image1
Logo

Mensch – Zeit – Geschichte

 

Herausgegeben von Peter Steinbach, Julia Angster, Reinhold Weber

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Herausgeber:

Professor (em.) Dr. Steinbach lehrte bis 2013 Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Professorin Dr. Julia Angster hält dort den Lehrstuhl für Neuere Geschichte. Professor Dr. Reinhold Weber ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale Baden-Württemberg und Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.

Peter Steinbach

Claus Schenk Graf von Stauffenberg

Wagnis – Tat – Erinnerung

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022226-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029961-0

epub:    ISBN 978-3-17-029962-7

mobi:    ISBN 978-3-17-029963-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

  1. 1 Einleitung: Mythos und Realität Stauffenbergs
  2. 2 Tat und Wirkung
  3. 3 Die Entstehung des Stauffenberg-Bildes nach 1945
  4. 4 Herkunft, Jugend und Bildung
  5. 5 Karriere in der deutschen Wehrmacht
  6. 6 Der entfesselte Krieg – militärische Erfolge Hitlers
  7. 7 Vorbereitung des Attentats
  8. 8 Der 20. Juli 1944
  9. 9 Das Ende
  10. 10 Zeittafel
  11. 11 Auswahlliteratur
  12. 11.1 Quellen
  13. 11.2 Literatur
  14. Zum Verfasser
  15. Abbildungsverzeichnis

1         Einleitung: Mythos und Realität Stauffenbergs

Seit den 1960er Jahren sind wichtige Untersuchungen über Claus Schenk Graf von Stauffenberg, seinen Bruder, aber auch über seine Schwägerin und den Kreis der Verschwörer erschienen. Dabei wurden nicht nur schriftliche Überlieferungen, sondern auch Zeugnisse seiner Zeitgenossen – seiner Freunde und Kameraden und von Menschen, die dem Attentäter mehr oder minder zufällig begegneten – gefunden und bearbeitet. Vor allem Peter Hoffmann ist es zu verdanken, wenn wir eine mir geradezu lückenlos erscheinende Auswertung mündlich überlieferter Nachrichten besitzen, die allerdings oftmals viel später formuliert wurden und deshalb immer auch spätere Einflüsse, Lesefrüchte und Auseinandersetzungen von Beteiligten mit der Geschichtsschreibung und der Tagespublizistik spiegelten. Dies ist nicht immer unproblematisch, weil nicht nur Erzähl- und Überlieferungsschichten ein Eigenleben entfalten, sondern vielfach auch bewusste Absichten einzelner Zeitzeugen, die sich gegen angebliche Verzerrungen oder gar Verunglimpfungen durch Nachgeborene wehren, die Überlieferung prägen. Besonders deutlich wird dies, wenn über das Verhältnis der Brüder Stauffenberg zu Stefan George berichtet wird. Denn sehr schnell wird deutlich, dass das Urteil auch von der Wertschätzung mancher Nachgeborenen abhängt, die sie dem Dichter entgegenbringen. Auch Bewertungen – etwa Kontroversen über die die Rolle der Wehrmacht im NS-Staat oder die Verurteilung des Weltkriegs als Rassen- und Weltanschauungskrieg – fließen ein, die nicht zuletzt auch die Traditionsbildung der Bundeswehr oder den Vergleich Stauffenbergs mit anderen Regimegegnern, etwa dem Schreiner und Hitlerattentäter Johann Georg Elser – spiegeln. Manche lehnen Stauffenberg ab, weil er zu spät gehandelt habe, manche unterstellen ihm, nur die soziale Stellung seiner „Kaste“ des adeligen Offiziers im Blick gehabt zu haben, manche entschuldigen das eigene persönliche Versagen, indem sie die Moralität und den Rigorismus bezweifeln, der den Attentäter für andere zum Vorbild, gar zum Helden macht.

