image

Pflegeheime am Pranger

image

Der Autor

Michael Graber-Dünow, geb. 1957, ist Dipl.-Sozialarbeiter, staatlich anerkannter Altenpfleger und seit 25 Jahren als Heimleiter in Frankfurt/Main tätig. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zur sozialpolitischen Problematik der Altenhilfe sowie zu Milieutherapie und Kulturarbeit.

Michael Graber-Dünow

Pflegeheime am Pranger

Wie schaffen wir eine bessere Altenhilfe?

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren AutorInnen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit dem Vermerk „Newsletter“ an: online@mabuse-verlag.de.

© 2015 Mabuse-Verlag GmbH
Kasseler Str. 1 a
60486 Frankfurt am Main
Tel.:   069 – 70 79 96-13
Fax:   069 – 70 41 52
verlag@mabuse-verlag.de
www.mabuse-verlag.de

Satz: Tischewski & Tischewski, Marburg
Umschlaggestaltung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main
Umschlagfoto: © binkski/istockphoto.com

ISBN 978-3-86321-273-5
eISBN 978-3-86321-274-2
Alle Rechte vorbehalten

INHALT

 

Einführung

1

Altenpflegeheime in Deutschland

1.1

Trägerkonstellationen

1.1.1

Das Pflegeheim als Renditeobjekt

1.1.2

Bürokratische Wasserköpfe

1.2

Die öffentliche Wahrnehmung

1.3

Gründe für den Heimeinzug

1.4

Wer lebt im Heim?

1.5

Annäherung an das Heimleben

2

Problembereiche des Heimlebens

2.1

Privatsphäre im Heim: „Wohnst Du noch oder lebst Du schon?“

2.1.1

Die Bedeutung von Privatheit für die Bewohner

2.1.2

Personalisierung und Respektierung des Wohnraums

2.2

Tagesablaufgestaltung: „Der Bewohner steht im Mittelpunkt und damit jedem im Weg.“

2.3

Aktivitäten: „Diese Langeweile bringt mich noch um!“

2.4

Zur Personalsituation: „lch habe keine Zeit!“

3

Ursachen und Auswirkungen des Pflegenotstands

3.1

Das Problem der Personalbemessung

3.2

Belastungen der Pflegenden

3.2.1

Die zweite Dimension des Pflegenotstands

3.2.2

Kostensenkung zu Lasten der Beschäftigten

 

Exkurs: Outsourcen von Dienstleistungen

3.2.3

Wege aus der Misere?

3.2.4

Ein Beruf mit schlechtem Image

3.2.5

Nachwuchssorgen

4

Die Pflegeversicherung: Von der Lösung zum Problem

4.1

Reformbemühungen

4.2

Pflegebedürftigkeit – ein Begriff, der es in sich hat

4.3

Rechtliche Neuerungen

4.4

Pflegeversicherung abschaffen

 

ZwischenrufClaus Fussek

5

Was ist Qualität?

5.1

Der Kunde ist König?

5.2

Bürokratische Instrumente

 

Realsatire:Von Dienstleistungsabenden und Kundenparkplätzen

5.3

Positive Auswirkungen der Qualitätsdiskussion

5.4

Im Dokumentationswahn

 

Realsatire: Qualität ist, wenn man trotzdem lacht

6

Überregulierung der Heime

 

Realsatire: Bettenbürokratie

7

Mogelpackung Pflegenoten

7.1

Qualitätsprüfungen verschlechtern Pflegequalität

7.2

Weitere Kritikpunkte

7.3

Kosmetische Korrekturen

7.4

Unverantwortlich hohe Kosten

7.5

Vermeintliche Kehrtwende

8

Resümee

 

Literatur

Der Kompass klemmt, die Navigatoren

Haben schon längst die Richtung verloren

Die Nacht ist schwarz, der Nebel so dicht

Und schon seit Jahren kein Land in Sicht …

Udo Lindenberg, Odyssee

Far between sundown’s finish an’ midnight’s broken toll

We ducked inside the doorway, thunder crashing

As majestic bells of bolts struck shadows in the sounds

Seeming to be the chimes of freedom flashing …

Tolling for the aching, whose wounds cannot be nursed

For the countless confused, accused, misused, strung-out
ones and worse

And for every hung-up person in the whole wide universe

And we gazed upon the chimes of freedom flashing.

