

 

*

 

„Und ich danke allen hier Versammelten, dass Ihr das fünfzehnte Geburtsfest unserer Tochter Caitlynn mit uns feiert.“ Der Graf hob das Glas und prostete allen zu. „Musik!“

Die drei Dorfmusiker auf dem behelfsmäßigen Podest im hinteren Winkel des Saales begannen zu spielen, während die von der Gräfin extra für das Fest gemieteten Dienstboten das Essen auftrugen.

Steif saß Caitlynn auf dem gepolsterten Sessel an der langen Tafel, genau gegenüber einem jungen Mann mit rotbraunen Locken, vielen Sommersprossen auf der blassen Haut und einer derart kleinen Nase in dem runden Gesicht, dass sie sich insgeheim fragte, wie er überhaupt genug Luft bekam.

Kelteb der Sohn des bekanntesten Goldschmiedes und Juwelenschleifers, so stellte er sich ihr vor, trug an allen Fingern beider Hände prächtig geschmiedete Juwelenringe. „Die an der rechten Hand sind jene meines verstorbenenn Großvaters“, erklärte er. „Sobald ich meine Ausbildung beendet habe, werde ich die Steine herausbrechen und das Gold einschmelzen und daraus mein Meisterstück fertigen. Und die hier links“, er rieb die Edelsteine rasch über den Ärmel seiner Weste aus lila Fadenglanz, damit nur ja kein Staubkorn ihren Glanz trübe, „sind jene meines Vaters. Ich trage sie heute nur, als Zeichen, dass er sein Einverständnis gegeben hat.“

Und um alle daran zu erinnern, wer hier im Saal die bestgefüllten Truhen hat, dachte Caitlynn und blickte sich um. Die Tafel war gut besetzt mit siebzehn jungen Damen und zwanzig männlichen Gästen, alle älter als Caitlynn. Von den Damen kannte sie nur drei namentlich, da sie aus Felsrain stammten. Die anderen waren Töchter von Männern, mit denen der Graf Geschäfte zu machen pflegte. Nicht wenigen davon schuldete er mehr als nur ein paar Silbermünzen. Caitlynn konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob ihr Vater sich ihre Teilnahme an diesem Fest mit einem Schuldenerlass hatte bezahlen lassen. Von den männlichen Gästen zählte Caitlynn siebzehn Söhne reicher Kaufleute oder besonders wohlhabender Handwerksmeister. Dazu kam Caitlynns persönlich geladener Gast: Hermen, der Hüter-des-Geheimwissens aus dem Roten Haus in Felsrain und Vater ihrer einziger Freundin Kristana, die inzwischen ihre Ausbildung im Roten Turm von Ibjadar begonnen hatte.

Caitlynn wusste, er mochte sie und er war einer der wenigen, die es wagten, ihrem Vater die Stirn zu bieten.

Aus den Augenwinkeln sah sie zum Kopfende der Tafel, wo ihr Vater saß. Rechts von ihm löffelte ihre Mutter gerade genüsslich ihre Suppe und links von ihm, Caitlynn unterdrückte mit Mühe ein Schaudern, saß der Grund, weswegen sie nicht um dieses Fest herumgekommen war: Bryanna, die Heiratshändlerin.

Heute Morgen war sie eingetroffen, sehr zur Freude der Gräfin. Caitlynn war sich sicher, dass ihre Mutter der Heiratshändlerin irgendwie glaubhaft gemacht haben musste, dass ihre Tochter willentlich ihr Charisma unterdrückt hatte.

Jedenfalls hatte Caitlynn nun ständig das Gefühl, dass sie erneut geprüft wurde. Jeder offene Widerstand gegen die Teilnahme an der Feier, wäre von ihrem Vater mit seinem Charisma unterdrückt worden. Und dagegen hätte Caitlynn sich nicht wehren können, ohne zu enthüllen, dass sie die Heiratshändlerin getäuscht hatte.

