Spiegelzauber

Über die Autorin

Bettina Ferbus ist Jahrgang 1969 und hauptberuflich als Reitlehrerin in ihrer Heimatstadt Zell am See tätig. Neben den Pferden waren Bücher schon immer ihre größte Leidenschaft. Süchtig nach Geschichten hat sie schon sehr bald angefangen, sich ihre eigenen auszudenken und schließlich auch niederzuschreiben.

Inzwischen sind etliche ihrer Kurzgeschichten und Romane bei unterschiedlichen Verlagen erschienen.

Mehr zur Autorin finden Sie auf ihrer Homepage:

www.ferbus.at/bettina

Band 1


Spiegelzauber





Bettina Ferbus


schlange




© Bettina Ferbus 2014
Machandel Verlag Haselünne

Charlotte Erpenbeck

Cover-Designerin: Elena Münscher

mit Material von

Juraana / Nik svoboden / TK0920 / shutterstock.com

Druck: booksfactory.de

1. revidierte Auflage 2017

ISBN 978-3-95959-083-9




1

 

„Sehr verehrte Damen und Herren! Für mein nächstes Zauberkunststück brauche ich einen Helfer oder eine Helferin. Wer von Ihnen wäre bereit, mich zu unterstützen?“

Ich drückte mich tiefer in meinen Sitz. Er sollte mich nicht sehen, dieser Zauberer. Ich wollte auf keinen Fall auf die Bühne. Vor Publikum verlor ich immer die Nerven. Schon in der Schule hatte ich sämtliche Prüfungen verpatzt, zu denen ich an die Tafel gerufen worden war.

„Wie wäre es mit der Dame in Pink?“

Ich duckte mich hinter den breiten Rücken meines Vordermanns.

„Nicht so schüchtern!“

Richard stieß mich an.

„Der meint dich, Tanja.“

„Wie wäre es mit einem Applaus als Ermutigung?“

Der ganze Saal fing an rhythmisch zu klatschen. Ich wollte weg. Weit weg. Irgendwohin an einen einsamen Ort, wo mich niemand kannte.

„Komm schon, tu es für mich! Ich möchte dich in diesem Kleid auf der Bühne sehen!“

Richards Hand strich über meinen Nacken. Ich konnte den Hauch seines warmen Atems auf meiner Haut spüren, während er in mein Ohr flüsterte.

Warum hatte er mir bloß dieses verdammte Kleid gekauft! Es war viel zu eng geschnitten, und dann noch diese auffällige Farbe!

„Du schaffst das!“

Er drückte meine Hand, schob mich regelrecht von meinem Sitz hoch. Der Applaus schwoll an.

Bitte Gott, lass mich jetzt nicht umknicken.

Langsam stieg ich das Treppchen zur Bühne hoch. Ich wagte nicht, mich schneller zu bewegen. Die Bleistiftabsätze waren so wacklig, dass bei jedem Schritt Bilder von einer in dekorativem Pink vor die Füße des Zauberers fallenden Tanja in meinem Geist entstanden.

Warum hatte Richard noch mal darauf bestanden, diese Show zu besuchen?

„Magic Martigan ist total angesagt. Der macht Sachen, das hast du noch nicht gesehen!“

Bis jetzt hatte der Zauberer aber nichts wirklich Außergewöhnliches geboten. Sicherlich, er hatte statt einem Kaninchen eine Schlange aus seinem Hut geholt. Eine richtig große Riesenschlange. Aber sonst ...

Der Zauberer griff nach meiner Hand und half mir den letzten Schritt auf die Bühne. Ich hatte es geschafft, auf den Füßen zu bleiben.

„Nun hat unsere Lady in Pink doch noch auf die Bühne gefunden!“, rief der Zauberer, und das aufbrandende Gejohle trieb mir die Hitze in die Wangen.

„Wie heißen Sie?“

Ich räusperte mich. Meine Kehle fühlte sich an, als wäre sie aus Papier.

„Tanja.“

„Einen Extraapplaus für Tanja!“

Der Zauberer drehte mich so, dass ich ins Publikum sehen musste. Mein Gesicht glühte. Wahrscheinlich war ich inzwischen rot wie eine Tomate und die Farbe meiner Wangen biss sich mit der Farbe meines Kleides. All mein Blut musste in den Kopf gestiegen sein, denn mein Magen war ein einziger kalter, harter Klumpen.

Mit seiner erhobenen Linken bat Magic Martigan um Ruhe. Mit der Rechten hielt er mich dabei fest, als wollte er verhindern, dass ich im letzten Moment die Flucht ergriff.

„Geschätztes Publikum! Auch wenn diese reizende Dame ein Augenschmaus ist, so muss ich sie nun doch vor ihnen verstecken. Sehen sie diesen Kasten?“

Er deutete mit seiner Linken auf einen hohen Kasten. Er war aus dunklem Holz und sah kaum anders aus als die Kästen, die von Dutzenden anderen Zauberern benutzt wurden.

„Sehen Sie genau hin, meine Damen und Herren! Jede einzelne dieser Wände ist aus massivem Holz.“

Die Assistentin klopfte lautstark auf die Wände des Kastens. Zwei muskelbepackte Kerle kamen auf die Bühne geeilt, kippten den Schrank, packten ihn an den Enden und drehten ihn einmal um die eigene Achse. Dann stellten sie ihn wieder auf. Währenddessen ging der Zauberer auf den Kasten zu. Da er mich nicht losließ, blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sein Griff war fest, beinahe schmerzhaft. Ich versuchte mich loszumachen und gleichzeitig die Balance auf den hochhackigen Schuhen zu halten. Ein Ding der Unmöglichkeit! Ich musste mit ihm mitgehen, oder ich würde der Länge nach hinschlagen.

„Können Sie sich vorstellen, dass ein Mensch aus diesem Kasten verschwinden kann? Nein? Ich auch nicht.“

Gelächter im Publikum. Ich wünschte mich ebenfalls ins Publikum. Zu gerne würde ich zusehen, wie jemand anders diesen Kasten betrat.

„Um es noch ein wenig schwieriger zu machen, habe ich mir etwas Besonderes ausgedacht.“

Die beiden Muskelmänner brachten Gurte und Seile an dem Kasten an, der mich mit einem Mal an einen Sarg erinnerte. Das Atmen fiel mir schwer, wenn ich daran dachte, in dem Ding eingesperrt zu werden. Ich wollte dort nicht hinein.

Mach dich nicht lächerlich, mahnte ich mich. Was soll passieren? Das ist ein uralter Trick. Hunderte Zauberer haben ihn schon aufgeführt. Ich bohrte die Fingernägel in meine Handflächen, damit mich der Schmerz ablenkte. Gott, wäre das peinlich, wenn ich jetzt die Nerven verlor und kreischend von der Bühne stolperte, nur weil ich mich vor diesem dämlichen Kasten fürchtete. Oder noch peinlicher – ich könnte das Gleichgewicht verlieren, umkippen und dem Dicken in der ersten Reihe direkt in den Schoß fallen.

