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Für Pia

1

Lily trieb auf einem Floß aus Schmerz. Panische Angst veranlasste sie, sich daran festzuklammern. Wenn sie hinunterfiel, würde sie in der erstickenden Dunkelheit ertrinken, die wie ein Ozean unter der funkelnden Oberfläche des Lebens lauerte. Sie hätte nur zu gern losgelassen, aber ihre Furcht ließ es nicht zu. Wenn die Schmerzen unerträglich wurden, wäre das vielleicht das Ende der Angst. Dann konnte sie sich in das gedämpfte Wasser des Todes hinabsinken lassen.

Aber die Angst nahm kein Ende. Und Lily wusste, dass sie nicht loslassen konnte. Sie war eine Hexe. Hexen sterben nicht stumm in der kalten Stille des Wassers. Hexen sterben schreiend im lärmenden Schlund des Feuers.

»Mach die Augen auf«, flehte Rowan verzweifelt. Lily kämpfte sich zurück zum Klang seiner Stimme und zwang sich zu tun, worum er sie bat. Sein rußverschmiertes Gesicht lächelte auf sie herab. »Da bist du ja«, wisperte er.

Sie versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber ihre Haut war zu stramm und zu wund und ihr Gesicht bewegte sich nicht. Das Einzige, was sie schmeckte, war Blut.

»Kennst du diese Gegend?«, fragte er und sah sich besorgt um. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Er hob sie ein wenig an, damit sie sich umsehen konnte.

Es war dunkel. Lily spürte Asphalt unter ihrer Hand und erkannte, dass sie auf einer Straße lagen. Etwas klimperte, als sie sich bewegte. Die Fesseln und Ketten vom Scheiterhaufen hingen noch an ihren Handgelenken und beschwerten ihre Arme. Sie konzentrierte sich und sah die Straße hinunter. Es schneite. Die wenigen Laternen standen in weiten Abständen. Beiderseits der Landstraße lagen Wälder, aber nicht diese unglaublich dichten, alten Wälder aus Rowans Welt. Dies waren junge Wälder. Ihre Wälder.

Die gewundene Straße und die hügelige Landschaft wirkten vertraut. Lily kannte diese Gegend. Sie waren zwei Ortschaften von Salem entfernt, in Wenham. Ihr war nicht klar gewesen, dass ihr Scheiterhaufen so weit von den Stadtmauern von Salem entfernt errichtet worden war. Das Schlachtfeld im anderen Salem musste gigantisch gewesen sein und sie hatte es mit Blut getränkt.

»Ich glaube, wir sind auf der Topsfield Road«, krächzte Lily. »Ein Stück vor uns liegt eine Farm.«

»Eine Farm?«, sagte Rowan und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Wald. Lichter blitzten auf und Rowans Kopf fuhr herum.

»Auto«, keuchte Lily, deren Stimme versagte. »Müssen von der Straße runter.«

»Du hast schlimme Verbrennungen«, widersprach Rowan zögernd.

»Müssen weg. Werden sonst überfahren.«

Nur widerstrebend wollte Rowan sie hochheben, doch Lily schrie schon los, bevor er sie richtig in den Armen hatte. Es fühlte sich an, als zöge er ihr die Haut ab.

Das Schmerzfloß trieb auf einen Wellenberg und nahm Lily mit sich. Für einen kurzen Augenblick war ihr Geist vom Körper getrennt. Die Scheinwerfer kamen näher und blendeten sie. Reifen quietschten. Autotüren wurden zugeschlagen. Während sie auf ihrem Floß davonfuhr, hörte sie eine vertraute Stimme.

»Geh und hilf ihm, Juliet«, befahl die Stimme. »Vorsicht! Sie ist ganz verbrannt.«

»Mom?«, wisperte Lily und versank wieder in der nassen Dunkelheit.

 

Juliet betrachtete das schwer verletzte Mädchen, das dort mitten auf der Straße lag. Sie konnte nicht fassen, dass dies wirklich ihre kleine Schwester sein sollte. Dieses Mädchen war am ganzen Körper verbrannt und blutig, aber die gequälte Stimme war unverkennbar. Das war Lily.

Ein total aufgelöst wirkender junger Mann beugte sich über sie. Jemanden wie ihn hatte Juliet noch nie gesehen. Seine Hände und Unterarme waren ebenfalls verbrannt, der Rest seines Körpers war jedoch in Leder gehüllt – blutgetränktes Leder. Juliet wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, dass es nicht sein eigenes Blut war. An einem Gurt am Rücken trug er zwei kurze, blutverschmierte Schwerter, und seine rußigen Hände wirkten, als wüsste er damit umzugehen. An seinem Gürtel hing ein ganzes Sortiment silberner Dolche, die mit einem Riemen am Oberschenkel befestigt waren. Er hatte etwas Gefährliches, Unbezähmbares an sich.

»Mach schon, Juliet!«, befahl Samantha. Es war die Stimme ihrer Mutter, die zum ersten Mal seit langer Zeit vollkommen ruhig und vernünftig klang, die Juliet aus ihrer Erstarrung riss. Sie trat näher, hockte sich neben den Fremden und bemerkte erst da etwas Silbernes an den Handgelenken ihrer Schwester.

»Wieso trägt Lily Ketten?«, fragte sie empört, aber dennoch leise, damit er nicht merkte, wie sehr ihre Stimme zitterte. Als sie hochblickte, um in die Augen des Fremden zu sehen, fiel ihr Blick auf etwas an seinem Hals. Es war ein großer Edelstein, der ein pulsierendes, dunkles Licht zu verströmen schien – falls es so etwas wie dunkles Licht gab. Sie blinzelte und wandte den Blick ab. Dieses merkwürdige Juwel wirkte verstörend, übte zugleich aber auch eine unerklärliche Anziehungskraft auf sie aus.

»Samantha, kennst du mich?«, fragte der seltsame Fremde. Juliet war starr vor Angst. Wer war dieser Kerl?

»Woher weißt du den Namen meiner Mutter?«, fragte sie.

»Ja, ich kenne dich, Rowan«, antwortete Samantha und erstickte Juliets Frage mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Was sollen wir tun?«

»Wir müssen sie zu einem Feuer bringen, damit ich mit ihrer Heilung beginnen kann«, sagte Rowan. Er schob erneut die Arme unter Lily und sie stöhnte vor Schmerzen.

»Was? Wir müssen den Notruf wählen und einen Rettungswagen kommen lassen!«, schrie Juliet. Sie streckte die Hand aus, um Rowan daran zu hindern, dass er Lily bewegte. »Du tust ihr weh!«

»Das weiß ich!«, brüllte er verzweifelt. »Aber wir müssen sie wegbringen. Hier kann ich sie nicht heilen.«

»Mom!«, kreischte Juliet. »Nach allem, was wir wissen, könnte er ihr das angetan haben.«

»Das hat er nicht. Hör auf ihn, Juliet. Er ist der Einzige, der ihr noch helfen kann«, widersprach Samantha energisch.

