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Mein Freund Charlie

Tanya Lieske ist Autorin und Literaturkritikerin. Sie schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene. Im Deutschlandfunk (Köln) moderiert sie die Literatursendung »Büchermarkt«. Bei Beltz & Gelberg erschien von ihr bereits das Kinderbuch Oma und die Miethaie. Tanya Lieske lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf,
ein zweiter Schreibtisch steht in Irland. Weitere Informationen: www.tanyalieske.de

Für Paula Peretti

Ein wahrer Freund ist wie ein zweites Ich.

frei nach Marcus Tullius Cicero

Am ersten Tag nach den Ferien sollten wir das, was wir in den Ferien erlebt hatten, aufschreiben.

Mit allen uns bekannten literarischen Stilmitteln arbeiten, das war die Aufgabe, die uns Frau Mironova gab. Alle waren skeptisch.

Ich auch.

»Das geht nicht.«

»Wieso nicht?« Frau Mironova schob sich ihre schwere Brille hoch und den Kaugummi in die andere Backe.

»Bei mir ist zu viel passiert.«

»Mehr als Blaubeeren sammeln und erste Küsse an der Ostsee?«

»Viel mehr.«

»Umso besser. Schreib’s auf.«

»Das schaff ich nicht bis morgen.«

»Lass dir Zeit.«

»Unser Computer ist kaputt.«

»Nimm ein Heft«, sagt Frau Mironova. Sie öffnete ihre Monstertasche, die wie ein Drache auf dem Pult lauerte, und brachte doch tatsächlich eines von ihren russischen Heften zum Vorschein. Sie war mal wieder bei ihren Freunden in Moskau gewesen und hatte sich eingedeckt. Kariert und ganz leer war das Heft. Ich hatte so gar keine Lust, das alles vollzuschreiben.

»Es wird ziemlich gefährlich … und kompliziert … es kommen echte Verbrecher darin vor.«

»Verbrecher?« Frau Mironova zog eine Augenbraue hoch. »Was verbrechen denn diese Verbrecher?«

»Sie brechen ein. Es sind Einbrecher … also Räuber.«

»Räuber? Wie bei Schiller?« Ich konnte sehen, dass Frau Mironova Feuer fing, ihre Fußspitze wippte. Von Schiller hatte ich schon gehört, denn der war ein Freund von Fjodor Dostojewski, und mit dem lag unsere Lehrerin uns in den Ohren, seit ich denken kann. Frau Mironova ist eine große Kennerin der russischen Literatur.

»Räuber in echten Höhlen?«

Sie ließ mal wieder nicht locker.

»Eher nein … Räuber leben nicht mehr in Höhlen. In Deutschland wohnen sie in Häusern. «

»Deutschland?« Frau Mironova ließ ihren Kaugummi platzen. Sie legte ihre Stirn in Falten. »Ich glaube, du schuldest deiner Klasse eine Geschichte.«

Ich seufzte. Frau Mironova war eine harte Gegnerin, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hat.

1

Wie wär’s denn so mit Deutschland?«, fragte Mahris eines Abends beiläufig. Er zerteilte die Pizza auf seinem Teller, schob sich das beste Stück mit der Salami an den Rand. Mahris hebt sich das Beste immer auf bis zum Schluss.

Unsere Küchenlampe tauchte die Küche in ein warmes Licht.

Mir war schon aufgefallen, dass Mahris dringend etwas loswerden musste. Er war ruhelos hin und her gelaufen und hatte die ganze Zeit seine Sandalen gesucht.

»Wieso Deutschland?«, fragte ich.

Mahris kaute vor sich hin. »Deutschland is’ gut. In Deutschland haben alle Arbeit und wir haben ja jetzt den Euro.« Er zeigte ein paar Scheine her, 5, 20, 50. Grün, Blau, Orange.

Es war unser letztes Geld, wie sich herausstellen sollte.

Dass wir nicht großartig in Urlaub fahren würden, war eh klar. Onkel Witold und sein tolles Chicago würden noch auf uns warten müssen. Oft füllte Mahris das Sparschwein, das auf dem Klavier stand, und noch öfter schlachtete er es. Aber wir hätten doch immerhin an der Ostsee zelten oder zu Maja nach Tukums fahren können. Das hätte ich sogar ohne Mahris gemacht, wenn er unbedingt den Sommer über arbeiten wollte.

