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Jens Clausen, Ilse Eichenbrenner

Soziale Psychiatrie

Grundlagen, Zielgruppen, Hilfeformen

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029310-6

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pdf:       ISBN 978-3-17-029311-3

epub:    ISBN 978-3-17-029312-0

mobi:    ISBN 978-3-17-029313-7

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Geschichte und Gegenwart der Sozialen Psychiatrie
  3. 1.1 Zum Selbstverständnis der Sozialen Psychiatrie
  4. 1.2 Skizzen zur Geschichte der Psychiatrie
  5. 1.3 Von der Anstalt in die Gemeinde
  6. 2 Leitgedanken der Sozialen Psychiatrie
  7. 2.1 Bedürfnisangepasste Behandlung – Need-adapted treatment
  8. 2.2 Individualisierte Hilfen
  9. 2.3 Inklusion
  10. 2.4 Peer-Support und EX-IN
  11. 2.5 Prävention
  12. 2.6 Recovery
  13. 2.7 Salutogenese
  14. 2.8 Trialog
  15. 3 Rechtsgrundlagen der Sozialen Psychiatrie
  16. 3.1 Grundrecht, Menschenwürde und Gleichstellung
  17. 3.2 Sozialrecht, Rehabilitation, Teilhabe und Pflege
  18. 3.3 Zivilrecht, rechtliche Betreuung und Freiheitsentziehung
  19. 3.4 Strafrecht, Maßregelvollzug und Begutachtung
  20. 4 Zielgruppen der Sozialen Psychiatrie
  21. 4.1 Chronisch psychisch kranke Menschen
  22. 4.2 Abhängigkeitskranke
  23. 4.3 Wohnungslose psychisch Kranke
  24. 4.4 Psychisch kranke Straftäter
  25. 4.5 Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten
  26. 4.6 Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder
  27. 4.7 Psychisch erkrankte Migrantinnen und Migranten
  28. 4.8 Psychisch kranke alte Menschen
  29. 5 Handlungsfelder der Sozialen Psychiatrie
  30. 5.1 Beratung
  31. 5.1.1 Sozialpsychiatrischer Dienst
  32. 5.1.2 Suchtberatung
  33. 5.1.3 Gerontopsychiatrische Beratung
  34. 5.1.4 Beratung im Internet
  35. 5.2 Persönliche Unterstützung zur Teilhabe
  36. 5.2.1 Ambulant aufsuchende Arbeit – Hausbesuche
  37. 5.2.2 Personenbezogene Unterstützung
  38. 5.2.3 Case-Management (Koordinierungs-Management)
  39. 5.2.4 Netzwerkarbeit
  40. 5.3 Krisenintervention
  41. 5.4 Formen des Betreuten Wohnens
  42. 5.5 Tagesgestaltung
  43. 5.6 Gruppenangebote
  44. 5.6.1 Gruppen mit Angehörigen
  45. 5.6.2 Selbsthilfegruppen
  46. 5.6.3 Psychoseseminare
  47. 5.6.4 Psychoedukative Gruppen
  48. 5.6.5 Trainingsgruppen
  49. 5.7 Teilhabe am Arbeitsleben
  50. 6 Beschreibung und Einordnung psychischer Störungen
  51. 6.1 Krankheitskonzepte und Erklärungsversuche
  52. 6.2 Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen
  53. 6.3 Störungen psychischer Elementarfunktionen
  54. 7 Einzelne Störungsbilder
  55. 7.0 Organische psychische Störungen
  56. 7.1 Störungen durch psychotrope Substanzen
  57. 7.1.1 Störungen durch Alkohol
  58. 7.1.2 Medikamentenabhängigkeit
  59. 7.1.3 Drogenabhängigkeit
  60. 7.2 Schizophrene und wahnhafte Störungen
  61. 7.3 Affektive Störungen
  62. 7.4 Neurotische, belastungs- und somatoforme Störungen
  63. 7.4.1 Angststörungen
  64. 7.4.2 Zwangsstörungen
  65. 7.4.3 Posttraumatische Belastungsstörungen
  66. 7.4.4 Dissoziative Störungen
  67. 7.4.5 Somatoforme Störungen
  68. 7.5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen
  69. 7.6 Persönlichkeitsstörungen
  70. 7.7 Intelligenzminderung
  71. 7.8 Entwicklungsstörungen
  72. 7.9 Störungen mit Beginn in der Kindheit
  73. 8 Klinische Behandlung
  74. 8.1 Psychiatrische Kliniken und Abteilungen
  75. 8.1.1 Aufnahme
  76. 8.1.2 Stationsalltag
  77. 8.1.3 Berufsgruppen in der Allgemeinpsychiatrie
  78. 8.1.4 Soteria
  79. 8.1.5 Tagesklinische Behandlung
  80. 8.1.6 Regionales Psychiatriebudget und Integrierte Versorgung
  81. 8.2 Kliniken für Abhängigkeitserkrankte
  82. 8.3 Psychosomatische Kliniken
  83. 8.4 Kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken
  84. 8.5 Abteilungen für Gerontopsychiatrie
  85. 8.6 Kliniken des Maßregelvollzugs
  86. 9 Therapeutische Hilfen im ambulanten Feld
  87. 9.1 Somatische Therapie
  88. 9.2 Psychotherapie
  89. 9.3 Soziotherapie
  90. 9.4 Ergotherapie
  91. 9.5 Ambulante psychiatrische Pflege
  92. 10 Ausblick – offene Fragen
  93. Literatur
  94. Sachwortregister

Vorwort

 

 

 

 

Psychiatrische Arbeit ist eine vielschichtige Tätigkeit mit täglich neuen Herausforderungen. Wer sich in diesem Feld bewegt, benötigt emotionale und soziale Stärken – und ein aktuelles, umfangreiches Detailwissen. Dieses Fachbuch soll Studierenden und Auszubildenden den Einstieg in den Arbeitsbereich der Sozialen Psychiatrie erleichtern, notwendige Kompetenzen vermitteln, Orientierung auf dem Gebiet der psychosozialen Hilfen geben und zur Reflexion des eigenen Denkens und Handelns anregen. Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen, Heilpädagoginnen und Heilerziehungspfleger, Pflegeexperten und Ergotherapeutinnen, die eine Beschäftigung in diesem expandierenden Bereich finden, möchten wir auf ihre Tätigkeit vorbereiten. Ärzte und Altenpfleger, Juristen und Kunsttherapeuten, Psychologinnen und Verwaltungskräfte sowie andere Professionen, die direkt oder indirekt mit psychisch erkrankten Menschen und ihrer Versorgung zu tun haben, dürfen sich ebenfalls angesprochen fühlen. All jene, die bereits in diesem Bereich arbeiten, können sich hier über aktuelle Tendenzen informieren und den Blick auf benachbarte Handlungsfelder werfen. Besonders würde uns freuen, wenn wir mit unseren Ausführungen auch Betroffene und Angehörige bei der Bewältigung ihrer Situation unterstützen könnten.