Juliet suchte im Gesicht ihrer Mutter nach einem Beweis dafür, dass sie endgültig verrückt geworden war, aber alles, was sie sah, war kalte, harte Vernunft – etwas, das Juliet bei ihrer Mutter schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Samantha wusste genau, was los war – ganz im Gegensatz zu Juliet –, und es war Samantha gewesen, die gewusst hatte, wo sie Lily finden würden, und die Juliet gezwungen hatte, mitten in der Nacht diese Landstraße abzufahren. Juliet konnte nicht begreifen, woher ihre Mutter wissen konnte, wo Lily drei Monate nach ihrem Verschwinden auftauchen würde, aber jetzt war es viel wichtiger, Lilys Leben zu retten. Und es sah schlecht aus. Juliet hatte in Krankenhäusern als Pflegerin gearbeitet und war ausgebildete Sanitäterin. Jetzt studierte sie an der Uni Boston Medizin und hatte schon genug gesehen, um zu erkennen, wenn jemand im Sterben lag. Auch wenn sie fast tonlos wiederholte, dass ihre Schwester in die Notaufnahme gehörte, war ihr doch bewusst, dass es keinen Unterschied mehr machte. Ihre kleine Schwester würde sterben, selbst wenn sie es noch bis auf die Intensivstation schaffte.

Rowan hielt Lily auf dem Rücksitz auf seinem Schoß, während Juliet so schnell durch das Schneetreiben fuhr, wie sie gerade noch riskieren konnte. Sie umklammerte das Lenkrad so fest, als wollte sie es auswringen, doch das sollte nur dafür sorgen, dass ihre Hände nicht zu sehr zitterten. Ihre Schwester, die vermisst und für tot gehalten worden war, war wieder da. Und jetzt starb sie auf dem Rücksitz von Juliets Auto.

Ihr Blick huschte immer wieder zum Innenspiegel. Sie beobachtete diesen Rowan-Typen, der Lily auf dem Schoß hatte und sie zu beruhigen versuchte. Er sprach leise auf sie ein, um sie bei Bewusstsein zu halten, und sagte alles, was ihm in den Sinn kam – unglaubliche Dinge, wie etwa, dass Lily es nicht wagen sollte, ihn allein zu lassen. Wie sehr er sie brauchte. Wie verloren er ohne sie wäre. Aber Juliets Misstrauen war nicht so leicht zu besänftigen wie das ihrer Mutter. Lily war vor drei Monaten entführt worden, und Rowan musste etwas damit zu tun haben, auch wenn er sie jetzt so liebevoll in den Armen hielt und auf sie einsprach.

Als sie zu Hause ankamen, war Lily im Delirium und summte in einer Art Flüster-Singsang vor sich hin, als müsste sie ein Kind in den Schlaf singen. Rowan trug sie hinein und legte sie vor den offenen Kamin.

»Füll einen Kessel mit Wasser und bring ihn mir«, befahl er, während er seine Waffen losband und die Messer rund um Lily herum auf den Boden legte. Juliet starrte ihn fassungslos an. »Juliet, beweg dich!«, fuhr er sie an.

Hektisch begann Juliet, die Küchenschränke zu durchsuchen, obwohl sie ziemlich sicher war, dass ihnen die Kessel gerade ausgegangen waren. Schließlich nahm sie den größten Suppentopf ihrer Mutter und füllte ihn, während Rowan Samantha die anderen Dinge aufzählte, die sie brauchten. Es waren überwiegend Kräuter. Juliet schleppte den Riesentopf ins Wohnzimmer, wo Rowan bereits ein kleines Feuer im Kamin entzündet hatte. Er betrachtete den Topf wenig begeistert.

»Das ist alles, was wir haben«, verteidigte sich Juliet mit einem Schulterzucken.

»Dann müssen wir ihn nehmen. Stell ihn aufs Feuer und öffne alle Fenster«, wies er sie an und streifte sich das blutgetränkte Hemd über den Kopf.

»Das ist doch Irrsinn«, murrte Juliet, tat aber trotzdem, was er gesagt hatte. Als sie das letzte Fenster aufstieß, bemerkte Juliet ein merkwürdig pulsierendes Licht im Zimmer, das sich auszubreiten schien wie eine Luftblase, und sie drehte sich zur Quelle dieses Lichts um. Ihre Haut begann zu kribbeln, als es über sie hinwegströmte, und plötzlich waren alle Geräusche so gedämpft, als hätte ihr jemand Ohrstöpsel verpasst. Im Zentrum dieser Luft- oder vielmehr Lichtblase war Rowans merkwürdiges Amulett. Juliet entdeckte drei ähnliche Juwelen am Hals ihrer Schwester.

»Sie ist so schwach«, wisperte Rowan. Er kniete neben Lily und begann, die verkohlten Überreste ihrer Kleidung wegzuschneiden. »Samantha, verbrenn den Weihrauch und geh gegen den Uhrzeigersinn im Raum herum«, sagte er. »Juliet, reib du die Brandblasen mit dieser Salbe ein. Vielleicht hilft es.«

Rowan holte ein winziges Glas mit grünlicher Salbe aus einer Gürteltasche und drückte es Juliet in die Hand. Ohne jede Hoffnung hockte sie sich neben ihre Schwester und begann, das Zeug auf ihre Haut zu tupfen.

»Das wird sicher nicht –«, begann sie und verstummte. Sie sank zurück auf ihre Fersen. »Unglaublich«, hauchte sie. Wo Juliet die Salbe aufgetragen hatte, waren die Brandblasen ihrer Schwester verschwunden. Die verbrannte Haut heilte vor ihren Augen. Juliet starrte Rowan mit offenem Mund an.

»Bei den wirklich schweren Verbrennungen hilft es nicht, aber es nimmt ein wenig den Schmerz«, erklärte er.

»Aber wie hast du –?«

»Magie«, antwortete Rowan ganz selbstverständlich. »Wir müssen ein Zelt aufbauen. Lilys Lungen sind versengt und füllen sich mit Blut. Sie wird darin ertrinken, wenn wir nichts dagegen tun. Hast du ein großes Laken und eine Möglichkeit, es über ihr aufzuspannen?«

»Ja«, sagte Juliet und wankte aus dem Zimmer und zum Wäscheschrank, immer noch geschockt von dem, was sie gerade erlebt hatte. Keine Medizin wirkte so schnell. Brandwunden heilten nicht in wenigen Sekunden – wenn sie überhaupt heilten.

Juliet kam mit dem Bettlaken zurück und sah, wie sich Rowan über Lily beugte. Der Edelstein an seinem Hals verströmte jetzt dünne rötliche Lichtstrahlen, die über Lilys Gesicht tanzten. Einer dieser Strahlen kroch wie ein Tentakel in Lilys Hals und ließ sie keuchen und husten. Rowan drehte ihren Kopf zur Seite und Blut lief aus ihrem Mund. Juliet trat einen Schritt vor, um ihn aufzuhalten. Doch als er zu ihr aufsah, war er so blass und wirkte so angestrengt und verzweifelt, dass Juliet nichts sagte.

»Wirf das Tuch über uns. Der Dampf muss drinbleiben«, verlangte er schwach.

Juliets Arme zitterten vor Angst, und als sie in die Nähe von Rowans merkwürdiger dunkler Lichtblase kam, richteten sich die kleinen Härchen auf ihren Armen auf. Sie warf das Laken über sie drei und den Rand des mittlerweile dampfenden Topfs, während sich ihre Gedanken überschlugen. Juliet war eine rationale und vernünftige Person. Sie wusste, dass es so etwas wie Magie nicht gab – und doch erkannte sie tief in ihrem Innern, dass das, was sie gerade erlebt hatte, nicht anders zu erklären war.