„Meine Damen und Herren, sehen Sie genau hin. Wir werden jetzt den Kasten ein wenig anheben. Beachten sie die Lücke zwischen Kasten und Bühne. Keine Falltür! Kein doppelter Boden! Sehen Sie wahre Magie!“

Die Muskelmänner hielten den Kasten, der Zauberer und seine Assistentin halfen mir hinein. Obwohl „halfen“ nicht das richtige Wort war. Sie schoben und hoben mich. Merkte niemand, dass ich vor Angst steif wie ein Brett war? Falls es irgendjemandem auffiel, störte er sich jedenfalls nicht daran.

Ich hielt mich krampfhaft an den Seitenwänden fest, drehte mich um und blickte hinaus ins Publikum. Richard stand da und grinste breit, beide Daumen erhoben. Er bückte sich kurz zu seinem Nachbarn, sagte etwas, deutete in meine Richtung und hielt dann wieder die Daumen hoch.

Sah denn niemand die Panik in meinem Gesicht?

Schon machte sich der Zauberer daran, die Tür zu schließen. Ich wollte hinausspringen, doch meine Füße gehorchten nicht. Ich wollte schreien, doch mein Mund blieb geschlossen.

„Machen Sie es gut“, sagte der Zauberer mit einem leicht spöttischen Unterton. Dann wurde es dunkel.

Was hatte er damit sagen wollen? Musste ich etwas tun? Er hatte mir keine Anweisungen gegeben. Oder wollte er damit ausdrücken, dass er nicht sicher war, dass alles gut gehen würde?

Das Schwanken des Kastens hatte aufgehört. Stimmte etwas nicht? Wurde ich gar nicht mitsamt meinem Holzgefängnis zur Saaldecke hochgezogen? Es war dunkel und still. Obwohl ich einen sanften Luftzug spürte, folglich nicht in Gefahr war zu ersticken, war mir, als würde ein schweres Gewicht auf meinem Brustkorb liegen und mir die Luft abdrücken. Ich rang verzweifelt nach Atem, betete, dass die Zeit schneller vorbeigehen möge. Lange konnte ich die Dunkelheit und die Enge nicht mehr ertragen.

Vorsichtig drückte ich gegen die Tür. Als sich nichts regte, schlug ich mit meinen Fäusten gegen das Holz. Es war so unnachgiebig wie eine Mauer. Ich war eingemauert! Mit einem Aufschrei machte ich einen Schritt nach hinten – und geriet ins Taumeln.

Dort wo die Rückwand des Kastens hätte sein sollen, war nichts mehr. Ich drehte mich um die eigene Achse, versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, tastete nach dem Kasten. Er war verschwunden.

In einer Richtung glaubte ich die Andeutung eines Lichtschimmers zu sehen. Unsicher stolperte ich darauf zu. Es war, als würde ich durch dichten, grauen Nebel gehen. Unwillkürlich reckte ich meine Hände nach vorne. Manchmal glaubte ich Schemen zu erkennen, griff nach ihnen, doch sie waren nichts anderes als Nebelschwaden.

„Hallo! Ist da jemand!“

Kein Laut. Nicht einmal ein Echo. Es war, als würde der Nebel meine Stimme verschlucken.

„Hallo!“, versuchte ich es zaghaft noch einmal. Die Verzweiflung drückte mir die Kehle zu.

Tränen verschleierten meinen Blick. Ich wollte nach Hause. Wollte in Richards Armen liegen. Er sollte mich festhalten, mir sagen, dass alles gut war, dass ich nur geträumt hatte. Aber ich war immer noch in diesem Nichts aus Schatten und Nebel.

„Richard“, wimmerte ich und verschluckte mich vor Schreck, als meine Hände auf etwas Festes stießen. Eine Tür!

Ich musste husten, während ich verzweifelt nach der Klinke suchte. Vergeblich. In dem Versuch mehr zu sehen, reckte ich meinen Kopf nach vorne, bis ich mit der Nase gegen die Oberfläche stieß. Erschrocken aufgerissene Augen starrten mir entgegen. Laut aufschluchzend sank ich zusammen, als ich erkannte, was ich vor mir hatte: Einen Spiegel!

 

Waren fünf Minuten vergangen oder fünf Stunden? Ich wusste es nicht, hatte mein Zeitgefühl vollständig verloren. Unsicher rappelte ich mich hoch und wischte mir mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht während ich mit der anderen nach dem Spiegel tastete. Er gab mir wenigstens ein bisschen Halt.

Ohne den Kontakt zu dem einzigen festen Gegenstand in diesem Nebel aufzugeben, setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen. Dem ersten Spiegel folgten weitere und mit jedem Spiegel wurde es heller. Sie reihten sich in den unmöglichsten Winkeln aneinander, bis sie mich vollkommen umgaben.

Wo ich auch hinblickte, ich sah mich. Von vorne, von hinten, von der Seite. Manchmal ganz, manchmal nur die blondierten langen Strähnen an meinem Hinterkopf. Wenigstens verzerrten diese Spiegel meine Gestalt nicht, sodass sie mein normales, rundliches Gesicht zeigten und meine sorgfältig mit Schminke betonten braunen Augen. Die üblichen Spiegelkabinett-Ansichten eines in die Länge gezerrten Gesichts, eines fußballgroß aufgeblähtes braunes Auges, oder einer grellpinken Strichfigur, die besser zu einer Vierzehnjährigen als einer Vierzigjährigen gepasst hätte, blieben mir erspart. Ich fühlte mich orientierungslos, in meinem Kopf drehte sich alles. Ich wollte nur noch hier raus.

Als mein Bild in den Spiegeln verschwamm, dachte ich zuerst, es läge an den Tränen, die meine Augen füllten. Doch dann formten sich die bunten Schlieren zu einer verzerrten Fratze, die auf keinen Fall ich sein konnte. Die Haut spannte sich über den Knochen. Unter den violetten Augen lagen tiefe Schatten. Auf dem kahl rasierten Schädel ringelten sich zischende Schlangen. Sie krochen auf die Schulter herunter und wanden sich um die Arme.

Ich wollte zurückweichen, doch meine Beine gehorchten mir nicht. Meine verräterische Hand wanderte über den Spiegel, näherte sich ihrem sehnigen, vernarbten Gegenstück. Dann berührten sich die Fingerspitzen. Der Boden erbebte, die Spiegel begannen zu kreisen. Sie tanzten wie ein verrückt gewordenes Spiegelkarussell um mich herum. Immer schneller und schneller drehte sich dieses Karussell. Mir war, als würde mein Innerstes nach außen gekehrt. Nein, das war nicht richtig. Es war, als würde ich aus meinem Innersten herausgerissen. Danach kam die Dunkelheit.