Sie gelangen bei der Lektüre – falls Sie auf der ersten Seite beginnen und auf der letzten Seite aufhören – vom Allgemeinen zum Konkreten, von den grundsätzlichen und historischen Bezügen zum sozialpsychiatrischen Alltag und über diesen hinaus zu den Störungsbildern und den Formen der Behandlung. Falls Sie lieber mit den Zielgruppen oder Handlungsfeldern starten, die Ihrem Ausbildungs- oder Arbeitsbereich nahe liegen, werden Sie sicher keine Mühe haben, die jeweiligen Verknüpfungen der Kapitel herzustellen und so ihren eigenen roten Faden im Buch zu entwickeln. Überhaupt sollen die einzelnen Abschnitte und Kapitel für sich abgeschlossen und verwendbar sein – wenn auch das ganze Spektrum der Sozialen Psychiatrie sich erst in der Gesamtschau erschließt.

Vielleicht fragen Sie sich, was »Soziale Psychiatrie« genau meint, was dieser Begriff ein- und ausschließt und welche Felder der psychiatrischen Landschaft er abdeckt. Dieser Frage wird im ersten Beitrag nachgegangen, der auch einen Blick in die Geschichte der Psychiatrie bis hin zur Gegenwart enthält. Anschließend stellen wir Leitgedanken vor, die gegenwärtig die Sozial- und Gesundheitspolitik – auch über die Psychiatrie hinaus – beschäftigen. Es folgen die wichtigsten Rechtsgrundlagen der Sozialen Psychiatrie. Im vierten Kapitel richten wir den Fokus auf die Zielgruppen der sozialpsychiatrischen Begleitung und Unterstützung insgesamt. Anschließend führen wir in die verschiedenen Handlungsfelder ein: Wo und wie findet Soziale Psychiatrie statt? Wir stellen Methoden und Arbeitsfelder vor und verknüpfen beide (Für die gezielte Suche nach einzelnen Stichworten ist ein Blick in das Register zu empfehlen). Die folgenden Kapitel sind den Krankheitskonzepten, der Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen sowie den einzelnen Störungsbildern gewidmet. Die Formen der stationären und ambulanten Behandlung bilden den Abschluss.

Wir haben uns bemüht, einen großen Bogen zu schlagen und die – unserer Ansicht nach – wichtigsten Aspekte der Sozialen Psychiatrie anzusprechen. Alle Leitgedanken und Abschnitte beziehen sich auf Männer und Frauen oder setzen gegebenenfalls Schwerpunkte; so sind wohnungslose psychisch Kranke überwiegend männlich; die Problematik, als psychisch Erkrankte ein Kind großzuziehen, betrifft vorrangig Frauen. Da im Arbeitsfeld der Sozialen Psychiatrie viele Frauen tätig sind, sprechen wir nicht nur geschlechtsneutral von Bezugspersonen, sondern häufig von Sozialarbeiterinnen, Beraterinnen usw.; das andere Geschlecht ist natürlich ebenfalls gemeint.

Die Arbeit in der Sozialen Psychiatrie ist für uns – Ilse Eichenbrenner und Jens Clausen – mehr als nur ein Broterwerb. Seit vielen Jahren engagieren wir uns in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP), beide lehren wir an unterschiedlichen Orten und ermuntern Studierende, sich in diesem Feld zu engagieren. Nicht zuletzt über die DGSP haben wir zum Schreiben von Artikeln, Fachbüchern, Satiren und Romanen gefunden und hoffen, dass das Lesen unseres Buches nicht nur Mühsal, sondern auch etwas Lesefreude bedeutet. Allerdings besitzt die Soziale Psychiatrie – wie jedes Arbeitsfeld – eine spezifische Fachsprache, deren etwas spröde Terminologie wir niemandem ganz ersparen können. Unsere Texte spiegeln an manchen Stellen Debatten der Sozialen Psychiatrie wider, wie sie auf Tagungen und in einschlägigen Publikationen oft recht kontrovers geführt werden. Diese Auseinandersetzungen prägen den Diskurs und die Entwicklung der Sozialen Psychiatrie. Hätten wir jeden dieser Gedanken mit einer minutiösen Quellenangabe versehen, dann wäre die Lesbarkeit des Textes verloren gegangen. So haben wir uns entschlossen, am Ende der Kapitel ausgewählte Literatur »Zur Vertiefung« zu empfehlen. Zusätzlich bildet das Literaturverzeichnis am Ende des Buches die Quellen und Ideengeber unserer Gedanken ab.

Dieses Buch hätte ohne die vielen Begegnungen mit psychisch erkrankten Menschen und ihren Angehörigen, mit Studierenden, Praktikanten und Kolleginnen nicht entstehen können. Auch das Streiten und Erzählen in der Redaktion der Zeitschrift »Soziale Psychiatrie« gab uns immer wieder neue Impulse. Für wertvolle Hinweise bedanken wir uns bei Ute Albrecht, Hartmut Göpfert, Kristin Kluge und vielen weiteren Kolleginnen und Kollegen.

Bei der Durchsicht des gesamten Manuskripts waren Gernot Hess, Dieter Lehmkuhl und Helmut Mair behilflich. Der Kohlhammer-Verlag hat uns in allen Phasen – so auch zuletzt bei der Erstellung der zweiten Auflage – ermutigend zu Seite gestanden. Dafür danken wir herzlich.

Berlin und Freiburg, im Januar 2016

Ilse Eichenbrenner und Jens Clausen

1         Geschichte und Gegenwart der Sozialen Psychiatrie

 

 

 

1.1        Zum Selbstverständnis der Sozialen Psychiatrie

Wenn über die Psychiatrie gesprochen wird, dann ist damit in der Regel jene Teildisziplin der Medizin gemeint, die sich mit der Diagnostik, Erforschung und Behandlung psychischer Störungen befasst. In fast allen Lehrbüchern der Psychiatrie liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung psychischer Krankheiten, ihrer psychopathologischen Einordnung sowie ihrer somatischen Behandlung, ergänzt durch psychotherapeutische Verfahren. Die angemessene fachliche und soziale Begleitung seelisch erkrankter Menschen außerhalb der Kliniken, die vielfältige Landschaft der Eingliederung und der Prävention werden meist nur am Rande dargestellt.