»Magie«, murmelte Juliet, die nicht sicher war, ob sie nicht gerade den Verstand verlor.

»Ja«, bestätigte Rowan. »Ich muss das Blut aus ihrer Lunge herausbekommen, bevor ich das verletzte Gewebe heilen kann, aber wenn ich zu schnell vorgehe, könnte sie ersticken.« Plötzlich beugte er sich vor und hielt das Ohr dicht an Lilys Mund. »Was? Was sagst du?«, flüsterte er ihr zu.

»Wasser, Wasser überall …«, antwortete sie, und dann entspannten sich ihre halb offenen Augen und ihr Körper wurde schlaff.

»Lily? Lily!«, keuchte Juliet. Ihre Panik war nicht zu überhören.

»Sie ist nicht tot«, sagte Rowan. »Ihr Geist ist auf Wanderschaft gegangen. Wir können sie jetzt nicht mehr erreichen.«

Juliet konnte sehen, wie sich Lilys Lippen bewegten. »Mit wem redet sie?«

»Weiß ich nicht«, sagte Rowan. »Wer immer es ist, ich hoffe, er spendet ihr Trost.« Er setzte sich auf, holte tief Luft und sah Juliet mit seinen wilden Augen an. »Jetzt geht die Arbeit richtig los. Ich weiß, dass du eine Menge aushältst, und deshalb zähle ich auf dich, Juliet. Das wird weder leicht noch schön sein.«

»Mach dir um mich keine Sorgen«, versicherte ihm Juliet. Er sah sie an, als würde er sie kennen. Das wunderte Juliet, denn auch sie hatte das Gefühl, diesen jungen Mann zu kennen, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte. »Sag mir einfach, was ich tun soll.«

 

Lily erkannte ihre Schwester und ihre Mutter. Und Rowan. Und ihr Zuhause. Alles, was sie liebte, war nur Zentimeter entfernt, doch es driftete vorbei wie Habichte im Aufwind. Es verschwand, und alles, was zurückblieb, war Nebel.

Sie trieb auf einem nebligen Ozean dahin. Ihr Spiegelbild hockte ihr gegenüber. Lily und Lillian saßen in genau der gleichen Haltung da – die Beine angezogen, das Kinn auf den Knien, die Arme um die Schienbeine geschlungen. Lily sprach zuerst und Lillian antwortete. Hier auf dem Floß reichte Gedankenübertragung, um sich zu unterhalten.

»Wasser, Wasser überall

und das Schiff droht zu sinken.

Wasser, Wasser überall

und dennoch nichts zu trinken.«

Das passt, Lily. Ich habe solchen Durst.

Bist du auch verbrannt, Lillian?

Natürlich. Du und ich sitzen im selben Boot – oder auf demselben Floß, wie du es dir vorstellst. Der Scheiterhaufen gibt mehr, als er nimmt, aber er scheint jedes Mal mehr zu nehmen, als man ertragen kann.

Wo sind wir?

Ich nenne es den Nebel. Es ist weder hier noch dort, weder im Leben noch im Tod. Kannst du dich an den Rest des Gedichts erinnern, Lily?

Nein. Ich habe es gelesen, bevor ich einen Wunschstein hatte. Damals war mein Erinnerungsvermögen noch nicht so wie jetzt. So perfekt. Aber leider ist es das jetzt, dabei würde ich diese Erfahrung nur zu gern vergessen. Natürlich ist mir klar, dass das nicht passieren wird. Seitdem ich meine Wunschsteine habe, kann ich mich an jede Sekunde meines Lebens erinnern.

Ich habe meinen Wunschstein mit sechs Jahren bekommen und seitdem nichts mehr vergessen. Es gibt jedoch Dinge, die auch ich zu gern aus meinem Gedächtnis löschen würde. Aber das kann ich nicht.

Ich habe Rowan einmal dabei beobachtet, wie er ein altes Mathebuch studiert hat. Tristan hat mir erzählt, dass Rowan fast alles neu lernen musste, weil er seinen ersten Wunschstein zerschlagen und damit sämtliche Erinnerungen gelöscht hat. Ich frage mich, wie viele Erinnerungen er seinem ersten Wunschstein anvertraut hat, die jetzt für immer verschwunden sind.

Er hat Glück, dass sie gelöscht sind. Ich erinnere mich an jede Sekunde, die wir zusammen verbracht haben, und das ist eine Qual.

Ich will dich nicht bedauern, Lillian.

Dann lass es. Ich bitte dich nur, dir ein paar meiner Erinnerungen anzusehen. Wir sind beide ohne Bewusstsein und kaum noch am Leben. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, um quer durch alle Welten miteinander zu sprechen. Ich dachte, du würdest vielleicht gern mehr über mich erfahren. Und falls ich sterbe, fände ich es schön, wenn es wenigstens einen Menschen gäbe, der mich versteht.

Okay, Lillian, aber nur, weil ich auch gerade jemanden brauche. Schmerz ist einsam, nicht wahr?

Ist er, Lily. Ist er wirklich. Aber Angst ist noch einsamer.

Lily war nicht länger auf dem Floß. Aber auch nicht im eigenen Körper. Durch das Eintauchen in Lillians Gedanken war sie zu Lillian geworden. Sie erfuhr nicht einfach nur, was Lillian passiert war, sie erlebte es. Das Erste, was sie empfand, war blankes Entsetzen …

… Die Luft ist nicht richtig. Sie erstickt mich und brennt im Hals. Asche wirbelt herum, dick wie Schneeflocken. Bin ich in eine andere Welt gesprungen?

Ich habe Hauptmann Letos Männer angewiesen, den Scheiterhaufen weit von den Stadtmauern entfernt zu errichten. In der Welt, in die ich springen will, sind Stadtmauern unnötig, und von meinen Geistwanderungen mit dem Schamanen weiß ich, dass dieses andere Salem ganz anders ist als das, in dem ich lebe. Ich habe auch gelernt, dass ich beim Sprung von einer Welt in die nächste genau dort lande, wo ich abgesprungen bin – nur in einem anderen Universum –, und wenn ich zum Beispiel von der Mauerkrone oder dem Kamin in meinem Schlafzimmer in der Zitadelle springen würde, könnte ich in einem Möbelstück oder zwölf Meter über dem Boden landen. Der einzig sichere Platz für einen solchen Weltensprung ist der Erdboden und selbst das ist nicht ungefährlich. Man weiß nie, welche Gefahren auf einen lauern, wenn man den Weltenschaum durchquert.

Leto war nicht glücklich gewesen, den Scheiterhaufen so weit außerhalb von Salem errichten zu müssen. Er hatte sich um die Wirker gesorgt, aber ich konnte ihm schlecht sagen, dass es dort, wo ich hinging, keine Wirker gab. Ich wollte auch nicht zu viel versprechen, für den Fall, dass sich der Schamane geirrt hatte. Leto und seine Soldaten sind oben auf der Mauer stationiert. Aus dieser Höhe haben sie mehr Gräueltaten der Wirker gesehen als alle anderen Bewohner der dreizehn Städte und deshalb allen Grund, sie ausrotten zu wollen. Allen Grund, sie zu fürchten.