 

Als mein Bewusstsein zurückkehrte, flossen meine Gedanken anfangs so träge, als müssten sie sich durch Sirup bewegen. Nur so war es zu erklären, dass ich mich einen Moment lang fragte, warum mein Bett aus Stein war.

Dann kam innerhalb eines Augenblicks die Erinnerung zurück. Sie traf mich wie ein elektrischer Schlag. Mein Atem wurde schneller. Mein Herz raste. Ich hatte Angst davor, wo ich mich wiederfinden würde. Lag ich noch in diesem Spiegellabyrinth? Oder war ich in der Rumpelkammer des Zauberers gelandet? Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Solange ich sie geschlossen ließ, konnte ich wenigstens noch hoffen, dass alles in Ordnung war. Vielleicht war ich beim Gang auf die Toilette ohnmächtig geworden und hatte mir meine seltsamen Erlebnisse nur eingebildet.

Ich fühlte eine Berührung an meinem Bein. Es kitzelte, dann ein kurzer Schmerz. Unwillkürlich riss ich die Augen auf.

Eine Ratte starrte mich aus runden, schwarzen Knopfaugen an. Dann öffnete sich die spitze Schnauze und zeigte Zähne. Offenbar wollte das Tier sich wieder dem dünnen, sehnigen Bein widmen, von dem es bereits einen winzigen Bissen genommen hatte.

Ich kreischte, strampelte, trat panisch um mich. Ich wollte auch mit den Händen um mich schlagen, aber meine Handgelenke wurden festgehalten. Das Klirren der Ketten, die mich an die Wand fesselten, hallte durch die Kerkerzelle.

Mit einem enttäuschten Fiepen, weil die erhoffte Beute doch nicht wehrlos war, verschwand die Ratte in einem Loch in der Mauer. Ich blieb allein zurück. Allein in einem aus Stein gemauerten Loch, das höchstens drei Meter im Quadrat maß.

Ich konnte nicht aufhören zu schreien. Das hier war alles falsch. Wohin waren meine manikürten Hände verschwunden, meine wohlgeformten Schenkel, die Richard stets bewundert hatte? Dieser dünne, sehnige Leib, der auf dem fauligen Stroh lag, gehörte nicht mir. Niemals hätte ich mir diese widerlichen, zischenden Schlangen auf die Arme tätowieren lassen. Und niemals wäre ich so ungepflegt gewesen. Die Fingernägel dieser klauenartigen Hände waren abgebrochen, und Schmutz hatte sich in die Rillen der Haut regelrecht hineingefressen.

„Nein“, flüsterte ich leise. Auch meine Stimme klang fremd.

Ich hatte das Gefühl zu fallen, ins Bodenlose zu stürzen. Mein Herz schlug, als wollte es die Rippen sprengen. Nein, es war nicht mein Herz. Es war das Herz des Körpers, in dem ich nun eingesperrt war.

„Aufwachen! Ich will aufwachen!“, kreischte ich. „Das hier ist nicht echt!“

Ich zerrte an den Ketten. Das kalte Eisen schnitt in meine Haut. Blut quoll hervor. Echtes Blut. Der Schmerz fühlte sich ebenfalls echt an.

Ein Geräusch ließ mich aufsehen. Meine verkrampften Muskeln protestierten. Ich stöhnte gequält und verzog das Gesicht. Für einen Augenblick war ich geblendet, als ich zu dem winzigen Fenster hinauf blickte. Ein Vogel hatte sich in dem durch die Gitterstäbe dreigeteilten Ausschnitt eines blauen Himmels niedergelassen. Er stieß einen eigenartigen krächzenden Laut aus und reckte seinen langen Hals.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse. Trotzdem wollte ich ihnen zuerst nicht glauben, als der Vogel die Flügel spreizte. Kein Vogel hatte solche Flügel. Es waren die ledrigen Schwingen einer Fledermaus– oder eines Drachens. Eines Drachens, der kaum größer war als eine Amsel!

Der winzige Reptilienkopf wandte sich mir zu und die Echse zischte, als ich aufschrie.

Es gab keine Drachen! Das musste eine Halluzination sein. Drogen. Irgendjemand musste mir Drogen gegeben haben. Lag es an der Luft im Kasten des Zauberers? Hatte es dort nicht eigenartig gerochen?

Erleichtert ließ ich mich gegen die Wand sinken, ohne den Drachen aus den Augen zu lassen. Ich brauchte nur ein paar Stunden zu warten, bis mein Körper die Chemikalien los war. Dann war wieder alles in Ordnung.

Aber wieso wurde mein Kopf mit jeder verstreichenden Minute klarer, ohne dass sich an der Situation etwas geändert hätte?

Der Drache hob ruckartig den Kopf, stieß einen schrillen Pfiff aus und flog davon. Vor der schweren Holztür hörte man Schritte und Stimmen.

„Lasst mich raus! Das ist ein Irrtum! Ich kann alles aufklären!“

Das war gelogen. Ich konnte nichts aufklären, hatte keine Ahnung, warum ich in einer Kerkerzelle an die Wand gekettet war wie ein Schwerverbrecher.

Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür.

„Ich bin unschuldig!“

Ein kleiner, rundlicher Mann in einer schwarzen Uniform trat ein. Seine feisten Wangen waren von einem kurz geschorenen Bart bedeckt. Ihm folgte eine hoch gewachsene Gestalt in einem dunklen Umhang, dessen Saum mit eigentümlichen Zeichen bestickt war. Sie raunte dem Dicken ein paar mir vollkommen unverständliche Worte zu. Das Gesicht war unter einer Kapuze verborgen, aber der Stimme nach musste es sich um einen Mann handeln. Ich schluckte. Fühlte mich unzureichend bekleidet in diesem dreckigen Fetzen, der mir nicht einmal bis zu den Knien reichte. Gerne hätte ich den Stoff weiter hinunter gezogen, erreichte ihn mit den gefesselten Händen jedoch nicht.

Ich räusperte mich. Vielleicht konnte mir einer der beiden erklären, was mit mir passiert war.

„Entschuldigen Sie...“

Sie beachteten mich nicht. Wahrscheinlich verstanden sie mich ebenso wenig, wie ich sie. Ich versuchte die Worte, mit denen sie sich verständigten, irgendeiner mir bekannten Sprache zuzuordnen. Sie erinnerten mich nicht an Englisch, auch nicht an Französisch. Sie klangen aber genauso wenig nach Arabisch oder Chinesisch. Verzweiflung drückte mir die Kehle zu.

Dann sah ich beide nicken. Wenn ein Handschlag in dieser Welt dasselbe bedeutete wie in meiner, hatten die beiden gerade ein Geschäft abgeschlossen.

Der Kapuzenmann zog einen unterarmlangen Holzstab aus seinem Gewand. Ich drückte mich unwillkürlich fester an die Wand, als er auf mich zukam. Es war eine menschliche Hand die den Stab hielt. Seltsam, welche Details man wahrnimmt, wenn man Angst hat. Mir fiel sogar auf, dass die Haut bleich und die Finger lang und schlank waren. Die Hand eines Gelehrten oder die eines Künstlers.