Bob Dylan, Chimes of freedom

EINFÜHRUNG

Die stationäre Altenhilfe steht am Pranger der öffentlichen Wahrnehmung; ihr Image ist zweifelsfrei schlecht. Nahezu regelmäßig berichten Medien über skandalöse Zustände in Altenpflegeheimen:

„Abkassiert und totgepflegt?“

„Altenheimbewohner misshandelt und missbraucht“

„Senioren im Urin liegen lassen“

„Jährlich 10.000 Tode durch Mangelversorgung?“

„Bewiesen: Pflegerin im Altenheim schlug zu“

„Erneut Mängel in einem Seniorenheim“

„Dement! Ruhiggestellt! Dann kamen die Ratten …“

Dies sind nur einige wahllos herausgegriffene Schlagzeilen der letzten Jahre. Von mangelhafter Pflege über massive Vernachlässigungen bis zur aktiven Gewalt reichen die Vorwürfe. Folgt man der Argumentation von Heimbetreibern und Verbänden, handelt es sich bei den beschriebenen Skandalen allerdings nur um „bedauerliche Einzelfälle“ einiger „schwarzer Schafe“.

Aber sind dies wirklich nur Einzelfälle, die von den Medien sensationslüstern aufgebauscht und genüsslich ausgeschlachtet werden, um die eigene Auflage in die Höhe zu treiben? Oder beschreiben diese Schlagzeilen die Lebenswirklichkeit in deutschen Pflegeheimen? Handelt es sich dabei vielleicht sogar nur um die Spitze des Eisbergs, unter dem sich ein inhumanes, am Rande der Legalität einzig auf den Profit bedachtes, vielleicht sogar im wahrsten Sinne des Wortes „über Leichen gehendes“ System verbirgt?

Gerade angesichts des demografischen Wandels ist die pflegerische Versorgung der Bevölkerung ein zentrales sozialpolitisches Thema. Fast jeden Bürger unserer Gesellschaft geht Pflege irgendwann an: Als Angehörigen, dessen Lebenspartner oder dessen Eltern, Großeltern oder sonstige nahe Verwandte der Pflege bedürfen sowie als potenziell selbst Betroffener.

Das vorliegende Buch will daher den zuvor gestellten Fragen nachgehen. Wie ist es um die stationäre Pflege in Deutschland tatsächlich bestellt? Welche Fakten verbergen sich hinter den erschreckenden Skandalmeldungen?

Dazu werden zunächst die Entwicklungstendenzen der Heime in den zurückliegenden Jahrzehnten skizziert und die derzeitige gesellschaftliche Bedeutung stationärer Einrichtungen der Altenhilfe dargestellt (Kapitel 1). Am Beispiel des Wohncharakters, der Tagesablaufgestaltung und der Aktivitätenangebote werden danach zentrale Problembereiche des Heimalltags analysiert (Kapitel 2). Daran schließt sich eine Beschreibung der Ursachen und Auswirkungen der in der Öffentlichkeit oft mit dem Schlagwort vom „Pflegenotstand“ beschriebenen Personalsituation an (Kapitel 3). Das vierte Kapitel thematisiert die Pflegeversicherung, die zu einem tiefgreifenden Wandel in den Heimen geführt hat. Im Anschluss daran werden einige wichtige Aspekte der Qualitätsdiskussion aufgegriffen (Kapitel 5) sowie die Überregulierung der Heime und die Bürokratisierung der Pflege problematisiert, die in den Pflegenoten ihren traurigen Höhepunkt gefunden hat (Kapitel 6 und 7).