Ich setze mich auf. Unter mir sind keine Flammen mehr. Das bedeutet, ich habe den Scheiterhaufen hinter mir gelassen. Ich sehe mich um. Nur verbrannte Erde und verkohlte Bäume, soweit ich in der diesigen Luft sehen kann. Die Luft schmeckt nicht nur ätzend. Auf elementarer Ebene ist sie voller großer Partikel. Gefährlicher Partikel. Sie dringen in meine Zellen ein und zerstören sie.

Ich bin in der falschen Welt. Einer der Aschewelten. Ich wusste, dass es ein Risiko sein würde, ohne einen Leuchtturm zu springen, habe es aber dennoch getan. Rowan sagt, dass ich nie zuhöre, aber welche Wahl hatte ich denn?

Ich habe keine Zeit, in Panik zu geraten. Ich stehe auf und renne zu den Bäumen. Ich muss einen weiteren Scheiterhaufen errichten, um diese tote Welt zu verlassen. Doch als ich den ersten Baum berühre, zerfällt die Rinde unter meinen Fingern und rieselt zu Boden wie die trockenen Wände einer alten Sandburg. Beim nächsten Baum ist es genauso. Und beim übernächsten. Was hat das verursacht? Zerstören die großen Partikel, die ich auf der Elementarebene sehe, die Lebenshelix? Wenn ja, woher sind sie gekommen? Ich überlege, ob die Sonne womöglich das Weltall durchquert, diesen Planeten gestreift und alles Leben verbrannt hat.

Ich suche den Horizont nach Salem ab. Ich kann die Mauern sehen, aber sie haben die falsche Form. Etwas stimmt nicht mit meinen Augen. Ich kneife sie zusammen und versuche zu begreifen, was ich da vor mir habe. Niemand reißt gerade diese Mauern nieder – so, wie ich es in der Welt erlebt habe, in der es keine Wirker mehr gab und man die Mauer deswegen nicht mehr brauchte. Nein, diese Mauer hier ist kaum mehr als ein nutzloser Steinhaufen, und der Winkel, in dem die Steine liegen, lässt es aussehen, als wäre sie von einem schrecklichen Sturm umgeweht worden. Hinter der Mauer ragen keine Grüntürme in den Himmel und auch die Türme der Zitadelle sind nirgendwo zu sehen. Ich schaue genauer hin, aber sie sind einfach nicht da. Ich stolpere vorwärts und kann den Blick nicht von dieser Ruine abwenden, die einmal meine Stadt war. Es ist nichts übrig geblieben als Schutt und Asche. Kein Orkan, wie schlimm er auch sein mag, kann so etwas bewirken, und ich kenne auch keine Explosivstoffe, die stark genug sind, um solche Verwüstungen anzurichten.

Oder vielleicht doch – nein, das kann nicht sein. Wer wäre verrückt genug, Elementarenergie – die Energie der Sterne – als Waffe zu verwenden? Aber die Bruchstücke der Elemente, die alles Leben in dieser Welt vernichtet haben, sind echte Zellkiller. Sie sind das Produkt dieser Energie und nur auf diese Weise zu erzeugen. Wenn man nur seinen Geist auf Wanderschaft schickt, kann man diese Elementarbruchstücke nicht sehen, aber ich verstehe jetzt, was passiert sein muss. Diese Teilchen sind es, die für die verbrannten Welten verantwortlich sind. Sobald der ursprüngliche Feuersturm vorüber ist, vernichten sie in diesen Welten alles Leben. Ich hatte das nie verstanden, bis ich hierherkam und die Ursache mit meinen eigenen Hexenaugen sah.

Ich muss unverbranntes Holz finden, oder ich sitze hier fest, bis ich an Durst sterbe. Oder Schlimmeres. Ich könnte von jemandem entdeckt werden, der rücksichtslos genug ist, um an diesem Ort zu überleben, seit er vernichtet wurde, wann immer das gewesen sein mag. Je länger es her ist, desto tierischer werden die Überlebenden sein. Ich habe auf meinen Geistwanderungen schon einiges gesehen, obwohl mir der Schamane geraten hat, mich nicht in den Aschewelten aufzuhalten oder mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit ihnen geschehen ist. Ich habe erlebt, was die Überlebenden einander in den Jahren des niemals endenden Winters antun, der auf das große Feuer folgt.

Das reicht.

Hör auf zu weinen.

Reiß dich zusammen und such Brennstoff für deinen Scheiterhaufen, Lillian …

Lily wurde aus Lillians Erinnerung gestoßen, obwohl sie gern noch mehr gesehen hätte. Doch was als Nächstes passiert war, wollte Lillian entweder nicht mit Lily teilen, oder sie selbst wollte diese Erinnerung nicht noch einmal durchleben. Lily sah Lillian über das Floß hinweg an.

Was ist passiert, Lillian? Hast du in dieser verbrannten Welt noch genügend Brennstoff für einen Scheiterhaufen gefunden?

Die Antwort darauf läuft auf genau das hinaus, was mich für immer verändert hat. Du hältst mich für ein Monster, aber ich denke, wenn du siehst, was mich zu dieser Person gemacht hat, wirst du begreifen, dass meine Entscheidungen, auch wenn sie recht grausam wirken, gerechtfertigt sind. Die Frage ist nur, ob du wirklich daran interessiert bist, meine Motive zu verstehen.

Lilys Neugier war geweckt, ihr Misstrauen allerdings auch. Es hatte einen Grund, wieso Lillian ihr nur dieses Bruchstück einer Erinnerung gezeigt hatte, und die halbe Wahrheit konnte mehr Schaden anrichten als eine Lüge, das war Lily klar. Sie konnte nicht einfach Nein sagen. Lillians Geschichte zu hören, würde ihr außerdem helfen, auch etwas Wichtiges über sich selbst zu lernen. Immerhin waren sie die gleiche Person.

Ich weiß es ehrlich nicht, Lillian.

 

Juliet wandte das Gesicht ab und musste würgen.

»Ganz ruhig«, sagte Rowan halblaut. Er streckte den Arm aus, um Juliet zu stützen, zog ihn dann aber wieder zurück. Seine Hände waren voll von der verbrannten Haut, die er von Lilys Körper gezogen hatte. »Möchtest du kurz rausgehen und frische Luft schnappen?«, fragte er freundlich. Nicht dass die Luft draußen und die im Wohnzimmer sich irgendwie unterschieden hätten. Rowan hatte darauf bestanden, dass alle Fenster geöffnet wurden, und jetzt war es im Haus kälter als in einem Gefrierschrank.

»Nein«, sagte Juliet und schüttelte ihren Ekel ab. »Es geht schon.«

Rowan musterte sie, als wollte er ihre Entschlossenheit einschätzen. Er schien mehr Kraft in Juliet zu erkennen, als sie selbst es tat, denn er nickte kurz und beugte sich dann wieder über Lily.

Der Edelstein an seinem Hals verströmte weiterhin dieses geheimnisvoll pulsierende dunkle Licht. Er richtete einen feinen Strahl dieses Lichts unter eine kleine verkohlte Hautpartie, und da seine verbrannten Hände bandagiert waren, benutzte er das Licht, um Lilys Haut zu entfernen, und zwar so präzise, wie es kein Skalpell gekonnt hätte. Sie blutete sogar kaum.

Es war schon ein ganzer Tag vergangen, seit sie Lily nach Hause gebracht hatten, und Juliet hatte Rowan erstaunliche Dinge tun sehen. Dinge, die sie rational nicht erklären konnte. Ihr war jedoch klar, dass es diese Dinge waren, die Lily am Leben hielten.