Mit diesem Buch möchten wir die Perspektive drehen und den Blickwinkel erweitern: Das Spektrum sozialpsychiatrischen Handelns soll in den Vordergrund gerückt und das psychiatrische Feld im sozialen Kontext geschildert werden. Denn psychisch erkrankte Menschen zu verstehen und ihnen angemessen zu begegnen, ist längst nicht mehr Aufgabe der klinischen Psychiatrie allein. Neben medizinischen, psychologischen und pflegerischen Leistungen werden heute bedeutende Aufgaben der psychiatrischen Hilfen durch Sozialarbeiterinnen, (Heil-)Pädagoginnen, Heilerziehungspfleger, Ergotherapeuten, Musik- und Kunsttherapeutinnen wahrgenommen. Für diese Berufsgruppen ist es notwendig, Kenntnisse der psychiatrischen Krankheiten zu besitzen, Formen und Felder der Behandlung sowie mögliche Hintergründe psychischer Störungen zu kennen. Ebenso wichtig ist es, die soziale Dimension seelischen Leids zu begreifen, sich in die Konzepte und Methoden der sozialpsychiatrischen Begleitung einzuarbeiten und einen Zugang zu den subjektiven Lebensweisen und Lebenswelten psychisch erkrankter Menschen und ihrer Familien zu gewinnen.

Bisweilen wird die sozialpsychiatrische Bewegung auf eine bestimmte Phase der neueren Psychiatriegeschichte reduziert, als ein besonderes Bemühen darin bestand, die Mauern der alten Anstalten zu überwinden und langfristig hospitalisierte Menschen in die Gemeinde zurückzuführen. Richtig ist, dass die sozialpsychiatrische Idee einen erheblichen Teil ihrer Wirkungskraft aus der kritischen Analyse der unwürdigen Verhältnisse in der traditionellen Psychiatrie zog. Die gesellschaftliche Ausgrenzung psychisch erkrankter Menschen aufzuheben und allen, auch den chronisch Erkrankten, ein Leben inmitten der Gemeinschaft zu ermöglichen, ist weiterhin das Ziel der Sozialen Psychiatrie. Doch die Soziale Psychiatrie – und wir verwenden den Ausdruck sehr bewusst und gehen damit über Begriffe wie »sozialpsychiatrischer Ansatz« oder »gemeindenahe Psychiatrie« hinaus – ist keine Alternative zu den Behandlungsformen der klinischen Psychiatrie, sondern ein umfassendes Konzept mit dem Ziel, die Lebenssituation psychisch erkrankter Menschen zu verstehen, zu respektieren und, wenn möglich und gewünscht, zu verbessern. Die Soziale Psychiatrie berücksichtigt soziologische, psychologische, biologische und rechtliche Aspekte; sie lässt sich nicht als einheitliches Verfahren formulieren, sondern geht auf die individuellen, familiären und die örtlichen sozialen Gegebenheiten ein; sie steht für eine Vision und ist ein Projekt der konkreten Gestaltung zugleich. In jeder Hinsicht ist sie den Worten von Klaus Dörner verpflichtet: »Die Psychiatrie ist eine soziale – oder sie ist keine!«

Wer nämlich das psychiatrische Feld über einen längeren Zeitraum erkundet und die Begegnung mit den betroffenen Menschen nicht scheut, der begreift immer mehr, dass naturwissenschaftlich-medizinische oder psychodynamische Konzepte nicht ausreichen, um ein umfassendes Verständnis von psychischen Krisen und ihren Bewältigungsversuchen zu erlangen. Die Erkrankung der Psyche ist immer auch eine psychosoziale Notlage, die einen akzeptablen Ort der Begegnung, der Begleitung und der Unterstützung braucht. Genau darin besteht die primäre Aufgabe der Sozialen Psychiatrie. Sie

•  erkennt die Verschiedenheit, Andersartigkeit und Besonderheit eines jeden Menschen und die damit verknüpfte Reichhaltigkeit des Lebens als gesellschaftlichen Wert an;

•  studiert die Wechselwirkungen zwischen sozialen, psychologischen und biologischen Faktoren und reflektiert die Situation der psychiatrischen und sozialen Unterstützung psychisch erkrankter Menschen und ihrer Angehörigen;

•  konzipiert bedarfsgerechte Hilfen für alle Menschen, die in psychische Krisen geraten sind und unterstützt sie und ihr Umfeld in der konstruktiven und eigenverantwortlichen Konfliktbewältigung;

•  analysiert das soziale Netz, die Wohn- und Arbeitssituation und die gesellschaftliche Teilhabe des psychisch erkrankten Menschen, um zu einem vertieften Verständnis der Erkrankung und zu einer angemessenen Form der Behandlung zu gelangen;

•  achtet darauf, Fremdbestimmung und Entmündigung zu vermeiden und Selbstbestimmung zu ermöglichen; dazu ist ein gemeinsames Vorgehen und – bei Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte – die Beschränkung der Interventionen auf unhaltbare Situationen notwendig;

•  bezieht diejenigen, die Erfahrungen mit psychischen Krisen und psychiatrischen Behandlungen besitzen, in die Planung und Realisierung von Unterstützungsangeboten und Fortbildungen mit ein;

•  strebt durch Tagungen und Fortbildungen eine immer neu zu reflektierende Grundlage aus Kenntnissen, Kompetenzen und Haltungen der sozialpsychiatrischen Praxis an.

Soziale Psychiatrie ist also keineswegs eine Angelegenheit der Professionellen allein – im Gegenteil, sie entwickelt nach Möglichkeit die Konzepte, Hilfeformen und Einrichtungen gemeinsam mit den Psychiatrie-Erfahrenen und den Angehörigen. Bei der Einschätzung dessen, was sozialpsychiatrisch wünschenswert und notwendig ist, gibt es naturgemäß unterschiedliche Auffassungen – trotz vieler gemeinsamer Positionen auch manchen Dissens in sozialpolitischer, konzeptioneller und methodischer Hinsicht. Nicht immer decken sich Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, und oft zeigt sich erst vor Ort, ob die Forderung nach respektvollem Umgang und fachlich fundierter Hilfe jedem Mitmenschen, auch dem schwer Erkrankten gegenüber, tatsächlich erfüllt wird.

In jedem Fall ist eine subjekt- und zugleich am Gemeinwesen orientierte Sichtweise Bestandteil der Sozialen Psychiatrie. Sozialpsychiatrisches Handeln setzt ein Verständnis der Lebenswelten, der individuellen Lebensmöglichkeiten und Lebensgestaltungen, aber auch der Grenzen von Erträglichkeit voraus. In diesem Sinne ringt die Soziale Psychiatrie – im Spannungsfeld zwischen individuellem psychischen Leid einerseits und Erwartungen und Toleranzen des gesellschaftlichen Umfeldes andererseits – um eine angemessene Position der Hilfe, Begleitung und Versorgung. Schließlich impliziert sozialpsychiatrisches Denken und Handeln auch einen ethischen und sozialpolitischen Aspekt, der mit dem Bemühen um die gesellschaftliche Gleichstellung und Gleichbehandlung chronisch psychisch Kranker mit körperlich Kranken verbunden ist.