Und Bryanna war nicht allein gekommen. Rechts neben ihrer Mutter hatte ein junger Mann Platz genommen, den Bryanna als ihren Neffen Falkyan vorgestellt hatte. Auch er trug mütterlicherseits das Familienzeichen des Klauenclans mitsamt einer Baronskrone mit vier Perlen. Damit war er der Ranghöchste unter den Gästen. Noch nie hatte Caitlynn einen so attraktiven jungen Mann gesehen. Er war vielleicht drei Jahre älter als sie mit schulterlangen, gewellten schwarzen Haaren, die im Kerzenlicht schimmerten. Seine Augen waren samtig braun und seine Züge fast ein wenig zu zart für einen Mann. Mit einem Kleid und den richtigen Schönheitsmitteln hätte er auch eine junge Frau darstellen können. Er schien ihre Mutter bestens zu unterhalten. Caitlynn beobachtete seine wohlgesetzten Gesten, und wie seine schlanken Finger den Weinkelch hielten, eleganter als selbst ihr Vater das vermochte. Wenn sie eines seiner Worte aufschnappte, klang es warm und weich.

Caitlynn musste sich zwingen, ihren beiden Tischnachbarn mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der eine erzählte ihr von den Pelztierjagden seines Vaters, während der andere sie mit den Qualitätsmerkmalen für Obstbrände vertraut machen wollte. Ihr Gegenüber, der Sohn des Goldschmiedes, war noch am unterhaltsamsten. Er erzählte ihr von den ausgefallen Wünschen der adeligen Kundschaft in der Familienwerkstatt in Ibjadar.

Dennoch schien sich das Essen ewig hinzuziehen.

Endlich, der Kuchen und die eigelegten Früchte waren längst verzehrt, erhob sich der Graf und klatschte in die Hände.

„Musiker, spielt zum Tanz!“

Ihre Mutter hatte sie genau instruiert, was ihr nun bevorstand. Sie würde mit jedem der jungen Männer tanzen müssen. Diejenigen, die echtes Interesse an ihr hätten, würden sie dann zu einem kleinen Plausch auf den Balkon hinausführen, der ein Stück über den Rand des Burggrabens ragte, sodass man den Mond bewundern konnte, wie er sich im stillen, dunklen Wasser spiegelte.

Gehorsam stellte sich Caitlynn neben ihren Eltern am Kopfende des Saales auf, die Tafel wurde abgeräumt und zur Seite gerückt, und die zukünftigen Freier reihten sich so auf, wie es ihr Rang gebot. Falkyan blieb neben seiner Tante stehen, offenbar war er nicht als Mitbewerber gekommen. Weshalb auch, der Klauenclan kann auf so schwaches Charisma wie das meine gut verzichten.

Der Sohn des Goldschmiedes reichte ihr als erster die Hand. Die Schritte hatte Caitlynn wieder und wieder geübt, daher musste sie sich nicht auf jede Wendung und jede Schrittfolge konzentrieren.

Nach dem Tanz führte er sie hinaus auf den Balkon und machte ihr Komplimente. Doch sobald Caitlynn offen davon sprach, dass sie erst eine Ausbildung als Vollstreckerin machen wollte, bevor sie überhaupt eine Heirat in Betracht zog, erlahmte sein Interesse und er führte sie zurück in den Saal.

Nicht besser erging es den anderen sieben, welche seinem Beispiel folgten. Die anderen waren offenbar zufrieden damit, eingeladen worden zu sein und plauderten lieber mit einer der anderen jungen Damen.

Ganz zum Schluss, das Gesicht des Grafen war düster und düsterer geworden, verbeugte sich Falkyan doch noch vor ihr. Der Graf entspannte sich und nickte wohlwollend.

Der Griff von Falkyans Hand war fest und warm und Caitlynns Herz begann heftig zu klopfen, als er ihr ein strahlendes Lächeln schenkte. Mit geschmeidigen Schritten führte er sie über das Parkett und plauderte nebenbei über das Gut seines Großvaters, eines Grafen, und dessen Pferde. Er erkundigte sich nach den Büchern, die sie gelesen hatte und wusste auch witzige Anekdoten über Maesinar, jenes Adelsinternat, in welchem Caitlynns Schwester Shina und ihr Bruder Gared, gerade ihre Ausbildung machten.

Viel zu rasch war der Tanz vorüber. Caitlynn wollte ihm schon mit einem artigen Knicks danken, doch er hielt ihre Hand fest.