Trotzdem wollte ich nicht, dass er mich mit dem Stab berührte, aus dessen Spitze nun gelbes Licht drang. Es quoll heraus und ballte sich zu einer faustgroßen Wolke. Als der Kapuzenmann mit dem Stab ein Zeichen in die Luft malte und dabei das Licht hinter sich her zog, verformte sich die Wolke, dehnte sich wie Kaugummi.

„Lass mich! Ich habe nichts getan!“

Das Licht berührte meinen Arm, blieb daran haften und breitete sich aus. Fadendünne Lichtwurzeln krochen über meine Haut. Ich kreischte und versuchte sie abzustreifen. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass ich mit jedem Zentimeter, der von dem leuchtenden Netzwerk überzogen wurde, mehr und mehr die Kontrolle über den Körper verlor. Als es meinen Hals erreichte, erstarben auch meine Schreie.

Der Mann in der Uniform löste die Ketten. Gerne hätte ich die Arme an mich gezogen, und die schmerzenden Gelenke gerieben, doch ich war nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu rühren.

Der Kapuzenmann hob seinen Zauberstab ein wenig. Schon bewegten sich die Beine, die mir den Befehl verweigerten. Der Köper, in dem ich eingesperrt war, stand auf. Hilflos musste ich zusehen, wie der Kapuzenmann die Glieder führte, als würde er eine Marionette dirigieren.

Blinkende Münzen wechselten von einer Hand in die andere. Der Mann mit der Uniform zog eine Scheibe hervor, die auf den ersten Blick wie ein handtellergroßes Wachssiegel aussah. Er legte die Scheibe auf den Unterarm des Körpers, in dem ich gerade steckte. Sie zerfloss, sank in die Haut hinein, und ließ nur einen Abdruck zurück, der an einen verblassenden Poststempel erinnerte.

Ich wollte schreien, mich losreißen, toben, denn der Schmerz war höllisch. Es fühlte sich an, als würde ein Brandzeichen in meine Haut gedrückt. Aber ich war zu keiner Bewegung fähig, nicht einmal zu einem Wimpernzucken.

Der Mann mit der Kapuze holte einen winzigen Spiegel aus der Tasche seines Mantels. Er kratzte mit dem Daumen auf der glatten Oberfläche herum. Eine neue Welle aus purer Panik überflutete mich. Welche Heimtücke hatte ich nun zu erwarten? Da begann sich die Zelle zu drehen. Die Wände verschwammen, wurden zu verwaschenem, grauem Nebel. Ich verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und wo unten war. Meinen Begleiter konnte ich auch nicht mehr sehen. Das Bedürfnis, Halt suchend die Arme auszustrecken, wurde übermächtig. Doch so sehr ich es auch versuchte, die menschliche Hülle, in die ich eingesperrt war, gehorchte meinem Willen nicht.

 

Konturen zeichneten sich im Nebel ab, zuerst nur verschwommen, dann immer klarer. Ein Raum nahm Gestalt an. Er war deutlich größer als die Kerkerzelle. In der Mitte einer Wand loderte ein Feuer in einem offenen Kamin. Auf einem Holztisch standen und lagen unzählige Bücher. Zwei Wände wurden vollständig von Regalen eingenommen, auf denen sich weitere Bände befanden. Dazwischen sah ich Glasflaschen, ausgestopfte Tiere, seltsam geformte Wurzeln, kleine Körbe und Tontiegel. Fenster gab es keine. Nur, halb versteckt zwischen den Regalen, eine kleine, runde, vergitterte Öffnung.

Ich wurde gegen die einzige freie Wand gestoßen. Die leuchtenden Fäden zogen sich zurück und es war, als würden sie alle Kraft mit sich nehmen. Kälte breitete sich in meinem Körper aus, die bis in die Eingeweide kroch. Ja, in meinem Körper, denn gemeinsames Leid verbindet, und da keinen Körper zu haben schlimmer war, als in einem fremden Körper zu stecken, hatte ich beschlossen, diesen Körper als meinen anzunehmen.

Ich würgte, doch nur ein paar Tropfen Galleflüssigkeit kamen über meine Lippen. Mit Übelkeit und Schwindel kämpfend nahm ich kaum wahr, wie meine Arme nach hinten gezerrt wurden. Wenig später war ich genauso fest an die Wand gefesselt wie zuvor – nur dass diesmal die Fesseln aus zarten, kaum sichtbaren Silbersträngen bestanden.

„Was soll das!“

Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Der Anblick meiner gefesselten Hände ließ Zorn in mir aufwallen, wie ich ihn zuvor noch nicht gekannt hatte. Wie eine Flamme züngelte er in meinem Bauch empor, wärmte mich und verlieh mir Kraft. Ich brüllte dem Mann meine Wut ins Gesicht und zerrte an den magischen Strängen, die mich banden.

Der Kapuzenmann wagte es trotzdem, mit seinem Stab näher zu kommen. Ich brüllte noch lauter, trat nach ihm.

„Bleib mir mit dem verdammten Ding vom Leib!“

Er zögerte. Wie ich es hasste, dass er sein Gesicht unter der Kapuze verbarg. Ich wusste nicht, ob er hämisch grinste, weil ich zu seinen Füßen hilflos herumstrampelte, oder ob er bleich vor Angst war. Ich konnte ihn verletzen. Ich konnte mit der Kante meines Fußes seine Kniescheibe brechen. Woher dieses Wissen kam, wusste ich nicht, aber ich spürte, wie sich die Muskeln, die ich für diese Bewegung brauchte, bereits spannten.

Mach noch einen Schritt, Zauberer, dann liegst du hier genauso am Boden wie ich.

Erschrocken über den Hass, der sich ätzend wie Säure in meinem Inneren breit machte, erstarrte ich. Diesen Augenblick nützte der Kapuzenmann. Als er mich mit seinem Stab berührte, brüllte ich auf und trat nach ihm. Hastig sprang er zur Seite. Er war nicht schnell genug. Ich erwischte ihn am Knie. Ein unterdrückter Schmerzenslaut drang unter der Kapuze hervor, während er noch weiter von mir weg humpelte.

Trotzdem war es ihm gelungen, mir ein seltsames Muster auf den Arm zu zeichnen, das kurz golden aufglomm und dann verschwand. Die Stelle kribbelte ein wenig und fühlte sich kühl an. Ich war derartig erleichtert über das Ausbleiben des erwarteten Schmerzes, dass ich einen Augenblick still verharrte.

„Verstehst du mich jetzt?“

In der Stimme des Zauberers klang Erschöpfung mit und die Hand mit dem Stab zitterte leicht. Mit der anderen Hand rieb er sich das verletzte Knie. Für einen Augenblick hatte ich Mitleid mit ihm. Dann übernahm der Zorn wieder die Kontrolle.