Seitdem ich vor mehr als 30 Jahren zum Wissenschaftlichen Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand berufen und mit dem Aufbau einer Ausstellung betraut wurde, habe ich viele Erfahrungen mit schwankenden historischen Urteilen machen können – gerade im Hinblick auf den Umsturzversuch des 20. Juli 1944. Manche dieser Erfahrungen, auch Korrekturen von vorgefassten Meinungen, die ich feststellte und zuweilen geteilt hatte, prägen diesen biografischen Essay, der so Ausdruck meiner Annäherung an eine historische Persönlichkeit deutscher Geschichte ist. Im Laufe meiner Arbeit hat sich auch mein Bild von Stauffenberg verändert. Die erste Beschäftigung mit ihm erfolgte anlässlich des 20. Jahrestags des Attentats 1964. Die Deutsche Bundespost ehrte acht Widerstandskämpfer durch einen Briefmarkenblock, damals eine große Besonderheit und rasch ein begehrtes Objekt jugendlicher Sammler, die einem damals noch verbreiteten Hobby viel Zeit widmeten. Zum 100. Geburtstag Stauffenbergs erschien eine weitere Sonderbriefmarke und fügte sich in einen Reigen vieler Sondermarken ein, die an den Widerstand gegen Hitler erinnerten. 1954 wurde anlässlich des zehnten Todestages des Attentäters ein Denkmal im Innenhof des Berliner Bendlerblocks eingeweiht. Auch gibt es seit den 1960er Jahren zwei Stauffenberg-Gedenkstätten im deutschen Südwesten – in Stuttgart und im Geburtsort Stauffenbergs in Lautlingen. Damals hätte eine Vereidigung junger Rekruten am Jahrestag des Attentats Widerspruch hervorgerufen und zu heftigen Kontroversen geführt. Nicht so heute, es findet alljährlich am 20. Juli das Gelöbnis junger Rekruten statt, feierlich begangen und von wichtigen Reden begleitet.

Die Gefahr einer derartigen Gewichtung liegt allerdings in der wachsenden Entfernung von Ereignis und Beteiligten von unserer Zeit und damit in der Ritualisierung der Gedenkveranstaltungen, in der Formelhaftigkeit vieler Würdigungen einer eigentlich unvorstellbaren Entscheidung, mitten in der kriegerischen Auseinandersetzung die militärische Führung beseitigen zu wollen. Es galt den Krieg zu beenden und zugleich auch einen sichtbaren Beweis von einer politischen Moralität zu geben, die in die Zukunft ausstrahlte. Weil die Tat nicht nur den Mut, sondern auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Realität des NS-Staates und den von ihm veranlassten Verbrechen, schließlich die Empörung über das Unrecht und die Entscheidung zum Handeln voraussetzte, musste, unter Inkaufnahme aller Konsequenzen für die eigene Person, das eigene Leben und das Schicksal der Angehörigen gewagt werden.

Wer den Widerstand gegen den Nationalsozialismus würdigt, verherrlicht keinen Heroismus, sondern besinnt sich auf die Wurzeln und die Möglichkeit des stellvertretenden mitmenschlichen Handelns. „Und handeln sollst du so, als hinge von Dir und Deinem Tun allein das Schicksal ab der deutschen Dinge“, so rechtfertigte sich der Münchener Professor Kurt Huber, ein Mitglied der Weißen Rose. Stauffenberg argumentierte nicht auf diese Weise in Anlehnung an Kant und Fichte, sondern sah in Hitler eine Verkörperung des Bösen, den Widerchrist, ein böses Prinzip, das Stefan George in seiner Dichtung beschrieben und so als Möglichkeit der Realität den Brüdern Stauffenberg auf ihren Lebens- und Berufsweg mitgegeben hatte.

2         Tat und Wirkung

„Es ist unendlich viel leichter, in Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenster verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, in Gemeinschaft zu leiden als in Einsamkeit. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich und unter Ehren zu leiden als abseits und in Schanden.“

Mit diesen Sätzen stimmte Dietrich Bonhoeffer beim Jahreswechsel 1942/43 seine engsten Freunde auf Erfahrungen ein, die noch vor ihnen lagen und denen sie sich stellen mussten, weil ihre Entscheidung, den Nationalsozialismus und sein Regime zu bekämpfen, längst gefallen war. Wer sich entschlossen hatte, sich für das Ende des Nationalsozialismus einzusetzen, hatte eine unumkehrbare Entscheidung gefällt. Wer diese Sätze auf sich wirken lässt, wird auch viele Jahrzehnte später innerlich berührt sein – von der Konsequenz, der Selbstbeobachtung, dem sicheren Blick in die Zukunft.