„Würdet Ihr mir die Freude machen, mit mir die Sterne zu betrachten, Lady Caitlynn?“

Ihre Augen wurden groß und sie nickte heftig. „Sehr gern, Sir Falkyan.“

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Bryanna ihrer Mutter etwas zuflüsterte, während Falkyan sie an ihren Eltern vorbei zum Balkon geleitete. Sogleich kühlte Caitlynns Begeisterung deutlich ab. Die Kopf brav gesenkt sah sie unter dem Vorhang ihrer Wimpern neugierig zu Falkyan hinüber. Ja, er war wirklich bei weitem der attraktivste Mann im Saal und er benahm sich vorbildlich. Und doch, jetzt da ihr Misstrauen geweckt worden war, fiel ihr der selbstgefällige Zug um seinen Mund auf und die verächtlichen Blicke, die er für die anderen Freier übrig hatte.

Draußen führte er sie nach links zu jener Seite des Balkons, die außerhalb des Blickfelds ihrer Eltern und der anderen Gäste lag.

Caitlynns Herz schlug heftiger und sie spürte, wie ihre Handflächen vor Aufregung feucht wurden. Was hatte er im Sinn?

Falkyan zog sie nach vorn, sodass sie genau in der äußeren Ecke der Balustrade zu stehen kam, mit dem Gesicht zu ihm gewandt. Sie versuchte ein wenig Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, doch an der Rückseite ihrer Schenkel fühlte sie den Druck der nicht ganz hüfthohen Steinumrandung. Sie saß in der Falle.

„Nun schau nicht so erschrocken“, lachte Falkyan leise. „Das Haar wie Feuer und dabei tust du so scheu wie ein kleiner Vogel. Doch das hier ...“ Seine Blicke wanderten über ihr Gesicht, ihren Hals und hinunter zu dem tiefen, rechteckigen Ausschnitt ihres Kleides, „spricht ganz anders zu mir.“

Heftig errötend raffte Caitlynn den Stoff mit einer Hand über ihrem Busen zusammen. „Das Kleid gehört mir nicht wirklich“, hörte sie sich murmeln. Selbst das Stück Spitze, das um den Anstand zu wahren, noch innen aufgenäht worden war, lag nicht wirklich eng auf ihrer Haut. Während des ganzen Abendessens war sie steif wie ein Holzstock auf ihrem Stuhl gesessen, hatte nicht gewagt, sich vorzubeugen, aus Angst, ihrem Gegenüber zu tiefe Einblicke zu gewähren. In ihre Scham mischte sich Ärger, dass er so leichthin zum vertrauten Du gewechselt war, ohne sie zu fragen, ob sie das wollte.

„Lass mich raten“, die Belustigung in seiner Stimme war nicht zu überhören, „der Stil wie vor über zwanzig Jahren, besonders diese Ärmel ... hat es deine Mutter für dich ausgegraben und mit diesen grauenhaften Goldborten 'aufbessern' lassen?“

Caitlynn spürte, wie ihre Wut die Oberhand gewann. Ja, sie mochte das Kleid nicht besonders und mit dem Alter hatte er Recht. Und die Goldborten vom Hochzeitskleid ihrer Mutter waren wunderschön, nur passten sie eben nicht zu diesem hier. Doch das gab ihm nicht das Recht dermaßen über die Mühe zu spotten, die sich die Dorfschneiderin damit gemacht hatte.

Hatte er überhaupt eine Ahnung wie mühsam ihre Mutter das Silber für die Schneiderin zusammengekratzt hatte?

Er schien ihre Wut nicht zu bemerken, sondern fuhr lächelnd fort. „Das Allerbeste daran ist freilich diese Spitze ...“

Caitlynn schnappte erschrocken nach Luft, als er seine Finger an ihren Halsansatz legte und sie tiefer gleiten ließ.

„Nein!“, keuchte sie und packte seine Hand.

Sogleich schlug sein Charisma zu, zerschlug ihre mühsam errichtete Scheinabwehr und sein Wille wurde zu ihrem.

„Im Grunde genommen, mein scheues Vögelchen, willst du es ... du wartest darauf, seit du mich gesehen hast“, murmelte er ihr ins Ohr und drückte sie härter gegen die Balustrade, dass sie sich nach hinten lehnte, in dem hilflosen Versuch, seinen Lippen zu entkommen. Seine Finger tauchten tiefer in ihren Ausschnitt, schlossen sich um ihre Brust und drückten sie so grob, dass sie einen leisen Schmerzenslaut von sich gab.

Der Teil ihres Wesens, der abgekapselt tief in ihr das Geschehen beobachtete, schlug Alarm. Wir sind schon so lange hier draußen, weshalb kommt niemand nachsehen, was wir tun, warum wir uns verstecken? Das Getuschel zwischen ihrer Mutter und der Heiratshändlerin fiel ihr wieder ein.