„Klar verstehe ich dich – und jetzt mach mich endlich los!“

„Ich glaube, du verkennst die Situation.“

„Ich weiß, dass ich nichts getan habe, egal, was man mir vorwirft!“

„Das spielt keine Rolle. Du bist wegen mehrfachen Mordes verurteilt und rechtsgültig in die Leibeigenschaft verkauft worden.“

Es war als hätte er mich mit Eiswasser übergossen. Ich war im Körper einer Mörderin eingeschlossen. Natürlich hatte bereits der Aufenthalt im Kerker einen Verdacht in mir geweckt, aber es hätte sich auch um eine politische Gefangene handeln können oder um jemanden, der irrtümlich eingesperrt worden war. Letzteres war immer noch möglich. Neigt man nicht dazu, Außenseitern die Schuld in die Schuhe zu schieben? Warum sollte es in dieser Welt anders sein? Eine tätowierte Skinhead in der Nähe des Tatortes war sicherlich der ideale Sündenbock.

„Das ist ein Irrtum. Eine Verwechslung. Ich habe nichts getan.“

Der Mann seufzte.

„Sie haben mir gesagt, dass du lügen würdest. Aber das spielt keine Rolle. Du solltest froh sein. Morgen früh wäre dein Todesurteil vollstreckt worden.“

Er wandte sich von mir ab, nahm den mannshohen Spiegel, der in der Mitte des Raumes stand, deckte ihn mit einem schwarzen Tuch zu und schob ihn hinter eines der Bücherregale. Dann zog er den kleinen Spiegel aus seiner Tasche und legte ihn in ein Körbchen auf einem der Regale.

Ich wusste selbst nicht, warum ich nicht einfach den Mund hielt. Oder wenn ich schon unbedingt reden musste, warum ich nicht versuchte, meinen Wärter milde zu stimmen. Die gehässigen Worte, die aus meinem Mund sprudelten, taten es sicherlich nicht.

„Ach, und du hast eine zum Tode Verurteilte so einfach frei kaufen können? Mach dich doch nicht lächerlich!“

Er seufzte und klang mit einem Mal unglaublich jung.

„Nein, einfach war es wahrlich nicht. Ich muss auch gestehen, dass mir eine weniger gefährliche Person lieber gewesen wäre. Aber die ganzen Gefängnisse waren leer gekauft. Es scheint momentan eine besonders große Nachfrage an Leibeigenen zu bestehen.“

Ich war drauf und dran, weiteres Gift zu versprühen. Nur mit Mühe konnte ich mich zurückhalten. Ausgerechnet ich! Wie oft hatte ich schon zu hören bekommen, ich müsse energischer auftreten. Aber bestimmt nicht so. Ich ballte die Hände zu Fäusten und biss mir auf die Lippen.

„Es tut mir leid“, sagte ich leise. „Ich ...“

Ein trockenes Schluchzen würgte die Worte ab. Ich räusperte mich, um weiter sprechen zu können.

„Ich bin nicht die da. Ich meine, ich bin nicht ich. Nein, was ich sagen wollte ist, dass das nicht mein Körper ist. Was immer diese Frau ...“ Ich stockte eine Augenblick. Einen Augenblick lang war ich mir nicht sicher, ob ich immer noch eine Frau war. Das hätte ich gespürt, versuchte ich mich zu beruhigen. Es hätte sich anders angefühlt. Außerdem widersprach der Kapuzenmann nicht. Aber nachgesehen hatte ich nicht. Aber daran konnte ich im Moment nichts ändern. „... getan hat, ich war es nicht. Da war ich noch gar nicht da.“

„Du behauptest also, dich hat jemand zu einem Körpertausch gezwungen?“

„Ja. So kann man das sagen.“

Ich war grenzenlos erleichtert, weil er sofort begriff, was ich meinte.

„Wer sollte so etwas tun? Und warum?“

„Ich habe keine Ahnung. Wirklich. Ich möchte nur wieder zurück. Du bist doch ein Zauberer. Kannst du mich nicht zurück schicken? Bitte!“

Der Kopf unter der Kapuze wurde geschüttelt.

„So einfach ist das nicht. Das ist große Magie. Ehrlich gesagt wüsste ich keinen Zauberer, der ohne Hilfe dazu in der Lage wäre. Es müssten zumindest zwei Zauberer zusammenarbeiten, wenn nicht sogar drei oder vier.“

Ich sackte in mich zusammen. Nur die Fesseln verhinderten, dass ich mich zu einem Ball zusammenrollte, mein Gesicht mit den Händen bedeckte und hemmungslos zu schluchzen begann. Auch so füllten sich meine Augen mit Tränen, die über die Lidränder quollen und feuchte Spuren hinterlassend über meine Wangen rollten.

„Ich habe noch nie eine Assassine gesehen, die weint. Man sagt, sie können gar nicht weinen.“

„Assassine?“, quetschte ich mit tränenerstickter Stimme hervor. „Das sind doch diese Auftragsmörder, die Haschisch nehmen.“

„Soweit ich weiß, verwenden sie keine Drogen. Im Gegenteil, bewusstseinserweiternde Substanzen sind bei ihnen verpönt.“

„Dann ist das wohl in dieser Welt anders. Seltsam, dass der Name der gleiche ist.“

Ich musste meinem Geist Beschäftigung geben. Er durfte keine Gelegenheit erhalten, weiter um meine Situation zu kreisen. Die Panik lauerte nur einen halben Schritt entfernt.

„Das kommt durch den Zauber. Er übermittelt dir, was ich sagen will und dein Kopf kreiert die Worte dazu. Wenn du den ursprünglichen Ausdruck hören willst, musst du dich bewusst darauf konzentrieren.“

„Sag es noch mal“, bat ich ihn.

Er tat es. Wieder war das Wort Assassine in meinem Kopf, obwohl ich hörte, dass das ursprüngliche Wort kürzer war. Der Zauberer sprach das Wort ein ums andere Mal, bis ich es endlich verstand. Saraud. Plötzlich war es einfach. Warum war es jemals schwierig gewesen?

Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, das jäh erstarb, als ich eine unbewusste Bewegung mit den Händen machte und sie von den Fesseln zurückgehalten wurden.

„Kannst du mich nicht losmachen? Ich bin keine Mörderin. Nicht einmal einer Fliege könnte ich etwas zu leide tun.“

In meiner Stimme klang die Verzweiflung mit, die ich fühlte. Es war so erniedrigend, festgebunden zu sein.

Der Zauberer sagte nichts, starrte mich nur an. Es irritierte mich, dass ich seine Augen im Schatten seiner Kapuze nur erahnen konnte. So hatte ich nicht die geringste Möglichkeit zu erraten, was er dachte. Ich schluckte. Ließ ihn nicht aus den Augen. Versuchte aus dem wenigen, das ich sehen konnte, auf seine Entscheidung zu schließen.