Nachlebende tun sich leichter mit den Herausforderungen, die ihre Vorfahren zu bestehen hatten. Sie kennen den Ausgang der Geschichte, die für jene offen war, die sich gleichsam „ohne jegliche Deckung“ für die aktive Konspiration entschieden, die hingesehen, die Realität des Unrechtsregimes erkannt und sich empört hatten und schließlich in der Lage waren, zu handeln.

Im Rückblick aus mehr als 70 Jahren, die seit dem Anschlag vom 20. Juli 1944 vergangen sind, ist die Würdigung des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seiner Tat anscheinend sehr einfach geworden. Gedenkstätten, Gedenkvorlesungen und Filme machen deutlich, dass Stauffenberg zum Bezugspunkt des kollektiven zeitgeschichtlichen Erinnerns geworden ist. Alljährlich erinnert seit Jahrzehnten die zentrale Gedenkveranstaltung an der Sterbestelle von Stauffenberg und einiger seiner wichtigsten, unmittelbaren Mitverschwörer im Innenhof des Bendlerblocks an den Anschlag im ostpreußischen Führerhauptquartier, der dem Ziel, Hitler zu töten, so nahe gekommen war wie zuvor nur der Anschlag des Schreiners Johann Georg Elser auf den Versammlungskeller im Münchener Bürgerbräu am 8. November 1939. Diese Erinnerungen, Gedenkveranstaltungen, Sonderbriefmarken und Würdigungen lassen schnell vergessen, wie schwer sich die Deutschen mit der Würdigung dieser Tat und des Attentäters Stauffenberg über viele Jahrzehnte hinweg getan haben.

Zunächst bestimmte die NS-Propaganda das Bild der Deutschen vom Widerstand. Ehrgeizzerfressene Offiziere hätten versucht, ihn zu töten, hatte Hitler schon in den frühen Abendstunden in seiner ersten Rundfunkansprache verkünden lassen. Die meisten Deutschen machten, wie die Meldungen aus dem Reich bewiesen, in den folgenden Tagen aus ihrem Abscheu keinen Hehl, und der Sicherheitsdienst (SD) registrierte fleißig und geradezu triumphierend, wie sehr die Deutschen der „Vorsehung“ vertrauten, die Hitler vor dem Tod bewahrt habe. Stauffenberg wurde insgeheim nur von jenen bewundert und gerechtfertigt, die wussten, dass Deutschland allein durch eine Niederlage von der NS-Herrschaft befreit werden konnte. Die meisten Zeitgenossen aber sahen in dem Anschlag in der Tat nur den Versuch eines hohen Offiziers, in letzter Minute die eigene Haut zu retten. Und Skeptiker erinnerten sich an die „Dolchstoßlegende“, die das Klima in der Weimarer Republik vergiftet hatte, weil behauptet wurde, „Novemberverbrecher“ hätte das bis dahin unbesiegte deutsche Heer hinterrücks erdolcht. So hätten nun auch die Offiziere um Stauffenberg gehandelt und damit den gewünschten „Endsieg“ gefährdet.

Welcher Mut zur entscheidenden Tat gehörte, was Stauffenberg, mit dieser Tat riskierte – Herkunft, Familie, Leben –, wollten sie weder wissen noch würdigen, und nur zu gerne glaubten sie den Ausfällen nationalsozialistischer Propaganda gegen Adelige und Generalstabsoffiziere. Das Attentat sollte eine ganz andere Wirkung entfalten: Die Nationalsozialisten wollten endgültig die besondere Stellung des Adels, die er trotz der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsideologie behauptet hatte, beseitigen. An ihrer Stelle übernahmen hohe Funktionäre des NS-Staates das Ruder, die sogar ihre Machterstellung ausbauen konnten. So wurde Heinrich Himmler unmittelbar nach dem Anschlag zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt und verfügte daher über die Wehrmachtsverbände, die sich auf Reichsgebiet befanden.