»Sprüh die Tinktur hierhin«, wies er sie an.

Juliet besprühte Lilys frei liegende Muskeln und Sehnen mit dem antibiotischen und schmerzlindernden Gebräu, das sie am Morgen in Samanthas zweitbestem Topf hergestellt hatten.

»Gut«, murmelte Rowan, als Juliet die richtige Menge Tinktur aufgesprüht hatte, dann betrachtete er die grauenhaften Wunden an Lilys Körper. Er ging zum Feuer, über dem Samanthas bester Kochtopf hing, und holte mit der stumpfen Seite von einem seiner Silbermesser einen Streifen von etwas heraus, das aussah wie ein etwa sechs mal sechs Zentimeter großes Stück Gaze. Juliet war ziemlich sicher, dass Rowan eine solche Behandlung nicht zum ersten Mal durchführte.

»Ist das wirklich Lilys Haut?«, fragte sie. Jetzt war sie fasziniert und nicht länger angeekelt. Sie staunte, wie das quecksilberartige Licht seines Steins über die Ränder des Transplantats tanzte, als er die neue Haut unendlich vorsichtig über Lilys Knochen breitete.

»Ja«, murmelte Rowan und beantwortete damit Juliets Frage. »Es ist kein Problem, sie in einer Kultur zu züchten – nicht einmal unter den schlechtesten Bedingungen.« Rowan bedachte Samanthas Töpfe mit einem missmutigen Blick. Der geschmiedete Eisenkessel, den er verlangt hatte, war noch nicht da, und Juliet hatte sich geschlagene fünf Minuten seine Flucherei anhören müssen, bis sie dann doch vor ein paar Stunden damit begonnen hatten, neue Haut in einem von Samanthas »minderwertigen« Töpfen zu züchten. »Aber die Hautlappen sind nicht leicht aufzulegen«, fuhr er fort, immer noch in seine Arbeit vertieft. »Jede Zelle am Rand muss sich nahtlos mit der benachbarten verbinden, sonst bleibt eine Narbe.« Er lehnte sich zurück, um seine Arbeit zu begutachten, und lächelte.

»Und gibt das welche?«, fragte Juliet besorgt und sah auf seine verletzten Hände. »Narben, meine ich.«

Rowan bedachte Juliet mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass seine Hände zwar verbrannt und bandagiert waren, ihn das aber nicht im Mindesten in seiner Arbeit behinderte. Juliet hätte sich beinahe ein Lächeln gestattet. Er hatte etwas an sich, das trotz ihrer schlimmen Lage Vertrauen erweckte, doch sie riss sich zusammen.

Sie wusste nicht, was sie von Rowan halten sollte. Ja, sie begann, ihm zu vertrauen. Andererseits … wie konnte sie jemandem ernsthaft trauen, der ihr eine so verrückte Story darüber auftischte, wo Lily angeblich die letzten drei Monate gewesen war? Er behauptete, Lily hätte sich in einem Paralleluniversum aufgehalten und dass sie im Kampf gegen eine böse Hexe so verbrannt worden war. Juliet betrachtete mit wachsender Verwirrung die merkwürdigen drei Steine ihrer Schwester – Rowan nannte sie Wunschsteine. Diese Steine funkelten und leuchteten – fast so, als wären sie lebendig. Die Tatsache, dass sie sogar im Dunklen leuchteten, verriet Juliet, dass mit ihrer Schwester wirklich etwas passiert war, das nicht zu dieser Welt gehörte. Und Rowan benutzte eindeutig Zauberei, um Lilys Leben zu retten – etwas, das selbst die besten Ärzte nicht geschafft hätten. Doch es fiel Juliet trotzdem schwer, an so etwas wie Zauberei zu glauben.

Aber was Juliet eigentlich wissen musste, hatte nichts mit Zauberei oder Wunschsteinen zu tun. Sie musste wissen, ob Rowan die Schuld an dem trug, was mit Lily passiert war. Einige seiner Bemerkungen und die Tatsache, dass er sich geradezu besessen um Lily kümmerte, hatten in Juliet den Verdacht geweckt, dass Rowan zumindest dazu beigetragen hatte, dass Lily so schwer verbrannt worden war.

Rowan und Juliet arbeiteten die ganze Nacht durch. Rowan löste die verbrannte Haut ab und ersetzte sie durch neue. Juliet sprühte, tupfte und reichte Rowan alles, was er brauchte. Gegen Morgen konnte sie die Augen kaum noch offen halten.

»Du solltest schlafen«, sagte Rowan und richtete sich auf, um den letzten Hautflicken zu betrachten, den er gerade eingesetzt hatte.

»Das solltest du auch«, erwiderte Juliet mit einem Gähnen.

»Ich atme immer noch für sie«, sagte Rowan und betastete den Stein an seinem Hals. Juliet erkannte, dass das Licht des Steins im selben Takt pulsierte, in dem sich auch Lilys Brustkorb hob und senkte. Sie wusste zwar nicht, wie das möglich war, aber irgendwie versorgte Rowan Lilys Lunge mit Luft und holte sie in einem langen, stetigen Rhythmus wieder heraus.

»Bist du sicher?«, fragte sie. Sie hatte Rowan seit seiner Ankunft weder essen noch schlafen sehen.

»Ja. Ruh dich aus, Juliet.« Er sank neben Lily auf den Boden, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von ihr abzuwenden. Juliet hatte keine Ahnung, woher er die Kraft nahm, aber sie war zu müde, um noch lange mit ihm zu diskutieren, wer von ihnen den Schlaf nötiger brauchte.

»Weck mich, wenn es sein muss«, sagte sie schon halb schlafend. Zum Schutz vor der Eiseskälte zog sie einen Quilt über sich und streckte sich auf der Couch aus.

Sie schloss die Augen, doch als Rowan an ihrem Arm rüttelte, fühlte es sich zu ihrem Leidwesen an, als wären erst wenige Sekunden vergangen.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte er. Juliet setzte sich auf und versuchte, wach zu werden. Rowan sah schrecklich aus. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und seine Wangen hatten einen grünlichen Farbton angenommen. »Wir müssen sie verbinden, bevor deine Mutter runterkommt.«

Juliet folgte ihm zu Lily, und ihr wurde klar, was er meinte. Das Flickwerk aus Haut war rot und geschwollen. Lily sah aus wie ein Monster aus einem dieser Massakerfilme. Deshalb machten sie sich daran, sie einzuwickeln wie eine Mumie, bevor Samantha sie in diesem Zustand sehen konnte.

 

Während sie arbeiteten, hörte Juliet das Telefon klingeln und auch, wie ihre Mutter im Obergeschoss den Anruf entgegennahm. Im Laufe des Gesprächs wurde Samanthas Stimme immer hektischer. Kurz darauf kam sie zu ihnen ins Wohnzimmer, wo Rowan hastig eine letzte dünne Gazeschicht über Lilys Verletzungen legte.

»Das war euer Vater«, sagte Samantha. Sie lief ruhelos herum und rang die Hände. »Wir müssen es ihm sagen.«

»Ihm was sagen?«, fragte Juliet vorsichtig.