„Jetzt sag, dass ich dein Meister bin und du mir gehörst“, forderte er mit lauerndem Unterton in der Stimme. Zugleich spürte sie, wie er tiefer in ihrem Geist wühlte, so als wäre er auf der Suche.

„I ... ich“, begann sie langsam, während ihr verborgenes Ich endlich verstand.

Eine Falle. Das Ganze ist eine Falle, damit ich mein Charisma einsetze und sie mich neu bewerten kann.

„... bin dein ...“ Doch was tun? Ihre Gedanken rasten im Kreis. Jede Gegenwehr gegen sein starkes Charisma würde der Heiratshändlerin in die Hände spielen und ihr Sturz in den Burggraben wäre umsonst gewesen.

„Ja, sag es!“ Sein Charisma packte härter zu, zerrieb ihren Willen zu Staub.

„Du bist mein ...“

Natürlich. Der Burggraben.

In vorgetäuschter Begierde schlug Caitlynn ihre Finger in sein Rüschenhemd, während sie sich ergeben weiter und weiter über die Balustrade hinaus lehnte, die Kehle überstreckt wie ein Tier, das sich dem Stärkeren ergibt ... bis sie nach hinten kippte und Falkyan mit sich riss. Er war so überrascht, dass er zu spät versuchte, sich an der steinernen Umrandung festzuhalten.

Gemeinsam fielen sie ins Wasser.

Wie schon bei seiner Tante, so brach auch sein Charisma durch den Schock des Eintauchens in das kühle Wasser und Caitlynn schrie lautstark nach Hilfe.

Kelteb, der Sohn des Goldschmiedemeisters und Hüter Hermen erkannten zuerst vom Balkon aus, was geschehen war und kletterten nah an der Wand über die Balustrade, sodass sie noch auf dem weichen Erdboden der Böschung landeten und zum Graben hinunterrutschen konnten. Gemeinsam halfen sie erst Caitlynn, dann Falkyan ans Ufer. Der schwere Stoff des nassen Kleides klebte an ihr wie eine zweite Haut. Zitternd klammerte sie sich an Hermens Arm. „Der da!“, sie zeigte auf den triefenden Falkyan. „Hat versucht, mich zu entehren und das mit Charisma. Ich ... ich habe mich nicht wehren können.“

„Stimmt das?“, ertönte von oben die Stimme des Grafen. Caitlynns Eltern, die Heiratshändlerin und ein ganzer Pulk aus Gästen scharten sich auf dieser Seite des Balkons.

„Natürlich nicht!“, schnappte Falkyan zurück. „Ich habe nur so getan als ob, weil Bryanna nochmal ihr Charisma prüfen wollte.“

„Und sie hat sich gewehrt?“, fragte ihre Mutter begierig.

Caitlynn zuckte zusammen. Der Sturz hatte nicht halb so wehgetan, wie dieser Satz. Es ist ihr egal, wie er mit mir umgegangen ist, welche Angst ich hatte.

„Nicht der Rede wert. Sie hätte alles mit sich machen lassen“, gab Falkyan zurück. „Bryanna, du kannst sie dort lassen, wo sie steht.“

„Vielleicht auch nicht.“ Hermen schob Caitlynn sacht von sich weg und räusperte sich. „Ich denke nicht, dass solche Praktiken mit den Grundsätzen der Charismawächter vereinbar sind. Und genau das werde ich sie auch wissen lassen.“

Damit drehte er sich um und marschierte davon.

Caitlynn hob den Kopf und sah, wie es im Gesicht ihres Vaters arbeitete. Hermen hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, das spürte sie, und damit ihren Vater vor versammelter Gesellschaft in Zugzwang gebracht. Schließlich gab er sich einen Ruck und wandte sich Bryanna zu.

„Als Vater und Euer Gastgeber verlange ich, dass um der Ehre meiner Tochter willen, Euer Neffe, noch heute Abend meine Burg verlässt. Auch ich werde Beschwerde einlegen, was Eure Methoden betrifft.“

Die Heiratshändlerin neigte den Kopf. „Wie Ihr wünscht. Ich bedaure diesen Vorfall. Mein Neffe hat seine Grenzen überschritten und ich werde ihn disziplinieren.“

„Bryanna“, protestierte Falkyan, doch seine Tante schnitt ihm mit einer scharfen Geste das Wort ab.