Die Mitverschwörer Stauffenbergs luden überdies in den Verhören vor der Gestapo und der Sonderkommission des Sicherheitsdienstes einen großen Teil ihrer eigenen Verantwortung auf den bereits in der Nacht zum 21. Juli 1944 erschossenen Verschwörer ab, denn sie wussten, dass ihre Aussagen den längst Ermordeten und deshalb der Willkür der Gestapo entzogenen Attentäter nicht mehr gefährden konnte. So wurde Stauffenberg in vielen Untersuchungsberichten, die der Chef des Sicherheitsdienstes (SD) Ernst Kaltenbrunner anfertigte und in seinem Sinne beeinflusste, zur entscheidenden Antriebskraft eines Umsturzversuches, der bis in die letzten Kriegstage hinein Opfer forderte, da das Regime tatsächliche oder vermeintliche weitere Verschwörer bis in die letzten Kriegstage hinein verhaften, verurteilen und töten ließ.

Images

Die Gedenkplatte für die Männer des 20. Juli im Innenhof des Berliner Bendlerblocks.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wechselte die Perspektive der Deutschen. Nun wurde Stauffenberg nicht mehr offen als Verräter diffamiert, wurde seine Familie zunehmend weniger geächtet. Geachtet wurde der Attentäter freilich noch nicht. Vielmehr suchten Mitläufer – der damalige Bundespräsident Theodor Heuß sprach in seiner berühmten Rede anlässlich der Eröffnung eines der ersten Denkmäler zur Erinnerung an die NS-Zeit im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen Anfang der 1950er Jahre von den „moralisch Anspruchslosen“ – vor allem ihre eigene Passivität gegenüber dem NS-Regime und seiner verbrecherischeren Kriegsführung zu rechtfertigen, wenn sie Stauffenberg weniger das in ihren Augen „verräterische“ Attentat als vielmehr dessen angeblich dilettantische Ausführung anlasteten. Viel zu spät sei der Bombenanschlag erfolgt, nicht konsequent sei seine Ausführung gewesen, und an den deutschen Stammtisch zeigten die mehr oder minder Bezechten, wie man das Attentat hätte durchführen müssen. Respekt fand Stauffenberg nicht.

Die meisten Deutschen lehnten es sogar bis weit in die 1950er Jahre strikt ab, eine Schule oder eine Straße ihrer Gemeinde nach dem Attentäter zu benennen. Die auf diese Weise deutlich gewordene Verachtung lässt sich wohl nur tiefenpsychologisch erklären. Denn die immer drängender gestellten Fragen der Nachwachsenden nach der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern, nach ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus, zur „Volksgemeinschaft“ und zu den Diffamierten wurden in der Regel so beantwortet, dass sich fast immer eine Entlastung, fast eine Rechtfertigung für die Angepassten und Mitläufer ergab, die durch ihr Verhalten vieles von dem ermöglicht hatten, wogegen sich Stauffenberg gestellt hatte.

Dennoch kam Stauffenbergs Tat und auch seine adelig-militärische Herkunft Mitte der 1950er Jahren vielen der Deutschen gelegen, die für die Bundesrepublik Deutschland erneut einen Platz in der Welt schaffen wollten und den Widerstand als Ausdruck eines anderen Deutschland deuteten. Der Hinweis auf den militärischen Widerstand wurde mit einem Anspruch auf Rückkehr in den Kreis der, wie man sagte, „zivilisierten Nationen“ verknüpft. Das Henning von Tresckow, einem der wichtigen Mitverschwörer, zugeschriebene Wort von dem „einen Gerechten“, dessen Existenz Deutschland vor dem Verderben bewahren sollte, wurde oft zitiert.1 Nicht selten wurde seitdem in Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an das Attentat und die Verschwörer immer häufiger der Eindruck erweckt, als sei das Deutsche Reich das erste von den Nationalsozialisten besetzte Land gewesen – gleichsam mit Stauffenberg und seinen engsten Freunden als Freiheitskämpfern.