»Das mit deiner Schwester. Dass sie wieder da ist. Diese lästige FBI-Agentin lässt ihn nicht in Ruhe. Sie glaubt wirklich, dass euer Vater etwas mit Lilys Verschwinden zu tun hat.«

»Mom, das geht nicht«, sagte Juliet fassungslos. Sie zeigte auf das Wohnzimmer. Auf dem Boden standen überall Schüsseln mit blutigem Wasser und Eimer voll verbrannter Haut. »Das können wir niemandem zeigen.«

»Er macht sich Sorgen um sie, Juliet, und ich fühle mich schrecklich dabei, ihm vorzumachen, dass sie immer noch vermisst wird. Vielleicht sogar tot ist.« Samantha bedachte ihre Tochter mit einem dieser erschreckend vernünftigen Blicke. »Du weißt nicht, was es heißt, Kinder zu haben. Er liebt euch Mädchen, auch wenn er nicht gerade der väterliche Typ ist.«

Juliet warf Rowan einen Blick zu und sah, dass auch er dagegen war, ihren Vater zu informieren.

»Das ist durchaus verständlich, Samantha«, sagte er ruhig. »Aber im Moment sollte unsere Sorge nur Lily gelten und nicht James. Wenn er erfährt, dass sie am Leben ist, wird er sie sehen wollen, und sie ist zu schwach, um einen anderen Menschen zu verkraften und womöglich eine Infektion zu riskieren.«

Juliet schüttelte kaum merklich den Kopf, fragte aber nicht nach. Niemand hatte Rowan den Vornamen ihres Vaters verraten, aber sie wusste bereits, dass Rowan auf ihre Nachfrage hin nur sagen würde, dass er James aus dieser Parallelwelt kannte, aus der er angeblich kam.

»Du hast recht, Rowan. Natürlich hast du recht«, sagte Samantha. Sie legte Rowan eine Hand auf die Schulter, als wollte sie sich Kraft bei ihm holen. »Ich bin so froh, dass du hier bist.«

Wieder klingelte das Telefon. »Das ist bestimmt diese FBI-Agentin«, sagte Samantha. Plötzlich wirkte sie gehetzt und verwirrt. Der Augenblick der Klarheit war wieder vorbei.

»Mom wird damit nicht fertig«, wisperte Juliet.

»Ich weiß«, antwortete Rowan. Er sah genauso beunruhigt aus wie Juliet. Tatsächlich wirkte er aufrichtig besorgt, wie Juliet leicht irritiert feststellte.

»Wer bist du wirklich?«, fragte sie und sah ihn misstrauisch an.

Rowan seufzte. »Ich kann verstehen, dass du mir nicht glaubst.« Plötzlich lächelte er, als erinnerte er sich an etwas. »Als ich Lily zum ersten Mal sah, konnte ich es auch nicht glauben, zumal sie in meiner Welt eine Doppelgängerin hat, eine andere Version von sich, die Lillian heißt. Ich kenne Lillian schon mein ganzes Leben, und obwohl ich gespürt habe, dass Lily nicht Lillian ist, konnte ich es nicht begreifen. Und zwar eine ziemlich lange Zeit. Deswegen mache ich dir keinen Vorwurf, wenn du mir nicht glaubst. Ich bin sogar richtig froh, dass du mir hilfst, statt mich an eure Stadtwachen auszuliefern.«

Er klang so ehrlich. Juliet wollte ihm glauben, aber wie konnte sie? Samantha glaubte ihm bedingungslos, aber ihre Geisteskrankheit basierte ja auch auf der Wahnvorstellung von parallelen Welten. Genau genommen schien Samantha die meiste Zeit in einem parallelen Universum zu leben.

»Ich versuche, mir das alles auf rationale Weise zu erklären«, sagte Juliet und breitete die Arme aus, um die silbernen Messer, das Salz und den Essig und die merkwürdigen Symbole einzuschließen, die Rowan auf ein Stück schwarze Seide gemalt hatte. »Ich habe Zauberei gesehen und versuche immer noch, das zu begreifen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du etwas damit zu tun hast. Rowan – warst du es, der meine Schwester verbrannt hat?«

Rowan senkte unglücklich den Blick. »Ich hatte damit zu tun, ja. Ich habe sie auf dem Scheiterhaufen angekettet. Aber Juliet, du verstehst das nicht.«

Juliet wich vor ihm zurück, doch er packte ihren Arm und hielt sie fest. Bis zu diesem Augenblick hatte sie keine Angst vor Rowan gehabt, aber jetzt, wo die Angst aufgeflammt war, stellte sie erschrocken fest, wie stark er war und wie schnell er sich bewegen konnte. Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen.

»Was war es? Irgendein Satanskult?«, fragte sie atemlos. Zu ihrer Verblüffung fing er an zu lachen und ließ sofort ihren Arm los.

»Magie hat nichts mit solchem Blödsinn zu tun. Es geht um Macht, und durch das Feuer gewinnt deine Schwester ihre Macht. Ich habe Lily verbrannt, weil sie mich darum gebeten hat«, sagte er.

Juliet starrte ihn an und versuchte, in seinen Augen einen Hinweis darauf zu entdecken, dass er log. Doch es gelang ihr nicht. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Rowan.« Plötzlich lächelte sie, die Anspannung und die Angst waren verflogen und sie schüttelte den Kopf. »Manchmal kommt es mir vor, als würde ich dich kennen.«

»Es gibt eine Version von dir, die mich kennt«, sagte er und kehrte an Lilys Seite zurück, während sie mit der Vorstellung klarkommen musste, dass es irgendwo da draußen noch andere Juliets gab.

 

Lily roch Schnee und Zedernrauch. Scheite knackten im Feuer. Sie schlug die Augen auf und stellte fest, dass sie auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers in Salem, Massachusetts, lag. Alle Fenster standen weit offen und im Kamin brannte ein Feuer. Rowan hockte vor einem riesigen schmiedeeisernen Kessel, der über den Flammen hing. Der Ruß und das Blut, die ihn bedeckt hatten, waren abgewaschen – Ruß und Blut vom Kampf gegen Lillian, wie sich Lily erinnerte. Sie hoffte nur, dass sich ihre Kämpfer in Sicherheit gebracht hatten und dass Alaric, Tristan und Caleb mit den Wissenschaftlern entkommen waren.

Sie atmete tief ein und wieder aus. Dampfwolken quollen aus ihrem Mund. Die Temperatur im Zimmer lag unter dem Gefrierpunkt. Das Geräusch ließ Rowan herumfahren, und als er merkte, dass sie wach war, rutschte er über den Boden zu ihr. Sie streckte ihm die Hand entgegen und sah, dass seine Hände und Arme bandagiert waren. Unter ihr lag ein quadratisches Stück schwarzer Seide und in Salz gezeichnete Symbole umgaben sie. Die silbernen Messer waren zu einem Muster angeordnet und ihre Klingen funkelten im Schein des Feuers.

Nein, beweg dich nicht! Deine Haut ist noch zu empfindlich, sagte Rowan in ihrem Kopf.

Er trug einen dicken Wollpullover gegen die Kälte. Aus den Ärmeln und dem Rollkragen ragten Bandagen heraus. Lily konnte sehen, dass sich die Verbände an den Händen durch das austretende wässrige Blut bereits rosa verfärbt hatten.

Du bist verletzt …

Es geht mir schon besser. Genau wie dir. Ruh dich aus, Lily.