„Was Eure Tochter betrifft, Graf Antol, so revidiere ich meine erste Bewertung. Sie gehört auf die Schattenseite.“

Caitlynns Mutter schnappte entsetzt nach Luft. „Ihr ... Ihr wollt sie von der Liste streichen? Aber dann ...“

„Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“ Die Heiratshändlerin drehte sich auf der Stelle um und stürmte in den Saal.

„Ihr da!“, hörte Caitlynn sie rufen. „Ein heißes Bad in die Gemächer meines Neffen. Dieses Fest ist vorbei.“

Und so war es auch. Ein Freier nach dem anderen verabschiedete sich, ohne sich von Vater in die Liste der Gäste für das Perlenfest nächstes Jahr eintragen zu lassen. Sie war frei.

Kaum hatte sich die Tür hinter dem letzten geschlossen knüllte Caitlynns Vater den leeren Bogen zusammen und warf ihn ihr vor die Füße.

„Nichts. Absolut nichts bist du mehr wert. Ist es das, was du wolltest?“ Seine Stimme war gefährlich leise.

Caitlynn wich einen Schritt zurück. „Ich ... ich werde einen Beruf erlernen, Vater. Ich werde Vollstreckerin.“

„Vollstreckerin?“ Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wenn es dich so sehr danach giert, Schmerz zu spüren...“

Sie fühlte, wie er sein Charisma sammelte und errichtete hastig eine echte Barriere. Doch da schob sich ihre Mutter zwischen die beiden.

„Es ist vorbei, Antol“, sagte sie müde. „Selbst wenn Bryanna jetzt Caitlynns wahre Kraft spüren könnte, ist sie viel zu wütend, um ihre Entscheidung zurückzunehmen. Wir konnten einmal Einspruch erheben, das haben wir getan und deshalb war sie heute hier. Ein weiteres Mal werden uns die Charismawächter nicht zugestehen.“

Der Graf knurrte und nur widerwillig zog er sein Charisma zurück. „Und was machen wir jetzt mit ihr?“

Caitlynn öffnete den Mund, doch ihre Mutter trat ihr auf die Zehen, dass sie zusammenzuckte und ihr die Tränen in die Augen stiegen vor Schmerz.

Die Gräfin wandte sich wieder ihrem Gatten zu und lächelte.

„Keine Sorge, Antol. Ich habe mir etwas überlegt. Hab noch ein paar Tage Geduld.“ Damit schob sie Caitlynn in Richtung Tür, ohne ihr jedoch zu verraten, was sie damit meinte.

 

Später in ihrem Zimmer trat Caitlynn ans Fenster und blickte zum Burggraben hinunter.

Frühestens in drei Jahren konnte sie sich beim Schwarzen Turm bewerben, eine Einwilligung ihrer Eltern würde sie dann nicht mehr brauchen. Es galt nur, bis dahin nicht verheiratet zu werden und das hatte sie heute erfolgreich verhindert.

Doch Freude wollte sich keine einstellen, denn die Worte ihrer Mutter gingen ihr nicht aus dem Sinn. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie dieser Sieg heute noch teuer zu stehen kommen würde.

 

Das grüne Tuch

 

 

„Lynna, lass das!“

Caitlynn zuckte zusammen und nahm die Hände von den dünnen Gazevorhängen, die sich im Fahrtwind bauschten. „Da draußen ist doch niemand, Mutter.“

„Wo Felder sind, sind Bauern. Und Bauern tratschen.“ Die behandschuhten Finger der Gräfin klopften gegen das Glas des Schiebefensters. „Soll ich das Fenster wieder schließen?“

Caitlynn verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf. Zu gut roch die Frühsommerluft verglichen mit dem säuerlichen Mief, der sich in jedem Stück Leder und jeder Handbreit Holz der Mietkutsche festgefressen hatte.

Mit einem vorsichtigen Blick auf ihre Mutter beugte sich das Mädchen vor, um durch die Falten der Vorhänge ein paar Eindrücke zu erhaschen. Die zartgrünen Rechtecke jungen Korns waren buntgetupftem Wiesengrün gewichen, durchzogen von unregelmäßigen Flecken aus gelblichem Grau.

„Da sind keine Felder mehr. Nur Wiesenblumen und Schafe.“