Leitgedanken der Sozialen Psychiatrie besitzen eine grenzüberschreitende Dimension und sind Teil eines internationalen Diskurses – wie überhaupt die Entwicklung der Sozialen Psychiatrie nicht ohne den Blick »über den Tellerrand hinaus« denkbar ist. Erst durch den vertieften Austausch von Erkenntnissen der Psychiatrieentwicklung im internationalen und transkulturellen Vergleich war und ist es möglich, eigene Strukturen und Handlungsweisen kritisch zu hinterfragen und Ideen und Konzepte – z. B. aus England, den USA, Italien, Skandinavien und anderswo – zu prüfen und daraus entstehende Anregungen zu integrieren.

In den folgenden Ausführungen wird dargestellt, wie die Soziale Psychiatrie frühere Formen der Verwahrung abgelöst und an ihre Stelle eine breite Infrastruktur gemeindenaher Institutionen gesetzt hat. Man könnte von einer Vervollständigung der psychiatrischen Behandlung in sozialer Hinsicht durch die Herstellung lebensnaher Orte der Unterstützung und der Begegnung mit psychisch erkrankten Menschen sprechen. Doch abgeschlossen ist diese Entwicklung nicht – und kann es gar nicht sein, denn fachliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Bedürfnisse des einzelnen Menschen wandeln sich. Zur Sozialen Psychiatrie gehört daher die Bereitschaft, Unterstützungsformen dynamisch und flexibel zu gestalten. Gleichzeitig bedarf es einer grundsätzlichen sozialpsychiatrischen Haltung, einer Parteinahme für die Anliegen der psychisch Erkrankten und ihrer Familien, um der Tendenz zur gesellschaftlichen Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Besonderheiten konsequent und täglich neu entgegenzutreten.

1.2        Skizzen zur Geschichte der Psychiatrie

»Stellen Sie sich ein geräumiges Gebäude vor, erhaben und elegant, umgeben von weitläufigen und hügeligen Ländereien und Gärten. Das Innere ist mit Galerien, Werkstätten und Musikzimmern eingerichtet. Die Fenster lassen Sonne und Luft herein, öffnen den Blick auf Sträucher und Felder und Gruppen von Arbeitenden, ohne Behinderung durch Fensterläden oder Gitter; alles ist sauber, ruhig und einladend. In dieser Gemeinschaft gibt es keinen Zwang und keine körperliche Züchtigung« (zit. n. Porter 2005).

Die Idee eines angemessenen Ortes der Begegnung und einer menschenwürdigen Form der Behandlung psychisch erkrankter Menschen ist, wie wir sehen, keine Errungenschaft unserer Tage. Die zitierten Zeilen wurden 1837 vom Direktor des Royal Montrose Lunatic Asylums in Schottland, William Browne, formuliert. Auch in früheren Zeiten suchte man unter jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen nach Antworten auf die Frage, wie seelische Krankheiten zu verstehen und zu behandeln seien. Die Entwicklung der Psychiatrie ist also keineswegs ein gradliniger Aufstieg aus dunkler Vorzeit in die helle Gegenwart. Und nur andeutungsweise lässt sich die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen schildern, die auf diesem Gebiet so häufig anzutreffen ist: Während nämlich an einem Ort neue Erkenntnisse, Konzepte und Formen der psychiatrischen Unterstützung in die Tat umgesetzt werden, leben zur gleichen Zeit an anderer Stelle Menschen unter Bedingungen, an denen der Fortschritt in fachlicher und menschlicher Hinsicht vollkommen vorbei gegangen ist. Diese Entwicklung wird hier nur knapp skizziert in dem Wissen, dass die Auswahl an Daten, Fakten und Impressionen subjektiv und diskutierbar ist.

Dokumente aus der Antike deuten darauf hin, dass Menschen mit auffälligen Störungen oder Behinderungen bei öffentlichen Veranstaltungen geradezu »vorgeführt« wurden und zur Belustigung von Festgesellschaften dienten. Bisweilen lösten verrückte Handlungen aber nicht nur Spott, sondern auch Verehrung aus, wenn sie mit mystischen oder religiösen Aspekten in Zusammenhang gebracht wurden. Manche Philosophen im antiken Griechenland glaubten an die heilende Wirkung des Dialogs und sahen Körper und Seele als Einheit. In Ägypten setzte man auf den »Heilschlaf« im Tempel zur Behandlung psychischer Störungen. Hippokrates entwickelte mit seiner Lehre von den Körpersäften ein eher psychosomatisches Konzept: Blut (sanguinischer Saft), Phlegma (phlegmatischer Saft), gelbe Galle (cholerischer Saft) und schwarze Galle (melancholischer Saft) seien für die innere Verfassung des Menschen ausschlaggebend: Ein unausgewogenes Verhältnis dieser vier Säfte führe zu Weinkrämpfen und Angst oder zu Tobsucht und Wahnsinn. Galenus aus Pergamon legte ein erstes umfangreiches medizinisches Gesamtwerk vor und beschrieb darin psychische Auffälligkeiten als Stauungen von Harn und Samen.

Im Mittelalter sah man in bösen Geistern die Verursacher psychischer Krankheiten. Dass schwerwiegende Lebensereignisse, Krisen und Konflikte zur Entstehung seelischer Störungen beitragen könnten und dass in jedem Menschen die Anlage dazu vorhanden sein könnte, war unvorstellbar. Die Seele könne nicht erkranken, so stellten Albertus Magnus und Thomas von Aquin übereinstimmend fest, denn andernfalls müsste der Gedanken an ihre Unsterblichkeit aufgegeben werden. Folglich konnte es sich bei psychischen Veränderungen nur um Formen der Besessenheit handeln: Ein Dämon sei in den Wahnsinnigen gefahren und treibe dort sein Unwesen. Um Zugang zu den bösen Geistern zu erlangen und sie aus den Körpern zu treiben, wandte man alle erdenklichen Formen der Austreibung an: Brechmittel, Abführmittel, Aderlasse oder Verbrennungen der Kopfhaut. Manche glaubten, den Schädel öffnen und bestimmte Hirnregionen chirurgisch behandeln oder gar Steine des Wahnsinns aus dem Hirn herausschneiden zu müssen. (Es lässt sich unschwer denken, dass der Operierte nach einem solchen Eingriff tatsächlich sehr verändert war.) In Zeiten der Inquisition verdichtete sich die Auffassung von Wahnsinn als Besessenheit dahingehend, dass psychisch Erkrankte nun der Folter, dem Exorzismus und der Verbrennung auf dem Scheiterhaufen ausgesetzt waren. Auch Luther bezeichnete in seinen Tischreden wahnsinnige Menschen als Kinder des Satans, die aus der Vereinigung von Dämonen und Hexen hervorgegangen seien; ihre Tötung sah er als gottgefälliges Werk an. Der Schriftsteller Daniel Defoe vertrat eine andere Auffassung: Menschen, die man als verrückt bezeichnete, sollten nicht ausgegrenzt, gefoltert und verachtet werden. Er plädierte dafür, aus staatlichen oder privaten Initiativen Irrenhäuser zu bauen, um Menschen mit psychischen Störungen ungeachtet ihrer Herkunft darin aufzunehmen und unter fachlicher Anleitung zu pflegen.