Die beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches, die 1949 gegründeten BRD und DDR, und damit des NS-Staates versuchten zehn Jahre nach der Niederlage der Wehrmacht einen Teil ihrer Geschichtsidentität aus dem Widerstand zu begründen. In der DDR sah die Führung die Sache sehr einfach: In entscheidendem Maße sei der Widerstand von den Kommunisten angeleitet worden, und die Moskauer Kommunisten seien die führende Kraft des Gesamtwiderstands gewesen.2 Hüben las sich das anders: Die Regimegegner hätten sich der „Vollmacht des Gewissens“3 gebeugt, das vor allem die Menschenwürde zum Maßstab gemacht hätte.

Wie konnte man in einer solchen Situation Motive und Handlungen Stauffenbergs deuten? Seine Herkunft und seine Funktion konnte man nicht verändern, vielleicht aber seine innere Überzeugung ein wenig korrigieren. Der Potsdamer Historiker Kurt Finker4 deutete Stauffenberg als Attentäter, der zumindest Kontakt zu den Kommunisten gesucht und angeblich bewusst eine programmatische Nähe zu den Zielen des kommunistischen Widerstands bewiesen habe. Diese Deutung lässt sich nicht belegen, ihr wurde mit überzeugenden Argumenten rasch widersprochen. Stauffenberg wurde nun zunehmend als ein Regimegegner gezeichnet, der entschieden antikommunistisch war. Vergessen wurde, dass er das sozialdemokratische Mitglied des Kreisauer Kreises und für die Zeit nach dem Umsturz als Innenminister vorgesehenen Julius Leber ermutigt hatte, Kontakte zu kommunistischen Widerstandskämpfern zu suchen, denn dem Widerstand ohne Volk musste eine Massenbasis geschaffen werden, um Widerstand aus dem Volk und mit der Unterstützung der Bevölkerung erwachsen zu lassen. Deshalb waren Kontakte zu Gewerkschaftern, zu Vertretern der SPD und der alten KPD wichtig.

Dass die Bundeswehr Stauffenberg seit ihrer Gründung 1955 in ihr Traditionsverständnis aufgenommen hatte, ist verständlich, denn die vom Konzept des „Bürgers in Uniform“ geprägte Bundeswehr sollte in Zukunft keineswegs mehr durch die Pflicht zum unbedingten Gehorsam charakterisiert werden können. Ein Kamerad von Stauffenberg, Wolf Graf Baudissin, hatte für die Bundesrepublik dieses Konzept der Inneren Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform entwickelt und der Auseinandersetzung des Soldaten mit den ethischen Grundlagen des Soldatentums und den Grenzen des Gehorsams einen hohen pädagogischen Stellenwert zugeschrieben. Aber sicherlich schoss man in den Deutungen weit über das Ziel hinaus, als behauptet wurde, Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 hätten die freiheitlich-demokratische Grundordnung verwirklichen wollen.

So drohte einer seiner Bereitschaft zur Tat angemessenen Würdigung Stauffenbergs wieder Gefahr, denn flächige und geradezu als historisch-politisches Stereotyp instrumentalisierte Deutungen des Anschlags in der Rastenburger „Wolfsschanze“ provozierten seit den 1960er Jahren regelmäßig Widerspruch der Historiker. Sie deuteten die Gruppe der militärischen und bürgerlichen Regimegegner aus Wehrmacht und Verwaltung als Rückwärtsgewandte, die niemals die Demokratie und das parlamentarische System des Grundgesetzes, das sie zudem hätten voraussehen müssen, hätten verwirklichen wollen. Dagegen wurde eingewandt, Stauffenberg und seine Mitverschwörer müssten aus den Denkvorstellungen des Obrigkeitsstaates heraus verstanden werden. Sie hatten trotz der Bindung an den Staat und den persönlichen Eid auf Adolf Hitler ihren Weg in den Widerstand gesucht, zugleich aber bis in die letzten Wochen vor dem Attentat hinein noch in der Sicherung einer deutschen Hegemonialstellung in der Mitte Europas ein wichtiges Ziel ihrer Bestrebungen gesehen.5 Diese Kritik richtete sich gegen die Widerstandskämpfer Carl von Goerdeler und Ulrich von Hassell. Vor allem aber Stauffenberg wurde zum Objekt einer Kritik des bürgerlich-militärischen Widerstands und vielleicht sogar ein besonders prominentes Opfer vieler Deutscher, die sich von den Widerstandskämpfern im Umkreis des 20. Juli 1944 abwandten. Keine Veranstaltung einer Akademie, keine Schulstunde, keine Rundfunksendung, die nicht in den 1960er Jahren betont hätte: „Es gab nicht nur den 20. Juli.“ Bald schon aber musste betont werden: „Diesen 20. Juli gab es auch.“