Zugleich wird in den einzelnen Kapiteln ebenso wie im abschließenden Resümee versucht, notwendige sozialpolitische Konsequenzen aufzuzeigen, die dazu beitragen können, die stationäre Pflege in Deutschland so zu organisieren, dass sie den Interessen und Bedürfnissen der Pflegebedürftigen gerecht wird.

Neuberg, im April 2015

1ALTENPFLEGEHEIME IN DEUTSCHLAND

Die Anzahl und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Altenpflegeheimen sind in den vergangenen Jahren ständig gewachsen. So gab es im Jahr 1994 ca. 8.300 Einrichtungen, in denen rund 661.000 pflegebedürftige Menschen lebten.1 Gemäß der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes bestehen mittlerweile 12.354 Pflegeeinrichtungen mit insgesamt 875.549 Plätzen2. Dies entspricht einer Steigerungsrate von 24,5 Prozent.

Für die Zukunft ist angesichts des demografischen Wandels ein weiter zunehmender Pflegebedarf zu erwarten: Im Jahre 2007 lebten in Deutschland 2,25 Millionen Menschen, die im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes pflegebedürftig waren (zur Problematik der Definition des Pflegebedarfs siehe Kapitel 4.2 „Pflegebedürftigkeit – ein Begriff, der es in sich hat“). Da das Risiko pflegebedürftig zu werden mit steigendem Alter immer mehr zunimmt, prognostizieren Bevölkerungswissenschaftler mit dem Anstieg der Zahl alter Menschen in der Gesellschaft die gleichzeitige Zunahme von Pflegebedürftigen auf 3,37 Millionen im Jahre 2030 und unter Umständen bis zu 4,5 Millionen im Jahre 2050.3

Ob sich die somit zu erwartende Steigerung der Nachfrage nach pflegerischen Dienstleistungen auch in einem weiteren Bedarf nach Heimplätzen niederschlagen wird, ist allerdings strittig: Da derzeit knapp 32 Prozent der Pflegebedürftigen in Heimen gepflegt werden, ist unter einer linearer Fortschreibung des gegenwärtigen Status quo im Jahre 2030 mit 1,07 Millionen Heimbewohnern in 15.216 Heimen zu rechnen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young4 erwartet eine Zunahme des Bedarfs von 202.000 Pflegeplätzen sogar schon im Jahr 2020. Die Bank für Sozialwirtschaft kommt in ihrer Marktanalyse hingegen zu dem Ergebnis, dass „sich in der Sozialen Pflegeversicherung der Anteil der Netto-Neubezieher vollstationärer Dauerpflegeleistungen in allen drei Pflegestufen reduziert [hat]. Innerhalb der Pflegestufe I ist bspw. der Anteil der Netto-Neuzugänge der Leistungsempfänger von vollstationären Dauerpflegeleistungen von 28,2 % im Jahr 2007 auf 7,0 % im Jahr 2010 gesunken. Unter Annahme der Fortsetzung der beschriebenen Entwicklungstendenzen ergibt eine Projektion der zukünftigen Nachfrage nach vollstationärer Dauer- und Kurzzeitpflege, dass die am Jahresende 2009 bundesweit rund 819.000 verfügbaren Plätze bis zum Jahr 2040 für die vollstationäre pflegerische Versorgung ausreichen würden.“5

Welches dieser Zukunftsszenarien tatsächlich zutrifft, wird zum einen von den Fortschritten und dem weiteren Ausbau der geriatrischen Rehabilitation, die vor allem darauf zielt, die individuelle Selbstständigkeit zu erhalten und Pflegebedürftigkeit auch nach einer schweren Erkrankung zu vermeiden, abhängen. Eine weitere entscheidende Komponente wird die Nachfrage nach Heimplätzen sein, die wiederum wesentlich von der Verbesserung der Möglichkeiten familialer Pflege, dem weiteren Ausbau ambulanter Dienste, dem Einbezug bürgerschaftlichem Engagements im Wohnquartier sowie der Entwicklung und dem Ausbau alternativer Wohn- und Versorgungsformen abhängt.