Die ersten Spitäler für psychisch kranke und behinderte Menschen in Europa wurden im 15. Jahrhundert in Spanien gegründet, mit starkem Einfluss arabischer Vorbilder. In Bagdad und Damaskus kannte man schon seit dem 9. Jahrhundert Abteilungen für psychisch Kranke in Krankenhäusern. In Deutschland gehörten die Klöster Haina und Merxhausen sowie das Hospiz in Würzburg und das Spital in Bayreuth zu den ersten Orten, an denen Menschen mit seelischen Erkrankungen behandelt wurden. Englands älteste Einrichtung für psychisch erkrankte und behinderte Menschen war das Bethlem Hospital in London. Die Tatsache, dass psychische Auffälligkeiten auch in höchsten Gesellschaftsschichten auftraten, führte dazu, dass zunehmend Ärzte und nicht mehr Geistliche mit der Diagnose und der Therapie der seelischen Störungen beauftragt wurden. Als man beim englischen König Georg III. Anfälle von Wahnsinn feststellte und diese sogar am Inhalt seines Nachtgeschirrs voraussagen konnte (als Alarmsignal galt sein dunkelrot bis blau gefärbter Urin, der auf eine Stoffwechselstörung hinwies), ließ sich die Erkrankung nicht länger als göttliche Strafe deuten. Bei Spaniens König Philipp V. wusste man zwar nichts über die Ursachen seiner manisch-depressiven Störung, konnte an ihm jedoch die heilsame Wirkung der Musiktherapie studieren.

Unterschiedlichste Ideen entstanden im 17. und 18. Jahrhundert bezüglich der sogenannten »vapeurs«, der Nervenkrankheiten: Man erforschte die Reflexe, erörterte die Wirkung des Magnetismus, stellte gewagte Thesen über die Ursachen psychischer Erkrankungen auf. Die Polizeiordnungen der Städte verlangten, dass alle Verrückten, Siechen, mit »abscheulichen Leibesschäden oder der hinfallenden Seuche« beladenen Menschen außerhalb der Stadtmauern zu bleiben hätten. Gelang es nicht, die Betroffenen zu vertreiben, wurden sie mit Kriminellen und Bettlern in die Räume der Stadttore eingeschlossen. Dankbar war man den kirchlichen Einrichtungen, die draußen vor den Toren der Städte ihre Klöster für die Verwahrung kranker und behinderter Menschen öffneten. Das Bürgertum tendierte dazu, den Wahnsinn mit hohen Mauern zu umgeben, um sich der Angst vor dem Verlust der Ordnung zu entledigen. Zahlreiche Asyle für psychische Erkrankte und Behinderte entstanden in Europa zwischen 1760 bis 1830 und zeugen von der Furcht vor Geisteskrankheit und Unvernunft. In der aufziehenden bürgerlichen Ordnung mit ihren Grundsätzen der Arbeit und Disziplin, des Rechts und der Vernunft hatten psychische Auffälligkeiten in der Mitte der Gesellschaft keinen Platz. Man grenzte Kranke und Verrückte aus in der Illusion, damit selbst heil und ungefährdet zu sein. Gleichzeitig beschäftigte man sich intensiver denn je mit dem Wahnsinn und suchte nach mechanischen, moralischen oder medizinischen Mitteln zur Eindämmung jeglicher Verrücktheit.

Vielerorts wurden Drehmaschinen, Tauchkörbe, hohle Räder, Käfige, Zwangsjacken und Zwangsmasken sowie eisige Bäder und Hungerkuren eingesetzt, um die Unvernunft zu bezwingen. Der Psychiater Reil war der Ansicht, man müsse uneinsichtige und unmotivierte Patienten durch Schockverfahren gefügig machen; er tauchte sie in kaltes Wasser, stürzte sie in einen Fluss oder zündete alkoholgetränkte Felle an ihnen an, um den Wahnsinn schockartig zu bekämpfen. In Wien stellte man astronomische Überlegungen an, errichtete ein Asyl für psychisch Erkrankte in Form eines Turms, da Kaiser Joseph II. von der heilsamen Wirkung gewisser Zahlenkonstellationen und daraus abgeleiteter architektonischer Maßnahmen überzeugt war. In Paris befreite der Reformer Pinel die Patienten in den Spitälern Bicêtre und Salpêtrière von ihren Ketten mit den Worten: »Die Irren sind keine Schuldigen, die man bestrafen muss, sondern Kranke, die alle Rücksicht verdienen, die wir leidenden Menschen gegenüber schuldig sind.« Er sorgte für hygienische Verhältnisse, entwickelte neue Krankheitskategorien und unterschied erstmals organische Hirnerkrankungen von Störungen der Persönlichkeit, bei denen der Verstand intakt blieb. Sein Nachfolger Esquirol legte ein umfangreiches Lehrbuch des Geisteskrankheiten (Des maladies mentales) vor und erkannte bei einigen Krankheitsbildern psychosoziale Ursachen. Seine Vorschläge zur Rechtsstellung psychiatrischer Patienten und seine Behandlungskonzepte sahen sozialpsychiatrische Reformen vor. In England sollten psychisch Erkrankte in dem von William Tuke gegründeten Retreat in York Schutz genießen und in freundlicher Atmosphäre geheilt werden. Auch Robert G. Hill und John Conolly lehnten Zwangsmaßnahmen ab und propagierten die Öffnung der Türen und die Entwicklung sozialpsychiatrischer Maßnahmen; Conollys Abhandlung »The Treatment of the Insane without Mechanical Restraint« wurde ins Deutsche übersetzt und veranlasste auch deutsche Psychiater, nach England zu reisen und die dortige Behandlung ohne Zwangsmittel kennen zu lernen.

Im 19. Jahrhundert nahmen die Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin und damit auch der Psychiatrie enorm zu. So wurden Infektionskrankheiten und ihre Auswirkungen auf die Psyche erforscht, bipolare affektive Störungen detailliert beschrieben, auch das Delirium tremens, der Verfolgungswahn und die Anorexia nervosa gerieten in den Blick der Experten. In Deutschland setzte ein Disput zwischen den sogenannten Psychikern und den Somatikern ein: Während die Psychiker die Auffassung vertraten, dass es sich bei psychischen Krankheiten um Störungen der Seelenkräfte handle, behaupteten die Somatiker, dass alle Geisteskrankheiten eigentlich körperliche Krankheiten seien oder von diesen beeinflusst würden. Die Psychiker gingen von der »Freiheit der Seele« aus; für sie standen psychische Erkrankungen mit sündhaften Gedanken und Handlungen in Verbindung. Ihre Orientierung an der Vernunft und ihren inneren Wirkungskräften wurde bisweilen auch als »romantische Psychiatrie» bezeichnet, doch waren die Formen der Behandlung und die Orte, an denen sie erfolgte, alles andere als »romantisch« und der Versuch der moralischen Einwirkung auf die Geisteskräfte oft sehr drastisch und quälend.