Verstellt wurde in diesen kritischen Deutungen und Umdeutungen der Blick auf den Menschen Stauffenberg, auf seine Leistung, darauf, was es bedeutete, innerlich eine Position zu überwinden, die er partiell – vor allem in Fragen der Aufrüstung und der Außenpolitik – zunächst mit den Nationalsozialisten teilte und die ihn zunächst keineswegs zu einem geborenen Gegner der Nationalsozialisten gemacht hatten. Keinen Blick hatten viele der Nachgeborenen für die Stufen seiner Distanzierung von Zeitströmungen. Immer wieder war zu lesen, er hätte vor einer Hakenkreuzfahne salutiert, er sei ohne Zögern in den Krieg gezogen. Nicht müde wurden viele Kritiker, einen Brief Stauffenbergs an seine Frau zu zitieren, in dem er sich sehr kritisch über „polnische Lebensverhältnisse“ und die polnischen Juden geäußert hatte. Abstreiten sollte man die Bedeutung dieser Zeugnisse nicht, denn sie machen vor allem den Weg deutlich, den Stauffenberg vor der Entscheidung, den Anschlag zu wagen, zurückzulegen hatten. Das Gespür für die Dramatik, die gerade in der Überwindung individueller Verstrickungen verborgen liegt, war bei den meisten Publizisten, die sich über den Attentäter äußerten, nur schwach ausgeprägt. Dies entsprach einem verbreiteten Gefühl in der Gesellschaft. Denn viele der Nachlebenden, die den Rassen- und Weltanschauungskrieg schließlich als ein Verbrechen empfanden, weil eines seiner Kriegsziele stets die Ausrottung des europäischen Judentums war, suchten den „reinen Helden“, die Lichtgestalt. Sie verfehlten so die Wirklichkeit eines Lebens an der doppelten Front: von Bomben und Gestapo, von Kooperation und Konfrontation, von Gehorsam und Widerspruch.

Bekannte und Freunde Stauffenbergs betonten hingegen nicht selten ähnlich stereotyp seine Entschlossenheit und Selbstlosigkeit, seine Begeisterungsfähigkeit und Konsequenz. Er wurde zwar erst spät, 1943, zum Motor des Widerstands in Berlin. Aber nachdem er diese Funktion übernommen hatte, schreckte er niemals zurück, zögerte nicht, sondern suchte bewusst und mutig Verbindungen, drängte über den Kreis der Militärs, der Verwaltungsbeamten und Großbürger, vor allem auch des Adels hinaus, wollte die Basis des Widerstands vergrößern.

Faszinierend ist es bis heute zu sehen, wie immer mehr Menschen in seinen Bann gerieten. Stauffenberg war kein Bedenkenträger. Er suchte die Verantwortung. Dass er scheiterte, lag nicht an ihm, sondern an seinen Kameraden in den Berliner Kommandos und in den Wehrkreisen, die sich in den Abendstunden plötzlich auf ihre Eidesbindung an Hitler besannen und Stauffenberg verrieten. Ein Erfolg seines Anschlags auf das Leben Hitlers hätte viele Menschen vor dem Tod bewahrt. Er wollte die Deutschen von Hitler befreien – danach hätten die Überlebenden ohne Zweifel um die Struktur und die Prägung Deutschlands gerungen.