Lily machte die Augen zu und ließ sie geschlossen. Vielleicht war es nur eine Sekunde, vielleicht aber auch eine Ewigkeit, die sie auf ihrem Floß aus Schmerz dahintrieb. Sie hörte Diskussionen über sich hinwegwehen wie Wolken. Immer wieder gesellte sich Lillian zu ihr aufs Floß – aber nur, wenn Rowan gerade nicht an ihrer Seite war. Lily spürte, wie Lillian darauf lauerte, dass Rowan sich entfernte, um dann durch den Nebel näher zu kommen und um Zuflucht auf dem Floß zu bitten. Lily ließ sie gewähren. Sie brauchte jemanden, der ihr in der Dunkelheit Gesellschaft leistete.

Die Zeit verging. Der Schmerz begann an den Rändern zu jucken. Lily hörte die Stimme ihres Vaters. Vorwurfsvoll. Ungeduldig. Und dann die Stimme ihrer Mutter. Flehend. Verzweifelt.

»James, ich habe es dir gesagt, weil ich finde, dass du das Recht hast, zu erfahren, dass deine Tochter am Leben ist«, sagte Samantha mit zittriger Stimme, »aber ich habe dir nur unter der Bedingung erlaubt, herzukommen und sie zu sehen, dass du mich weiterhin für sie sorgen lässt. So, wie ich es für angemessen halte.«

»Du hast mir erlaubt, herzukommen und sie zu sehen?«, empörte sich James. »Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden? Ich bin zwar nicht oft hier, aber dieses Haus gehört immer noch mir, und ich habe jedes Recht, meine Tochter zu sehen – die drei Monate lang vermisst wurde –, ob ich nun auf deine irrsinnigen Bedingungen eingehe oder nicht!« Er gab einen erstickten Laut von sich, als er um Lilys ausgestreckten Körper herumging. »Seit ihrem Verschwinden bin ich von der Polizei und dem FBI verhört worden, Samantha. Das wurden wir alle. Wenn sie jetzt auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers stirbt, weil ich dich nicht dazu gezwungen habe, sie in ein Krankenhaus zu bringen, wird man uns wegen Totschlags anklagen. Das begreifst du doch, oder?«

»Hört auf zu streiten«, sagte Lily. Ihre Stimme war schwach und die Anstrengung des Sprechens fast zu viel. Sie hörte Rowan in ihrem Kopf.

Tut mir leid, Lily. Deine Mutter fand es grausam, deinen Vater im Dunkeln zu lassen. Aber er will dich in ein Krankenhaus bringen und das kann ich nicht zulassen. Die haben keine Ahnung, wie sie dich heilen sollen. Deine Mutter versteht das, aber dein Vater ist ein Problem.

»Du bringst sie sofort ins Krankenhaus und ich rufe heute Abend Spezialagentin Simms an. Ich gehe nicht ins Gefängnis, nur weil du übergeschnappt bist, Samantha«, verkündete James voller Entschiedenheit. »Und du, Juliet. Wie konntest du –«

Lass mich das machen, Rowan.

Lily setzte sich ruckartig auf und sah ihrem Vater ins Gesicht. Es war rot und die Zornesfalten hatten sich tief in seine Stirn gegraben. Doch als er merkte, was seine Tochter machte, verstummte er sofort. Lily hatte noch nie versucht, sich per Gedankenübertragung mit ihm zu verständigen, aber sie wusste, dass es klappen konnte, denn trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten war er immer noch ihr Vater.

Dad. Du mischst dich in Dinge ein, die du nicht verstehst. Hör auf, so zu tun, als hättest du hier das Kommando. Tu, was man dir sagt, oder verzieh dich.

Sein gerötetes Gesicht erbleichte und der Unterkiefer klappte herunter. »Hast du das gehört?«, fragte er Juliet.

»Hat sie nicht. Das ging nur an dich, Dad«, sagte Lily mit so dünner Stimme, dass sie zweimal brach, bevor sie diesen Satz herausgebracht hatte.

»Leg dich wieder hin, Lily«, flüsterte Rowan ihr eindringlich ins Ohr. »Deine Haut reißt. Du darfst dich nicht bewegen.«

Lily ignorierte ihn und starrte weiterhin ihren Vater an. Vor ihrem linken Auge verschwamm alles, und es begann zu brennen, als Blut hineinlief, aber sie verzog keine Miene. Lily wartete, bis sie überzeugt war, dass sich die Entschlossenheit ihres Vaters in Luft aufgelöst hatte, und sprach erst dann weiter.

»Wir werden das für uns behalten. Hast du das verstanden?«, wisperte sie. Ihr Vater nickte langsam. Er hatte panische Angst vor ihr. »Gut.«

Lily ließ sich von Rowan dabei helfen, sich wieder auszustrecken.

Das war ziemlich grob, Lily.

Hat es funktioniert?

Ja. Er ist gegangen. Das kann er gut.

Rowan lachte kurz auf und sein Atem wehte über ihre Schlüsselbeine. Seine Nähe zu spüren, hatte etwas Beruhigendes. Lily schloss die Augen und stieg wieder auf ihr Floß. Die Schmerzen trugen sie über das dunkle Wasser. Lillian saß ihr gegenüber.

Meine Version von James war auch nicht der Vater des Jahres.

War? Ist er tot, Lillian?

Nein. Er lebt in Richmond. Ich bezahle ihn gut, damit er da bleibt und sich aus der Politik heraushält.

Er ist kein schlechter Mensch. Er hat einfach nur –

Kein Rückgrat.

Stimmt. Ich wünschte, er wäre ein bisschen nützlicher.

Wenn es um Männer geht, haben wir hohe Ansprüche, Lily. Für uns beide ist Rowan das Maß der Dinge.

Du liebst ihn immer noch.

Natürlich.

Wieso hast du ihm dann so furchtbar wehgetan, Lillian? Wieso hast du Rowans Vater hängen lassen?

Willst du es wirklich wissen? Damit du es verstehst, muss ich dir mehr von meiner Geschichte zeigen, und die ist nicht schön. Es wird auch dir wehtun, Lily.

Ich will es wissen, auch wenn mir klar ist, dass du mir nur die Bilder zeigen wirst, die deine Taten rechtfertigen.

Ich zeige dir die Wahrheit, wie ich sie erfahren habe, damit du erkennst, wieso ich so handeln musste. Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich dir mein Leben so zeigen will, dass es die größte Wirkung auf dich hat. Im Endeffekt liegt es dann an dir, ob du meiner Meinung bist oder nicht.

Also gut, Lillian. Zeig mir die Wahrheit auf die Art, die du für richtig hältst.

Zuerst musst du mir aber etwas versprechen. Du musst alles verbergen, was ich dir zeige. Nicht zu meinem Schutz – um Rowan zu schützen.

Ich würde nie zulassen, dass etwas oder jemand Rowan schadet. Nicht einmal du oder ich. Aber das weißt du, nicht wahr, Lillian?

Natürlich.

Dann zeig es mir.

Du musst erst schwören, dass du es Rowan nie sehen lässt.

Das ist viel verlangt. Ich weiß nicht, ob ich etwas vor ihm geheim halten kann. Oder ob ich es will.

Hast du nie etwas vor ihm verborgen?

Doch, einmal. Als ich auf den Scheiterhaufen ging, um gegen dich zu kämpfen, hat er gefragt, ob ich das für ihn mache.