1.1 Trägerkonstellationen

Von den Pflegeeinrichtungen befinden sich 54,4 Prozent in freigemeinnütziger Trägerschaft; 40,6 Prozent werden von privaten und 5,0 Prozent von öffentlichen Trägern6 betrieben. Während im Vergleich zu früheren Jahren der Anteil von Einrichtungen freigemeinnütziger Träger stabil blieb (1994: 55 Prozent), ist tendenziell ein Anstieg der privaten (1994: 29 Prozent) bei gleichzeitigem Rückgang der öffentlichen Trägerschaft (1994: 16 Prozent) zu verzeichnen7. Diese Entwicklung entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der mit Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes im Jahre 1996 einen „Pflegemarkt“ geschaffen hat, der gezielt für private Anbieter geöffnet wurde. Der Vorrang der freien Wohlfahrtspflege gegenüber öffentlichen Trägern ist hingegen durch das Subsidiaritätsprinzip schon lange festgeschrieben.8

1.1.1 Das Pflegeheim als Renditeobjekt

Während freigemeinnützige Träger in der Regel in der Tradition eines religiösen9 oder humanitären10 Welt- und Menschenbildes stehen, verbinden private Anbieter von Pflegeleistungen mit ihrem Investment überwiegend Renditeerwartungen. So heißt es beispielsweise in der Leistungsbilanz der IMMAG Immobilienfonds GmbH mit einem Portfolio von 98 Pflegeeinrichtungen: „Das Geschäftsjahr 2011 schließt für den Konzern mit einem Ergebnis der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit von € 6,1 Millionen und einem Jahresüberschuss nach Steuern von € 3,7 Millionen. Die Ertragslage des Geschäftsjahres war damit wiederum sehr positiv, wenn auch das bessere Vorjahresergebnis nicht erreicht werden konnte.“11 Das börsennotierte Unternehmen Curanum, das bundesweit 124 Einrichtungen, die vollstationäre Dauerpflege, Kurzzeitpflege und betreute Wohnappartements anbieten sowie 20 Ambulante Dienste unterhält, weist einen Gewinn von 5,2 Millionen Euro vor Steuern aus12. Mit Pflege lässt sich also viel Geld verdienen.

Diese Renditeerwartung führt in einigen Regionen Deutschlands, vor allem in Ballungszentren, wie beispielsweise in Frankfurt am Main, zu einem regelrechten Bauboom vor allem privater Träger, der den aktuellen Bedarf weit übersteigt, sodass zwischenzeitlich ein immenses Überangebot an Heimplätzen besteht. Für alle Menschen, die einen Heimplatz suchen, scheint dies auf den ersten Blick erfreulich zu sein, da sie zwischen verschiedenen Alternativen wählen können. Für die Heime bedeutet es jedoch erhebliche Auslastungsprobleme mit massiven wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich wiederum negativ auf die Bewohnerinnen und Bewohner auswirken. So müssen beispielsweise im Bundesland Hessen die Entgeltsätze auf Grundlage einer Auslastungsquote von 98 Prozent kalkuliert werden. Die tatsächlichen Auslastungsquoten sind regional sehr unterschiedlich. In Frankfurt am Main lagen sie aufgrund des dortigen Überangebots an Heimplätzen im Jahr 2011 nur noch bei durchschnittlich 84,5 Prozent13.