Er bindet mich los, betete ich wie ein Mantra vor mich hin. Als ob ich ihn durch meine Gedanken beeinflussen könnte.

 

Die Tür ging auf. Der Zauberer konnte nur durch eine hastige Bewegung verhindern, von der Kante am Ellbogen getroffen zu werden. Ein verhutzeltes Weiblein betrat den Raum. Mit ihrer braungrauen, wie Borke gefurchten Haut und der spitzen Nase sah sie beinahe wie ein Kobold aus. Sie wischte sich gerade die Hände an ihrer Kittelschürze ab.

„Ich wollte nur fragen, was du essen möchtest, Deiristan?“

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als ihr Blick auf mich fiel. Mit einem Aufschrei schlug sie die Hände vor das Gesicht.

„Eine Saraud! Oh nein, nicht ausgerechnet eine Saraud!“

Dann änderte sich ihr Ausdruck plötzlich. Die kleinen Äuglein wurden hart. Die ohnehin schon schmalen Lippen verschwanden vollständig und der Mund wurde zu einem Strich.

„Aber vielleicht ist es gut“, knurrte sie. „So kann sie büßen für all die Schlechtigkeit, die sie in ihrem Leben verbreitet hat. Ihr Leben soll sie geben für all die Leben, die sie genommen hat!“

„Nein!“

Panisch zerrte ich an den Fesseln, ohne darauf zu achten, dass ich die Krusten aufriss und frisches Blut meine Arme entlang lief.

„Dorrla, ich mache das nicht. Ich kann es einfach nicht.“

„Dummer Junge! Willst du jetzt alles hinschmeißen?“

„Ich will nicht sterben!“, kreischte ich. Meine Stimme überschlug sich vor Panik. Ich hasste diesen Körper. Ich wollte weg von hier. Doch ein bevorstehender Tod war schlimmer als alles andere.

„Dorrla, ich bitte dich. Siehst du es denn nicht? Das ist keine Saraud.“

„Was dann? Sie hat die Tätowierungen. Sie hat die Augen. Ausbluten ist das einzige, wozu sie gut ist.“

„Ausbluten? Seid ihr vollkommen verrückt geworden?“ Ich stemmte mich gegen die Fesseln. Todesangst schlug wie eine riesige schwarze Welle über mir zusammen.

„Da! Siehst du! Eine Bestie ist das!“

„Wer ist hier die Bestie?“, brüllte ich, als sich die Angst mit jäh aufflammendem Zorn mischte. „Ich habe noch nie jemanden ausgeblutet!“

Schmerz tobte in meinen Handgelenken, doch ich spürte ihn kaum. Grenzenlose Wut dämpfte jede andere Empfindung.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst, Dorrla“, sagte der Zauberer. „Ich komme dann in die Küche zum Essen.“

Damit schob er das Weiblein, dessen Protest in meinem Toben unterging, mit sanfter Gewalt nach draußen und schloss die Tür hinter ihr. Man hörte immer noch ihr Schimpfen gedämpft durch das Holz dringen.

Er sank auf den einzigen Stuhl im Raum und legte einen Arm auf die Lehne.

„Warum soll ich mich beruhigen? Kannst du mir das sagen? Ich werde hier an die Wand gefesselt und mir wird eröffnet, dass ich ausgeblutet werden soll – aber ich soll mich nicht darüber aufregen? Bist du vollkommen verrückt geworden?“

„Niemand hat vor, dir dein ganzes Blut zu rauben.“

„Ach, und dieser Kobold gerade eben hat das nur so zum Spaß dahingesagt?“

„Gnom“, sagte Deiristan müde. „Sie ist ein Gnom und kein Kobold. Und sie ist eine ausgezeichnete Haushälterin. Aber sie hat schreckliche Angst vor den Saraud. Ihre ganze Familie wurde von ihnen ausgelöscht.“

Ich erstarrte. Zuerst Drachen und dann auch noch Gnome! Das waren Wesen aus Märchen und Legenden.

„Nein“, sagte ich tonlos. „Das ist alles nicht wahr. Das ist nur ein schlechter Traum.“

Mein Atem ging stoßweise.

„Ich will aufwachen!“, brüllte ich. „Ich will nach Hause! Ich will meinen Körper wiederhaben!“

Ich begann den kahlen Schädel gegen die Wand zu schlagen, als könnte ich mich dadurch aus dem Saraudkörper heraustreiben.

Deiristan zerrte hastig ein Kissen unter seinem Gesäß hervor und stopfte es hinter meinen Kopf. Dass ich mich nicht mehr durch Schmerzen ablenken konnte, machte mich noch zorniger.

„Mein Leben ist ruiniert! Ich hatte Aufstiegschancen! Ich hatte ein gutes Gehalt! Ich hatte einen Freund, der mich auf Händen getragen hat!“

Ich starrte den Zauberer wütend an. Es machte mich rasend, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Warum musste dieser Feigling sich selbst hier unter einer Kapuze verstecken?

„Und weißt du was? Ich hatte einen Körper!“, fauchte ich ihn an. „Einen normalen Körper! Kein ausgemergeltes, tätowiertes Etwas!“

Da wurde mir bewusst, was ich tat und wie sich meine Chancen auf Freiheit mit jedem Wort, das ich von mir gab, weiter verringerten. Das war nicht ich! Ich war die diplomatische, stets freundliche Tanja Schuster. Das Gift, das nun aus meinem Mund troff, musste mir die frühere Bewohnerin dieses Körpers hinterlassen haben. Ich biss die Zähne zusammen und schluckte die Bosheiten hinunter, die mit aller Kraft über meine Lippen drängten. Ich durfte ihn nicht weiter reizen. Ich musste ihm klar machen, dass ich keine Gefahr darstellte, dass es keinen Grund gab, mich zu töten.

„Bitte tu mir nichts. Bitte. Was auch immer diese Saraud getan hat, es ist nicht meine Schuld.“

Meine Stimme klang mit einem Schlag völlig anders. Der Zorn war aus ihr gewichen und sie hörte sich weinerlich und dünn an.

„Beruhige dich.“

Er setzte sich wieder auf den Stuhl.

Noch einmal lehnte ich mich kurz auf. „Warum soll ich mich beruhigen? Ich will nicht ausgeblutet werden.“

Mein Atem ging stoßweise. Meine Lippen bebten. Tränen liefen in Strömen über meine Wangen und meine Nase war verstopft, sodass ich immer wieder hochziehen musste.

„Wirst du auch nicht. Ich schwöre es. Ich werde diesen Zauber nicht durchführen. Es muss einen anderen Weg geben.“

Er nahm seinen Zauberstab. War der Stab vorhin nicht glatt und schwarz gewesen? Jetzt war er nicht mehr als ein polierter, brauner Ast. Als Deiristan einen Schritt auf mich zu machte, schwemmte die Panik jeden weiteren Gedanken an den Zauberstab fort. Ich drückte mich an die Wand, wünschte, sie würde nachgeben und mich in sich verbergen.