Und du hast es ihm nicht gesagt.

Er sollte nicht wissen, dass ich es nur für ihn getan habe, denn dann hätten seine Schuldgefühle ihn umgebracht.

Genau das verlange ich nun von dir – und zwar aus genau demselben Grund. Denk darüber nach und sag mir Bescheid, wenn du bereit bist.

 

Juliet hörte ein Klopfen an der Tür und überließ es Rowan, sich weiterhin mit dem Computer vertraut zu machen. Sie öffnete die Tür, obwohl sie bereits wusste, wer auf der anderen Seite stand und sich vor der Unterhaltung fürchtete, die sie nun führen musste.

»Hi, Tristan«, sagte sie resigniert.

»Wie lange wolltest du noch vor mir geheim halten, dass sie wieder da ist, Juliet?«, fragte er.

»Hör mal, Tristan –«, begann sie, doch er fiel ihr ins Wort.

»Musste ich von Agentin Simms erfahren, dass sie schon vor einer Woche wiederaufgetaucht ist? Einer Woche?«, fuhr er sie an. Juliet musste den Blick abwenden. Der arme Tristan hatte einiges durchstehen müssen, als Lily verschwand – wahrscheinlich mehr als jeder andere. »Wo ist sie?«, verlangte er zu wissen.

Tristan wollte sich ins Haus drängen, doch da tauchte Rowan an Juliets Schulter auf.

»Jetzt ist kein guter Augenblick, Tristan«, sagte er.

»Und wer zum Teufel bist du?«, fragte Tristan verblüfft und auch gereizt, weil Rowan seinen Namen so selbstverständlich gebraucht hatte. Als würde er ihn kennen.

»Mein Name ist Rowan Fall. Ich bin hier, um Lily beizustehen«, antwortete er gelassen.

»Ist das so?«, höhnte Tristan. Sein Tonfall war eindeutig sarkastisch und auch aus seiner Verachtung für Rowan machte er keinen Hehl.

Juliet empfand Mitgefühl für ihn. Nachdem James dem FBI gesagt hatte, dass Lily wieder da war, mussten sie sich eine plausible Geschichte ausdenken, wo sie gewesen war und wieso niemand sie besuchen durfte. Das Ganze war noch nicht ausgereift, aber zumindest hatten sie sich darauf geeinigt, dass sich Lily wegen ihrer Allergien einer radikalen Behandlung unterzogen hatte und aufgrund ihrer nach wie vor schlechten Verfassung noch keine Besucher empfangen konnte – nicht einmal Tristan oder die FBI-Agentin, die ein beunruhigend starkes Interesse an diesem Fall an den Tag legte.

»Das ist so«, bestätigte Rowan und wich keinen Millimeter zurück. »Sie meldet sich bei dir, wenn es ihr besser geht.«

Vollkommen unerwartet holte Tristan zu einem Schlag aus. Juliet schnappte erschrocken nach Luft, aber bevor sie oder Tristan wussten, wie ihnen geschah, hatte Rowan den Fausthieb abgeblockt und Tristan zur Tür hinausgedrängt.

»Das hilft niemandem, Tristan«, sagte Rowan. Er wirkte nicht überrascht. Juliet fragte sich wieder einmal, wer dieser Kerl war und welches Leben er wohl in dieser anderen Welt geführt hatte. Auf jeden Fall wusste er, wie man sich in einem Kampf behauptete.

Tristan sah Rowan fassungslos an und befreite sich aus dessen Griff. »Ich habe ein Recht, sie zu sehen«, fauchte er.

»Ja, das weiß ich«, antwortete Rowan und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Und wenn sie bereit ist, mit dir zu reden, wird sie sich melden.«

Tristan wich zurück, immer noch nicht sicher, was er von Rowan halten sollte. Seine Verwirrung und die Eifersucht waren nicht zu übersehen und Juliet konnte ihm deswegen keinen Vorwurf machen. Rowan sah nicht einfach nur gut aus, sondern geradezu umwerfend, und es musste Tristan so vorkommen, als würde er Lily ganz für sich allein beanspruchen. Zwar hatte Tristan nie wirkliches Interesse an Lily gezeigt, aber das hatte sich jetzt geändert. Um seine wahren Gefühle zu erkennen, gab es nichts Besseres, als ein Mädchen an einen anderen zu verlieren, vermutete Juliet.

»Sag ihr, dass sie mich anrufen soll, Jules«, verlangte Tristan, bevor er in sein Auto stieg und wegfuhr.

Rowan kam wieder herein und schloss die Haustür. »Das war nicht schön«, sagte er mit einem Seufzen. »Aber es war nicht anders zu erwarten.«

»Du kennst ihn, oder?«, fragte Juliet.

»Allerdings«, sagte Rowan und verdrehte die Augen. »Er ist einer meiner besten Freunde – eher so etwas wie ein Bruder. Er treibt die Dinge jedes Mal auf die Spitze.«

»Da hast du recht«, bestätigte Juliet mit einem Auflachen. »Mäßigung war noch nie seine Stärke.«

»Nein«, stimmte Rowan ihr zu. Er blieb einen Moment lang im Eingang stehen und betrachtete Juliet.

Sie merkte, dass er wissen wollte, ob sie ihm mittlerweile glaubte, doch er fragte nicht nach. Was auch gut war, denn Juliet wusste längst nicht mehr, was sie glauben sollte.

Er kehrte in die Küche zurück, setzte sich an den Laptop und winkte Juliet zu sich. »Erzähl mir mehr über diese Internetze«, verlangte er. »Kann man wirklich alle Informationen bekommen, die man braucht, nur indem man danach fragt?«

»Eigentlich schon«, sagte Juliet und setzte sich neben ihn. Sie hatte es satt, ständig seltene Kräuter und Minerale online für ihn zu bestellen, und er lernte schnell, obwohl er von Computern keine Ahnung hatte. Rowan war geradezu beängstigend intelligent, und Juliet wurde den Verdacht nicht los, dass es nur ein paar Tage dauern würde, bis er ihr etwas über Computer beibrachte.

»Das hört sich an wie Zauberei«, stellte er fest und sah wieder auf den Bildschirm.

2

Rowan saß in Lilys Zimmer am Schreibtisch und las etwas am Computer. Er trug immer noch denselben dunklen Pullover und eine warme Jogginghose. Seine schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab, was ihn nur noch anziehender aussehen ließ. Lily konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihn weiter ansehen sollte oder ob sie lieber seine Stimme hören wollte, auch wenn sie ihn dazu aus seiner Konzentration reißen musste.

Beinahe hätte sie ihn in Gedanken angesprochen, entschied sich aber dagegen. Er durfte nicht wissen, dass sie Kontakt zu Lillian hatte, und sie war noch nicht stark genug, um alle Gedanken an Lillian aus ihrem Kopf zu verbannen, wenn sie und Rowan auf dieser Ebene miteinander kommunizierten.

Es war nicht das erste Mal, dass Lily diese Art der Unterhaltung mit Rowan vermied, damit er nicht herausbekam, was sie dachte, doch dies war das erste Mal, dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Dieses Gefühl ließ sie nicht los, und es hinterließ einen schalen Geschmack, als hätte sie in etwas Verdorbenes gebissen.

»Was machst du da?«, fragte Lily. Weil sie so lange nicht mehr gesprochen hatte, klang ihre Stimme ganz rau.