Die Gruppe der Somatiker wurde von dem Gründer der Anstalt in Siegburg, Maximilian Jacobi, und von Wilhelm Griesinger geprägt. Griesingers Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« von 1845 enthielt den Satz »Alle Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«; sein Streben war ganz auf die Etablierung der Psychiatrie als Teildisziplin der Medizin gerichtet. Indem er sich gegen die metaphysisch-spekulativen bzw. romantischen Ideen der Psychiker wandte und die mechanischen und moralischen Torturen ablehnte, gab er den psychisch erkrankten Menschen den Status von Patienten zurück, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu behandeln sind. Mit seinen Vorschlägen zur Gründung von Stadtasylen setzte er erste Impulse für eine gemeindenahe Psychiatrie. Sein größtes Interesse aber galt der Hirnpathologie. In psychischen Krankheiten sah er vor allem progressive Prozesse, deren Ursachen nur durch intensive Hirnforschung zu ermitteln seien. Damit setzte er eine Entwicklung in der deutschen Psychiatrie in Gang, die das späte 19. und 20. Jahrhundert prägen sollte: Die zahlreichen neuen Psychiatrischen Universitätskliniken widmeten sich der neuropathologischen Forschung und interessierten sich mehr für die Krankheiten als für die Kranken. Den Provinzial-Irrenanstalten auf dem Lande überließ man die Verwahrung jener Menschen, die der Wissenschaft nicht interessant genug erschienen und die man für lediglich pflegebedürftig hielt.

Der Wunsch nach sicherer Verwahrung »irrer Elemente« führte überall im Deutschen Reich zu verstärkten polizeistaatlichen Maßnahmen und ließ die Zahl der Heil- und Pflegeanstalten rasch steigen: von 93 Anstalten mit 33000 Patienten im Jahr 1877 auf 180 Anstalten mit 112000 Patienten im Jahr 1904. Um die Qualität der Pflege war es meist nicht besonders gut bestellt: Ausgediente Soldaten oder andere ungelernte Kräfte leisteten den Wärterdienst; sie schliefen in riesigen Schlafsälen zusammen mit den Patienten, ihnen wurde weder Freizeit noch Anspruch auf Urlaub zugestanden, Heirat und Gründung eines eigenen Hausstandes war ihnen untersagt.

Die deutliche Zunahme zu betreuender seelisch erkrankter Menschen veranlasste auch die Kirchen, sich wieder stärker auf diesem Gebiet zu engagieren: Katholische Häuser der Alexianer und Franziskaner und evangelische Einrichtungen in Bethel und andernorts nahmen sich psychisch erkrankter, behinderter und alkoholabhängiger Menschen an oder erweiterten ihre Anstalten. Der Schwerpunkt der Behandlung lag besonders auf der Arbeitstherapie, die medizinische Versorgung spielte kaum eine Rolle. Immerhin setzten sich einige Psychiater wie der Erlanger Anstaltsdirektor Kolb für die Betreuung psychisch erkrankter Menschen in der offenen Fürsorge ein oder entwickelten neue Formen der Familienpflege, die z. B. im belgischen Gheel gute Erfolge zeigte. Eine aktivierende Krankenbehandlung, so stellte Hermann Simon in Gütersloh fest, könne Langzeitpatienten aus der »Krankenversunkenheit« holen und sie wieder in offene Formen der Betreuung führen. Wer allerdings nicht arbeitsfähig war, galt rasch als unnütz und minderwertig. Ökonomische Fragen bestimmten mehr und mehr das psychiatrische Denken. Mit der »Gesellschaft für Rassenhygiene« organisierte sich 1905 der Kreis derer, die sozialdarwinistische Vorstellungen in die psychiatrische Lehre trugen. Die Direktorenposten der Heil- und Pflegeanstalten und die Lehrstühle der Universitätspsychiatrie wurden fast ausschließlich besetzt von Vertretern der Degenerationslehre, für die Geisteskrankheiten nichts anderes als vererbte Defekte waren, die man isolieren und aus dem »Volkskörper« eliminieren müsse.

Schon 1918 schrieb der führende Kopf der deutschen Psychiatrie, Emil Kraepelin: »All die zahlreichen Schöpfungen menschlichen Mitleids, die darauf abzielen, auch das Leben der Kranken, Schwachen, Untauglichen nach Möglichkeit zu erhalten und menschenwürdig zu gestalten, haben ohne Zweifel die unerfreuliche Folge, dass sich unserem Nachwuchs dauernd ein breiter Strom minderwertiger Keime beimischt, der eine Verschlechterung der Rasse bedeutet« (Kraepelin 1918). Robert Gaupp sprach vor dem Deutschen Verein für Psychiatrie von der »Herrschaft der Minderwertigen« und der »Bedrohung der deutschen Kultur«. Der Freiburger Ordinarius für Neuropathologie, Alfred Hoche, gab 1920 zusammen mit dem Juristen Karl Binding die Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« heraus. Binding und Hoche kamen zu dem Ergebnis, dass die Tötung »unheilbar Blödsinniger« legitim sei. Sie sprachen von »geistig Toten«, »Defektmenschen«, »leeren Menschenhülsen« oder »Ballastexistenzen« und schlugen vor, Gutachtergremien aus Ärzten und Juristen für die Entscheidung zur Tötung einzurichten. Auf solide Diagnostik und einfühlsame Behandlung verzichtete man mehr und mehr, zeitraubende Therapien wollte und konnte man sich nach dieser Auffassung sparen.

Mit dieser Auffassung ließ sich auch die psychoanalytische Bewegung bekämpfen, die von Wien ausging und international zahlreiche Anhänger fand. Freuds Erkenntnisse des Unbewussten, seine Ideen zur Entstehung neurotischer und psychosomatischer Leiden veränderten das psychiatrische Denken und Handeln vielerorts erheblich. Man sah darin einen neuen Ansatz, zwischenmenschliche Beziehungen besser zu verstehen und seelische Veränderungen auf diesem Hintergrund neu zu lesen. In vielen Ländern Europas und später auch in Nord- und Südamerika fand Sigmund Freud zahlreiche Anhänger im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich. Nicht so in Deutschland. Hier erteilten die führenden Vertreter der Psychiatrie wie Hoche und Kraepelin der Psychoanalyse eine scharfe Absage, empfanden sie als »abstoßend«, »durch und durch unwissenschaftlich« und stellten sie als »Gefahr für das Nervensystem« dar. Tagungen und Fachzeitschriften nutzten sie für einen regelrechten Feldzug gegen die Psychoanalyse und bemühten sich darum, auf die Schweizer Psychiatrie und ihren renommiertesten Vertreter Eugen Bleuler einzuwirken, der in Zürich seine psychiatrische Arbeit mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse zu verknüpfen versuchte. In der deutschen Psychiatrie setzte man hingegen ganz auf die Degenerationslehre und auf die Hirnforschung, die in den folgenden Jahren die Würde und schließlich das Leben der Patienten bedrohte und sie zu Forschungsobjekten rassehygienischen Denkens machte.

Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, bildete den Auftakt zur Verfolgung psychisch erkrankter und behinderter Menschen. Alle Ärzte, Pflegekräfte und Fürsorgerinnen hatten dem Amtsarzt sämtliche Personen anzuzeigen, die ihnen »erbkrank« erschienen, wozu körperliche Missbildungen, Schizophrenien, manisch-depressive Erkrankungen, Veitstanz (Chorea Huntington), schwerer Alkoholismus sowie »angeborener Schwachsinn« gehörten. Die psychiatrischen Kliniken wurden zur Mitarbeit an den erbbiologischen und eugenischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates verpflichtet, alle Anstaltsleiter zu Schulungskursen zur Vorbereitung der »Euthanasie« an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie nach München beordert. Viele Angehörige holten eilig ihre erkrankten oder behinderten Familienmitglieder nach Hause, um sie vor Zwangssterilisation und Ermordung zu schützen. Jüdische Psychiater und Psychoanalytiker wurden verhaftet oder flohen in die Schweiz, nach England, Skandinavien, in die USA und nach Südamerika, während in Deutschland führende Psychiater wie Rüdin, Heinze und Gorgass aktiv die Vernichtung psychisch kranker Patienten einleiteten. Die Tötung von Menschen blieb auch im »Dritten Reich« eine Straftat, doch fanden sich genug nazitreue Ärzte und Pflegekräfte, die das Ermächtigungsschreiben Hitlers an seinen Leibarzt (»dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann«) in die Tat umzusetzen bereit waren. Zur Durchführung der »Euthanasie« wurden mehrere Organisationen gegründet, die ihren Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin hatten und unter dem Namen Aktion T4 die Maßnahmen zu koordinieren hatten.

Im Herbst 1939, bald nach Kriegsbeginn, ergingen Meldebögen an alle psychiatrischen Anstalten, die den Eindruck erwecken sollten, allein zur Begutachtung der Arbeitsfähigkeit der Patienten zu dienen – während man zur gleichen Zeit in Berlin konkrete Zahlen der zu tötenden psychisch Erkrankten festlegte. Behinderte und psychisch kranke Kinder wurden durch einen »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in sogenannte Kinderfachabteilungen eingewiesen; ihren Eltern sagte man, sie würden dort einer » eingehenden fachärztlichen Überprüfung« unterzogen; gemeint waren damit brutalste Forschungs- und Tötungspraktiken. Im Januar 1940 wurde in der Anstalt Brandenburg die Ermordung durch Gas erstmals an Psychiatriepatienten erprobt und in den folgenden Monaten auch in Grafeneck, Bernburg, Hartheim, Sonnenstein und Hadamar vorgenommen. Aus allen Anstalten des Landes wurden Erkrankte »verlegt«, die Angehörigen erhielten einen Bescheid der kriegsbedingten Verlegung und konnten das Schicksal ihrer Familienmitglieder nicht weiter verfolgen. Später erhielten sie dann die Todesnachricht, in der eine natürliche Todesursache (meist als Lungenentzündung) angegeben war.

Wenige Menschen hatten den Mut, sich gegen die immer offensichtlicheren Ermordungen zu stellen. Einige Ärzte der Anstalten bemühten sich, möglichst viele ihrer Patienten als arbeitsfähig darzustellen und so vor den nächsten Zugriffen zu schützen; einige kirchliche Vertreter wie der Lobetaler Pfarrer Braune und der Münsteraner Bischof Graf von Galen wendeten sich durch Predigten und Strafanzeigen gegen die »Euthanasie«. Ihr Protest blieb nicht folgenlos und wurde auch im Ausland wahrgenommen, doch ging die Ermordung an psychisch Erkrankten und Behinderten in den letzten Kriegsjahren weiter. In der Zeit von 1939 bis 1945 wurden in Deutschland und in den von Deutschen besetzten Gebieten ca. 200000 Menschen ermordet, weil sie psychisch krank oder geistig behindert waren – zunächst im Rahmen der Aktion T4 vor allem durch Gas, durch eine Überdosis Medikamente und in den letzten Kriegsjahren durch gezielten Nahrungsentzug. Einen Höhepunkt erreichten die Sterberaten in den letzten Kriegsmonaten bzw. nach Kriegsende: Sie stiegen auf rund 50 %, da in vielen Anstalten die Mitarbeiter geflohen waren und die Patienten ihrem Schicksal überlassen hatten.

Nach der Kapitulation Deutschlands änderten sich die Verhältnisse in der Psychiatrie zunächst nicht grundsätzlich. In den Kliniken nahm die Behandlung von Kriegsverwundeten größeren Raum ein als die psychiatrische Versorgung. Für seelisch Erkrankte war weder Platz noch Nahrung vorhanden; das Personal, wenn es denn noch vorhanden war, blieb weitgehend das gleiche wie zur NS-Zeit, nur wenigen Ärzten und Pflegekräften wurde für ihre Ermordungsgutachten bzw. -praktiken der Prozess gemacht. Kam es zur Anklage, wuschen die Beschuldigten ihre Hände in Unschuld und beteuerten, ganz im Sinne der psychiatrischen Wissenschaft gehandelt und geforscht zu haben. Gehirnsammlungen aus der NS-Zeit dienten Jahrzehnte später als Forschungsmaterial, einige Psychiater führten ihre Menschenversuche, die Tötungen einschlossen, auch nach 1945 unbehelligt fort.

Von den emigrierten Ärzten und Psychotherapeuten, die in den Ländern ihres Exils wichtige Impulse zur Erneuerung der Psychiatrie setzen, nahm die Nachkriegspsychiatrie auf deutschem Boden wenig Notiz. Die Emigrierten hingegen zog es kaum in ihre alte Heimat zurück. In ihrem neuen Wirkungskreis ließen sich medizinische, psychologische und soziologische Denkweisen besser integrieren als in deutschen Anstalten und Universitätskliniken, wo der Schwerpunkt der Behandlung weiterhin auf der Insulin-Koma-Therapie, dem Kardiazol-Schock und der Elektrokrampftherapie lag. 1952 kam die Psychopharmaka-Therapie hinzu, an die nicht nur Hoffnungen auf bessere Behandlungsbedingungen, sondern auch große Heilungserwartungen geknüpft waren. Erst in den 1960er Jahren wurden in Deutschland wieder internationale Forschungsergebnisse studiert und ausgewertet. Und man begann zu realisieren, dass die alten Anstalten nicht nur psychiatrische Erkrankungen ungenügend behandelten, sondern sie als »totale Institutionen« (Goffman 1961) oft erst erzeugten oder verstärkten.