„Bitte!“, flehte ich, zu verängstigt um mehr als dieses eine Wort zu sagen.

„Ich mache nur deine linke Hand los. Versprich mir, dass du mich nicht angreifen wirst.“

„Oh mein Gott!“ Ich stieß ein gequältes Lachen aus. Die angespannte, leicht vorgeneigte Haltung des Zauberers verriet, dass er vor mir ebenso viel Angst hatte, wie ich vor ihm. „Ich wüsste doch nicht einmal wie!“

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wurde mir klar, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen. Ich hatte Deiristan bereits verletzt. Er humpelte immer noch leicht. Und mein ursprüngliches Ich mochte vielleicht nicht wissen, wie man einen Menschen tötete, dieser Körper jedoch wusste es durchaus. Ich spürte ein Kribbeln in den Beinen, als sie sich zu einem Schlag bereit machten. Ein Tritt in den Magen würde den Zauberer außer Gefecht setzen, ein Tritt in die Leber zu inneren Blutungen führen, die einen langsamen, qualvollen Tod versprachen. Etwas höher konnte ich, wenn ich den Brustkorb an der richtigen Stelle im richtigen Winkel und mit der richtigen Wucht mit der Fußkante traf, eine Rippe mitten durchs Herz treiben.

Ich biss die Zähne aufeinander. Das durfte ich nicht zulassen. Gleichzeitig spürte ich, wie der Körper nach dem Triumphgefühl lechzte, das die Macht über Leben und Tod mit sich brachte. Komm nur näher, säuselte eine kleine, bösartige Stimme in meinem Kopf. Komm zu mir, kleiner Zauberer. Ich will hören, wie deine Knochen brechen. Ich will dich bluten sehen.

„Alles in Ordnung, Deiristan. Du heißt doch Deiristan – oder? Du musst mich nicht fürchten.“

Ich sprach auf ihn ein, als er zögerte. Lockte ihn wie ein scheues Tier und kämpfte meine Angst nieder, damit der heimtückische Schatten, den die Saraud in den Körperzellen hinterlassen hatte, nicht die Oberhand gewann.

Deiristan bewegte sich so vorsichtig, als sähe er sich einer giftigen Schlange gegenüber. Hastig zeichnete er ein winziges Zeichen auf die Fessel. Es glühte blau auf und das magische Band verschwand, als hätte es nie existiert. Meine Hand sank herab. Ich streckte und dehnte die Finger, rieb das Handgelenk am Oberschenkel, um die Durchblutung anzuregen.

Gleichzeitig wartete ich. Hoffte. Suchte nach einem Aufflackern von Mitgefühl in Deiristans Gesicht. Doch er schüttelte den Kopf. Er würde die zweite Fessel nicht lösen.

„Es tut mir leid. Das ist das einzige Zugeständnis, das ich dir jetzt machen kann.“

„Ich könnte doch sowieso nicht weg. Wo soll ich denn hin? Ich weiß doch nicht einmal, wo ich bin.“

„Es ist noch etwas von ihr in diesem Körper. Ich sehe es in deinen Augen. Kannst du es kontrollieren? In jeder Situation?“

Ich antwortete nicht, denn ich hatte keine Ahnung. Das Flüstern hatte nicht aufgehört. Deiristan war zwar zurückgewichen, stand aber immer noch leicht nach vorne geneigt, die Hände an den Knien abgestützt. Wusste er nicht, dass er sich immer noch in meiner Reichweite befand? Es gab dreiundzwanzig verschiedene Möglichkeiten, ihn innerhalb von Augenblicken zu töten, von denen ich niemals zuvor geahnt hatte, dass sie existierten. Ich spürte den Zorn der Saraud, den meine Angst geweckt hatte.

Deiristan sah die Antwort in meinen Augen. Er nickte und wandte sich ab. Dabei richtete er sich nur langsam auf. Für Sekundenbruchteile befand sich sein Nacken in meiner Reichweite. Ich musste die empfindlichen Stellen des Halses nicht sehen, um zu wissen, wo ein Schlag tödlich wirken würde und wo er augenblickliche Bewusstlosigkeit hervor rief. Ich spürte die Finger zucken, aber ich erlaubte der Hand nicht, sich zu bewegen. Regungslos sah ich ihm nach, wie er den Raum verließ.

 

 

2

 

Wann hatte dieser Körper das letzte Mal Nahrung bekommen? Wann war er das letzte Mal gewaschen worden? Ich war unglaublich hungrig. Außerdem war ich durstig und ich fühlte mich schmutzig. Was hätte ich dafür gegeben, aus diesem dreckigen, zerschlissenen Leinenhemd herauszukommen. Aber ich hatte nichts anderes, und selbst dieser widerliche Fetzen war besser, als nackt auf der stockfleckigen Matratze zu kauern. Bestimmt hatten sich längst Läuse und Flöhe unter dem Stoff eingenistet. Ich kratzte mich, rieb meinen Rücken an der Wand. Doch das Jucken ließ nicht nach. Ich glaubte förmlich zu spüren, wie das Ungeziefer auf mir herumkrabbelte.

Was sehnte ich mich nach einem Bad, nach dem herrlichen Gefühl, wenn der Körper bis zum Hals in wunderbar warmem Wasser versank. Und dann eine Pizza! Oder einen herrlich ungesunden, richtig fetten Hamburger. Dazu Cola und Eis als Nachspeise. Mit Schlagsahne. Viel Schlagsahne!

Was sehnte mich zurück in mein gewöhnliches Leben! Vergessen waren all die Träume von Abenteuern. Abenteuer waren nichts für mich. Nichts, was ich real erleben wollte. Es war viel besser, Schauspieler zu beobachten, wie sie sich auf dem Bildschirm Gefahren stellten, die dem Gehirn des Drehbuchautors entsprungen waren.

Wenn ich doch nur die Computertastatur wieder unter meinen Fingern spüren könnte! Meine Schultermuskulatur schmerzte. Was hätte ich dafür gegeben, wenn diese Verspannungen nur durch langes Sitzen am Schreibtisch entstanden wären.

Ich stellte mir Richards Hände vor, wie sie die harten Knoten in meinen Muskeln lösten, wie ich mich aufseufzend gegen seinen festen Körper lehnte und seine Finger allmählich tiefer zu delikateren Stellen wanderten...

 

Mein Magen ballte sich zu einem harten, schmerzenden Klumpen zusammen und riss mich damit aus meinen Fantasien. Ich lauschte auf die Schritte des Zauberers. Vielleicht brachte er mir etwas zu essen mit, wenn er zurückkam. Was es wohl in dieser Welt zu essen gab?