Die zuvor schon zitierte Marktanalyse der Bank für Sozialwirtschaft prognostiziert, „dass Pflegeheime zukünftig in zunehmendem Maße unter Ertragsdruck geraten werden. Festzumachen ist dies insbesondere an dem wachsenden Auslastungsrisiko, dem bedeutendsten wirtschaftlichen Risiko von Pflegeheimen. Bereits in den letzten Jahren wurde das Angebot an Pflegeplätzen deutlich stärker ausgeweitet, als die Inanspruchnahme gestiegen ist.“14

Um wirtschaftlich überleben zu können, sind die Heime somit zu Kosteneinsparungen gezwungen. Da ein großer Teil der Heimkosten Fixkosten sind, besteht neben der Rationierung von Verbrauchsgütern, wie beispielsweise Nahrungsmitteln oder Pflegematerial, ein Kostensenkungspotenzial hauptsächlich bei den Personalkosten. Es liegt auf der Hand, dass solche Maßnahmen zur Kostensenkung negative Auswirkungen auf die Lebensqualität der Heimbewohner haben.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die Ausbildung und Nachwuchssicherung von Pflegekräften nicht mit dem Bau neuer Heimplätze Schritt hält. (Näheres zur Personalproblematik ist dem Kapitel 3 „Ursachen und Auswirkungen des Pflegenotstands“ zu entnehmen.) Es fehlen schon heute Tausende von qualifizierten Pflegerinnen und Pflegern. Aus dieser Arbeitsmarktproblematik folgt ein Verteilungskampf der Heime um die Fachkräfte, bei der manche Träger selbst vor offensiven Abwerbeaktionen nicht zurückschrecken. Wenn sich die ohnehin raren Fachkräfte aber auf immer mehr Einrichtungen verteilen, wird der Pflegenotstand in den einzelnen Heimen dadurch zum Nachteil der Bewohner weiter verschärft.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn beispielsweise die Hessische Heimaufsichtsbehörde ebenso wie das Sozialdezernat der Stadt Frankfurt vor dem Bau weiterer Heimplätze warnt. Aufgrund der bestehenden Rechtslage kann ein Baustopp jedoch nicht verfügt werden.

Selbst Axel Hölzer, Vorsitzender der Geschäftsführung des privaten, bundesweit agierenden Pflegekonzerns „Cura Seniorenwohn- und Pflegeheime“ und ein „überzeugter Marktwirtschaftler“, wie er sich selbst charakterisiert, fordert eine „Lizensierung von Pflegeheimplätzen“: „Für eine Lizenzvergabe für neue Pflegeheime, ausgerichtet am regionalen Bedarf, sprechen auch die positiven Erfahrungen, die im europäischen Ausland gemacht wurden. In Frankreich, Spanien und Italien schaffen es private Betreiber dadurch, Qualität des Angebots mit Rentabilität zu verbinden.“15

Es stellt sich in diesem Zusammenhang allerdings auch die prinzipielle ethische Frage, ob Dienstleistungen, die für Menschen eine solch existenzielle Bedeutung haben, wie dies bei der Pflege der Fall ist, überhaupt Marktmechanismen unterworfen sein sollten. Der renommierte Sozialpsychiater Klaus Dörner bezeichnete in einem Interview „die Übertragung der Marktmechanismen […] auf das Helfen“ gar als „Krebsschaden“16.

Wenn die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen nicht zum Spielball monetärer Interessen werden soll, darf der hochsensible Pflegebereich nicht dem „freien Markt“ überlassen werden. Sie sollte vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellen, die einer verantwortlichen Sozialplanung bedarf.