Zur Vertiefung

 

Blasius D (1994) »Einfache Seelenstörung«. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800–1945. Frankfurt a. M.: Fischer.

Brink C (2010) Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980. Göttingen: Wallstein.

Brückner B (2014) Geschichte der Psychiatrie. 2. Aufl., Köln: Psychiatrie-Verlag.

Rohrmann E (2011) Mythen und Realitäten des Anders-Seins. 2. Aufl., Wiesbaden: VS-Verlag

Schott H, Tölle R (2006) Geschichte der Psychiatrie. München: C.H. Beck.

1.3        Von der Anstalt in die Gemeinde

Im Jahr 1965 formulieren die Psychiater Häfner, Baeyer und Kisker »dringliche Reformen der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik« und geben damit einen ersten Impuls für anstehende Veränderungen. Reformvorstellungen werden 1963 auch in der DDR in den »Rodewischer Thesen« dargelegt. Die Psychiatrie-Enquete, die 1971 von engagierten Ärzten und einzelnen Bundestagsabgeordneten auf den Weg gebracht und 1975 dem Parlament überreicht wird, kritisiert die katastrophalen Missstände in den psychiatrischen Anstalten als »elend und menschenunwürdig«. Bemängelt werden vor allem: die unzureichende Versorgung psychisch kranker Menschen im Vergleich zu somatisch Kranken, die Defizite im Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie der Mangel an Behandlung und Hilfen außerhalb der Kliniken. Neben der Beseitigung der Missstände wird auch eine grundsätzliche Neuordnung der Unterstützung psychisch Kranker und Behinderter nach den Prinzipien der gemeindenahen Versorgung sowie eine bedarfsgerechte Koordination aller Dienste gefordert.

Im Mannheimer Kreis und in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie beteiligen sich ab 1970 nicht nur Ärzte, sondern auch Sozialarbeiterinnen, Pflegekräfte, Psychologinnen und Studierende an der psychiatriepolitischen Debatte. Traditionelle Berufsrollen und alte Hierarchien werden kritisch hinterfragt, Raum für psychologische und sozialarbeiterische Ansätze geschaffen, Teamarbeit, Patientenbeteiligung und ein partnerschaftlicher Umgang eingeklagt. Dieser beginnende Reformprozess geht keineswegs einvernehmlich vonstatten. Einige legen den Schwerpunkt auf die Verbesserung der Bedingungen in den Kliniken im Sinne einer »Therapeutischen Gemeinschaft», andere fordern die Auflösung der großen Anstalten, orientiert an Englands Psychiatern Cooper und Laing und Italiens Reformern Basaglia, Jervis und Pirella. Die zivilen Rechte und die Bedürfnisse der Patienten rücken ins Blickfeld, Gründungen von Tages- und Begegnungsstätten, gemeindepsychiatrischen Zentren, therapeutischen Wohngemeinschaften und Selbsthilfefirmen erweitern die Möglichkeiten einer angemessenen Unterstützung psychisch erkrankter Menschen in der Gemeinde.

Ein Teil der stationären Behandlung verlagert sich von den alten Landeskliniken an die psychiatrischen Abteilungen Allgemeiner Krankenhäuser, zahlreiche Betten werden abgebaut, die Aufenthaltsdauer sinkt erheblich, Kliniken wie Kloster Blankenburg und später Merzig werden tatsächlich aufgelöst. Was oft als Enthospitalisierung oder Deinstitutionalisierung bezeichnet wird, könnte man auch Wiederbeheimatung nennen, denn in Gütersloh und anderswo bemüht man sich darum, die ehemaligen Patienten wieder in ihren Herkunftsorten einzugliedern und dabei auf vertraute soziale Netze zurückzugreifen – wenn sie denn noch bestehen. In einigen anderen Kliniken hingegen werden die Langzeitstationen lediglich zu Wohnheimen umetikettiert. Deutlich aber ist in den 1970er und 1980er Jahren der kontinuierliche Ausbau der ambulanten Versorgung. Dies gilt vor allem in den Modellregionen, die nach der Psychiatrie-Enquete besonders gefördert und beforscht werden, um schlüssige Konzepte für die Gesamtversorgung zu gewinnen. Die Zahl der niedergelassenen Nervenärzte steigt, an psychiatrischen Krankenhäusern entstehen Tageskliniken und Institutsambulanzen, der Aufbau Sozialpsychiatrischer Dienste in allen Bundesländern (in unterschiedlichen Trägerschaften) ermöglicht neue Betreuungsstrukturen. Viele gemeinnützige Vereine und Initiativen engagieren sich in der Verbesserung der Bedingungen des Wohnens, der Arbeit und der Freizeit für psychisch Erkrankte. Auch die Angehörigen melden sich zu Wort, befreien sich von alten Schuldzuweisungen und tauschen in Angehörigengruppen ihre Erfahrungen aus.

Durch Schriften wie »Holocaust und Psychiatrie« (DGSP), »Der Krieg gegen die psychisch Kranken« (Dörner), »Auf dem Dienstweg« (Finzen) sowie durch Tagungen zum Thema »Psychiatrie und deutscher Faschismus« wird die Psychiatrie nun auch mit ihrer jüngeren Vergangenheit konfrontiert. Dabei wird deutlich, welche Schuld viele in der Psychiatrie Tätige während des Krieges und auch danach auf sich geladen haben, als sie sich hinter den Mauern der Anstalten versteckten, kein Wort über Ermordungen, Zwangssterilisationen und medizinische Versuche an den Patienten während der Nazizeit verloren und stattdessen über Jahrzehnte das Elend des psychiatrischen Alltags verwalteten.

Mit der Maueröffnung und der Vereinigung beider deutscher Staaten steht die Psychiatrie in Ost und West vor neuen Aufgaben: Der »Bericht zur Lage der Psychiatrie in der ehemaligen DDR«, erstellt von Experten beider Staaten, macht den Reformbedarf sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich deutlich. Zahlreiche Begegnungen und gemeinsame Tagungen sind nötig, um den Erfahrungsaustausch und den Dialog zu fördern. Selbsthilfevereine und Betroffenengruppen werden gegründet und entwickeln geeignete Betreuungsformen. Mancher hat in den Kliniken des Ostens den Eindruck von Zuständen »wie vor der Enquete«; andere sind überrascht, in den Anstaltskellern alte Kranken- bzw. Ermordungsakten aus der Nazi-Zeit, die dort noch völlig unbearbeitet lagern, zu finden. Die Schriften von Klaus Weise, Achim Thom, Sonja Schroeter und anderen tragen zur kritischen Reflexion der DDR-Psychiatrie bei, immer mehr gelingt es, gemeinsame Positionen für die zukünftige Begleitung psychisch erkrankter Menschen zu erarbeiten.

Einen entscheidenden Schub zur strukturellen und therapeutischen Veränderung erhält die Psychiatrie von den Psychiatrie-Erfahrenen. Sie klagen ihre