Ich rutschte unruhig auf der Matratze herum. Soweit es mit einer an die Wand gefesselten Hand möglich war, dehnte ich die verkrampften Muskeln und versuchte mich davon abzulenken, dass sich mein Magen inzwischen selbst verdaute. Doch es gelang mir nicht, ihn auszublenden. Genauso wenig schaffte ich es, die hartnäckige Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen, die immer wieder flüsterte: Du kommst nicht mehr zurück. Du wirst bis zu deinem Lebensende in diesem Körper festsitzen.

Ich war auch mit meinem früheren Körper nicht immer zufrieden gewesen. Trotz Diät und Fitnessprogramm wölbten sich stets zwei oder sogar drei Speckröllchen an meiner Taille. Richard hatte das nicht gestört. „Dann habe ich mehr Frau zum Anfassen“, war sein Kommentar gewesen.

Bei meinem neuen Körper wären auch Richard die Aufmunterungen ausgegangen. Ich war ein vernarbtes, tätowiertes Klappergestell mit Glatze. Tränen füllten schon wieder meine Augen. Ich fühlte mich so hässlich wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Aber war ich überhaupt noch ich? Ich schämte mich tatsächlich meiner Tränen. Dabei gab es keinen Grund dafür. Diese Situation war einfach zum Heulen! Ich hatte jedes Recht dazu!

Das hatte ich sicherlich der Saraud zu verdanken, die mir ihre Gefühle hinterlassen hatte wie ein Vormieter seine alten Möbel. Wahrscheinlich wurde bei diesen Auftragsmördern schon den Kindern ausgetrieben, Schwäche zu zeigen. Reichte es nicht, dass ich in ihrem Körper gefangen war? Musste sie sich auch noch in meine Persönlichkeit drängen? Ich hasste sie, weil sie mir das angetan hatte. Ich hasste sie mit einer noch nie gekannten Intensität, und das Bewusstsein, dass auch dies ein Erbe der Saraud war, steigerte meinen Hass noch.

Mit verschwommenem Blick starrte ich in die Flammen im Kamin und wiegte mich dabei leicht vor und zurück. Ich konnte nicht stillhalten. Die gleichförmige Bewegung verschaffte mir ein wenig Erleichterung.

Was hätte ich für meinen I-Pod gegeben! Aber ich hatte nicht einmal ein stinknormales Radio. Bis auf das Knacken der brennenden Scheite war es still. Ich begann zu summen, weil ich die Abwesenheit von Geräuschen nicht mehr ertrug. Doch sogar mein Summen klang jetzt anders. Ich verstummte. Das Knistern der Flammen dröhnte unnatürlich laut durch die Stille. Kein Verkehrslärm. Kein Hundegebell. Kein Kindergeschrei. Da war nichts. Ein leerer Raum, der mich aufzusaugen drohte.

Ich begann wieder zu summen. Selbst die fremde Stimme war leichter zu ertragen, als die Stille.

Die zuckenden Flammen fingen meine Augen ein. In ihrem rötlichen Schein sah ich mein ursprüngliches Selbst. Ich sah die Stupsnase, die großen Augen, das Grübchen am Kinn. Dann begann sich das Bild zu verändern. Der elegante Schwung der Lippen wurde zu einem schmalen Strich. Die Wangen fielen ein. Das Haar verschwand. Schlangen wanden sich auf dem kahlen Kopf, krochen auf die Schultern und glitten über die nackten Arme. Sie folgten dem unsteten Licht, das vom Feuer auf den Boden geworfen wurde und kamen auf mich zu. Ihre Mäuler waren aufgerissen, von den langen Zähnen troff Gift und ihre kalten Augen waren auf mich gerichtet. Ihr Blick hielt mich fest, lähmte mich.

Erst als sie sich aufrichteten und die Vorderleiber zurück schwangen, um blitzschnell zustoßen zu können, begann ich zu schreien.

 

Ein Knarren ließ mich herumfahren. Deiristan stand in der offenen Tür, hielt einen Henkelkorb in der Hand und starrte mich an. Seine Kapuze war halb zurück gerutscht. Es ließ sich nicht genau sagen, aber er erschien mir nun jünger. Die Haarsträhne, die unter dem Stoff hervorlugte, war blond und auf dem Kinn ließ sich ein schütterer Dreitagebart erahnen. Dabei hätte ich schwören können, zuvor einen weißen Bart gesehen zu haben.

„Was ist los?“

Ich war nicht in der Lage zu antworten, deutete nur auf das Kaminfeuer, in dem jetzt natürlich keine Schlangen mehr zu sehen waren.

„Schlangen“, flüsterte ich heiser.

Ich konnte nicht anders, obwohl ich wusste, dass ich mich anhörte wie eine Verrückte. Ich hatte Schlangen noch nie gemocht, doch bisher hatten sie mir keine Albträume verursacht. Nun jedoch spürte ich, wie sie auf mir herumkrochen. Die tätowierten Biester wühlten sich unter meine Kopfhaut, nagten an mir.

„Wo?“

Ich winkte Deiristan näher. Er machte einige vorsichtige Schritte auf mich zu, wobei er den Korb wie einen Schild vor sich hielt. Meine Hand schnellte vor, packte seinen Ärmel und zog ihn zu mir herunter. Er wehrte sich, versuchte sich loszumachen, aber ich hielt ihn fest. Es erstaunte mich, wie viel Kraft in diesem ausgezehrten Körper steckte.

Deiristan zappelte und schrie in Todesangst. Der Korb fiel ihm aus der Hand. Er riss mit aller Kraft, doch der Stoff seines Umhangs hielt seinen Bemühungen stand.

„Ich kann nicht mehr.“

Meine Stimme überschlug sich. Ich zog Deiristan näher zu mir heran. In einem entfernten Winkel meines Gehirns war mir klar, dass ich ihn damit in Panik versetzte. Aber ich brauchte jemanden, an dem ich mich festhalten konnte. Deiristan war leider der einzige, der in diesem Moment zur Verfügung stand.

„Ich will wieder nach Hause.“

Ich klang wie ein kleines Kind. Ich fühlte mich auch wie ein kleines Kind. Eines, das verzweifelt nach seinen Eltern suchte. Inzwischen hatte Deiristan seine Gegenwehr aufgegeben und ließ zu, dass ich mit meinen Tränen seinen Ärmel benetzte.

„Ich will nicht diese Frau sein. Sie ist so hässlich!“

Als ich meinen Griff ein wenig lockerte, rückte er soweit von mir ab, dass ich nicht mehr mit meinem Rotz den Stoff seines Umhangs beschmierte. Dafür tätschelte er mir unbeholfen die Schulter.

„Aber, aber. Du bist doch gar nicht hässlich.“

„Doch! Schau nur! Die vielen Narben. Und ich bin kahl. Und diese schrecklichen Schlangen. Und ich bin so dünn!“

Mir wären noch ein paar weitere Gründe eingefallen, doch Deiristan hatte eine der hellbraunen Kugeln, die aus dem Korb gefallen waren, aufgehoben und hielt sie mir hin.