1.1.2 Bürokratische Wasserköpfe

Während private Träger mit der Pflege Geld verdienen, dürfen freigemeinnützige Einrichtungen formell keine Gewinne erwirtschaften. Da sie ihre Dienstleistungen aber nicht kostengünstiger als private Träger erbringen, würde sich daraus die logische Schlussfolgerung ergeben, dass diesen Einrichtungen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, die sich eigentlich in einer qualitativ hochwertigeren Pflege, Betreuung und Versorgung der Bewohner niederschlagen müssten. Dies ist aber nicht der Fall. So schneiden beispielsweise bei den Pflegenoten (die, wie im Kapitel 7 „Mogelpackung Pflegenoten“ nachzulesen ist, allerdings sehr „mit Vorsicht zu genießen“ sind) freigemeinnützige Träger nicht besser ab als private. Auch bei den in den Medien veröffentlichten „Pflegeskandalen“ ist kein Schwerpunkt auf bestimmte Trägerkonstellationen festzustellen. Ein Vergleich verschiedener Heime durch Besuche und Besichtigungen zeigt zudem, dass freigemeinnützige Einrichtungen per se keine signifikant bessere Personalausstattung haben oder über ein höherwertiges Betreuungsangebot verfügen als private. Es stellt sich daher die Frage, wo die Gelder, die private Träger an ihre Eigner ausschütten, bei den freigemeinnützigen bleiben?

Da freigemeinnützige Träger nicht verpflichtet sind, ihre Bilanzen offen zu legen, sind valide Aussagen zu dieser Problematik allerdings kaum zu treffen. Lediglich mittels praktischer Einzelfälle kann versucht werden, zumindest etwas Licht in diese Grauzone zu bekommen.

So sind viele freigemeinnützige Träger sehr hierarchisch organisiert, sodass Managemententscheidungen in den einzelnen Einrichtungen zuweilen enge Grenzen gesetzt sind. Es wird von den Trägergeschäftsstellen teilweise sogar erheblich in das operative Geschäft hineinregiert, sodass für die Leitungsebene „vor Ort“, die diese Entscheidungen gegenüber Bewohnern, Angehörigen sowie den Mitarbeitern zu vertreten hat, ein relativ großer zeit- und damit kostenintensiver Koordinations- und Abstimmungsbedarf besteht, der für effektive Lösungsfindungen kontraproduktiv ist. Der praktische Nutzen einer solchen Organisationsstruktur muss daher oft bezweifelt werden. So begründete der Heimleiter eines großen Hauses mit mehr als 300 Betten seine Kündigung bei einem freigemeinnützigen Träger in einem vertraulichen Gespräch wie folgt: „Jede Kleinigkeit muss intern abgestimmt werden; überall mischt sich die Geschäftsstelle ein. Zum Beispiel sitzen bei einer einfachen Personaleinstellung mit dem Trägergeschäftsführer, dem Personalleiter, unseren beiden Pflegedienstleitungen und mir gleich fünf Leute an einem Tisch. Ein Einstellungsgespräch kann man meines Erachtens aber durchaus auch zu zweit führen. Diese ständige Einmischung in das Alltagsgeschäft führt zwangsläufig auch zu Reibereien und Kompetenzgerangel, das nicht nur nervt, sondern zudem die Abläufe behindert. Einen großen Teil der Zeit beschäftigen wir uns mit uns selbst. Wenn ich aber beinahe mehr Energie und Arbeitszeit für interne Absprachen als für meinen eigentlichen Job aufwenden muss, bin ich nicht der richtige Mann am richtigen Ort. Deshalb bin ich nicht Heimleiter geworden.“

Da die Trägergeschäftsstellen in der Regel zwar mit gut dotierten Sozialmanagern ausgestattet sind, selbst aber keine eigenen Erträge erwirtschaften, werden sie durch ein Umlageverfahren von den einzelnen Einrichtungen finanziert. Dies bedeutet, dass finanzielle Mittel von den Pflegeheimen an die Trägergeschäftsstellen abgeführt werden müssen und den Einrichtungen für die Pflege und Betreuung ihrer Bewohner daher nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Umfang dieser Transaktionen ist in ihrer Gesamtheit allerdings nicht zu beziffern. Die Intransparenz dieses System zeigt sich auch darin, dass eine Internetrecherche zu diesem Thema nur ein einziges Ergebnis brachte. Dabei handelt es sich um den Jahresbericht 2010 des Bayerischen Obersten Rechnungshofs über das Bayerische Rote Kreuz17. Der Prüfbericht bemängelt u. a. „zu viele Führungspositionen“ innerhalb des Verbandes sowie eine mangelnde Transparenz der Verwendung der Umlage. Der Rechnungshof fordert, dass „der Finanzbedarf der Landesgeschäftsstelle sowohl hinsichtlich der Personalkosten als auch der Sachausgaben signifikant verringert werden“ sollte.

Ein praktisches Einzelbeispiel zeigt, dass ein Heim mit 150 Bewohnerinnen und Bewohnern etwa 120.000 Euro pro Jahr an die Trägergeschäftsstelle abführen muss. Damit ließen sich für diese Einrichtung, die insgesamt über ca. 60 Planstellen im Pflegebereich verfügen müsste, immerhin etwa drei zusätzliche Stellen in der Pflege finanzieren.

Eine solche Trägerumlage kann jedoch andererseits durchaus sinnvoll sein, wenn dieser tatsächlich Aufgaben, wie zum Beispiel die Finanz- oder Lohnbuchhaltung für die Einrichtung übernimmt. Dies ist jedoch nicht immer der Fall, sondern die Gegenleistungen der Geschäftsstellen sind zum Nachteil der Bewohner leider nur zu oft äußerst gering bzw. überhaupt nicht vorhanden.

Auch wenn freigemeinnützige Träger formell zwar keine Gewinne erwirtschaften dürfen, können sie jedoch Rücklagen für Reinvestitionen bilden. Da aber auch private Träger Rücklagen für notwendige Sanierungsmaßnahmen oder größere Neuanschaffungen benötigen, ist die Frage nach dem Verbleib der finanziellen Mittel damit ebenfalls nicht befriedigend zu erklären. Die Antwort könnte daher eher in dem Umstand zu finden sein, dass die Art der Reinvestitionen nicht eindeutig vorgegeben ist, d. h. die Gelder müssen nicht zwangsläufig auch wieder in das Heim zurückfließen, dem sie entnommen wurden, sondern können auch in andere Trägerprojekte gesteckt werden. So ist mir beispielsweise eine Einrichtung bekannt, die mit den Überschüssen des Pflegeheims die Defizite aus seinen anderen Leistungsbereichen abdeckt. Dies mag einerseits noch im weitesten Sinne nachvollziehbar sein, da diese Mittel zumindest ebenfalls sozialen Aufgaben zugutekommen. Gegenüber seinen Bewohnern, die mit ihrem monatlichen Heimentgelt dieses System finanzieren, könnte man ein solches Geschäftsgebaren allerdings als Betrug und Unterschlagung bewerten.

Von einer völlig sachfremden Verwendung von Heimerlösen berichtet hingegen die Zeitschrift Wirtschaftswoche, in dem sie darauf hinweist, dass sich das Diakonische Werk den Neubau seiner Hauptverwaltung in Berlin 65 Millionen Euro hat kosten lassen. Weiter heißt es zu diesem Thema: „Auf kommunaler Ebene wird von Dienstwagen-Fuhrparks berichtet, die viele Politiker klein aussehen lassen.“18 In diesem Zusammenhang zitiert die Zeitschrift den Münchner Theologen und Wohlfahrtskritiker Friedrich Wilhelm Graf gar mit den Worten: „Gemeinnützig ist an den meisten Wohlfahrtsunternehmen nur ihr steuerlicher Status“.19

Es spricht vieles dafür, dass diese Vorwürfe stimmen. Es wäre somit dringend erforderlich, das gesamte Finanzierungssystem der stationären Altenhilfe grundlegend zu reformieren, um die schon als kriminell zu bezeichnende Zweckentfremdung von finanziellen Mitteln zum Nachteil der pflegebedürftigen Menschen zu unterbinden. Entsprechen die Vorwürfe hingegen nicht den Tatsachen, sind die freigemeinnützigen Träger aufgerufen, sie zu entkräften, in dem sie mit der Offenlegung ihrer finanziellen Transaktionen endlich die notwendige Transparenz herstellen.