Pustekuchen. Mahris hatte alles von langer Hand geplant. Unsere Reise stand längst fest. Schon am nächsten Tag räumten wir unsere Sachen in die Schränke, die unter der Wandschräge eingebaut waren. Alles passte prima, was auch daran lag, dass wir nicht so viel Zeugs haben. Mahris glaubt nicht an den großen Besitz. Er rollte seine Hängematte zusammen und steckte sie in seine Reisetasche. »Man weiß ja nie.« Dann kamen zwei Amerikaner mit dicken Sonnenbrillen unsere Treppe hochgestiefelt. Oh, how nice. Das war der Mann. Er schaute sich das Bild an von den Männern im Ringelbadeanzug, die eine Menschenpyramide machen. Es ist Mahris’ Lieblingsbild und deswegen hängt es groß über unserem Frühstückstisch. How bohemian, rief die Frau, was wohl heißen sollte, dass ihr unsere Dachwohnung besonders gut gefiel. Es stellte sich raus, dass sie diese für zwei Wochen gemietet hatten. Andere Leute würden nachkommen. Bis Ende August wären wir sowieso unterwegs, meinte Mahris und steckte die neuen Geldscheine zufrieden in seine Hosentaschen. Mahris ist kein großer Freund von Portemonnaies.

Es regnete einen lettischen Sommerregen, als wir hinter dem Zentralmarkt auf den Bus warteten. Schnell, viel, kübelweise. Mahris zog mich in die Zeppelinhalle. Es reichte noch für eine schnelle Zigarette (Mahris), dazu schwarzen Kaffee (Mahris) und für einen Strudel mit Kakao (Niks). »Ach, Italien«, seufzte Mahris und sah auf das Gemälde mit Krügen und Weinranken und verliebten Paaren, die sich zuprosten. Ieva hat es selbst aufgemalt, um ihrer Kafejnica ein südliches Flair zu verleihen. Mahris küsste Ieva auf die Wange, dann traten wir wieder ins Freie. Mahris wurde überall mit Handschlag verabschiedet. Die Marktleute lieben Mahris, weil er immer so hilfsbereit ist. Er stapelt die Paletten so schnell und so gründlich wie kein anderer. »Ardievas, Mahris un Niks« rief es von überall her. Die Blumenfrau schenkte uns Kornblumen.

Dann kam Ieva noch einmal hinter ihrem Tresen hervorgestürzt und küsste Mahris auf den Mund. Einfach so. Ich wusste wohl, dass Mahris sehr beliebt bei den Frauen ist. Ich wusste nicht, dass er beim Geküsstwerden rot wird.

2

Der Bus war von Ecolines, hatte eine Toilette und WLAN an Bord und sollte uns in knapp 30 Stunden bis nach Dortmund bringen. Fünf Stunden später tat mir der Hosenboden weh und ich wollte keinen weiteren James Bond mehr sehen. Dafür setzte mich Mahris jetzt ins Bild. In Deutschland würden fleißige Leute gesucht wie sonst nirgends und er mit seinen vielen Talenten (auf Fährschiffen servieren, auf Baustellen ganz gerade Gipskanten ziehen, auf Wochenmärkten Paletten stapeln) würde sicher schnell Arbeit finden. Dann wäre es im nächsten Winter, Mahris druckste ein bisschen rum, nicht so eng in unserer Haushaltskasse. Wer weiß, vielleicht könnten wir uns sogar einen Computer anschaffen.

Ein Computer! Das klang gut. Den Rest hielt ich für eine Schnapsidee und sagte das auch. »Aber du weißt doch, dass ich seit Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr trinke«, sagte Mahris treuherzig, und damit hatte er es wieder einmal geschafft.

Man kann Mahris einfach nicht lange böse sein.

Wir fuhren lange durch die Wälder nach Westen. In Weißrussland aßen wir eine Wurst und durften pinkeln. In Warschau war es stockduster, alle Warschauer lagen in ihren Betten. In Berlin hatte Mahris keine Lust mehr und wollte nicht mehr weiterfahren. Wir taumelten aus dem Bus, Pinkelpause Nummer fünf. »Es gibt hier bestimmt Letten, die uns weiterhelfen«, sagte Mahris. »Wir Letten sind wie Sand und Bäume. Überall vorhanden, überall zu Hause. Wir halten zusammen, wir Letten.«

Ich überredete Mahris, trotz der vielen Letten, die hier im Morgengrauen im Gebüsch auf uns warten würden, weiterzufahren bis Dortmund. Später bedankte er sich bei mir dafür. Mahris kann ein wenig sprunghaft sein, undankbar ist er nie.

Mahris ist mein Vater und wahrscheinlich ist er der verrückteste Vater in ganz Lettland. Seine Taschen sind immer vollgestopft mit Zeugs, von dem er meint, dass er es brauchen könnte. Eine Schnur, Bustickets, ein winziges Taschenmesser, mehrere Flummis. Und er kann Sachen, die sonst niemand kann (jedenfalls niemand, den ich kenne): auf den Händen laufen, Spielkarten in seinem Ärmel verschwinden lassen, einen Flummi auf seiner Nase balancieren, mit drei Bällen jonglieren.

Als ich klein war, hat er sich die tollsten Spiele ausgedacht. Mehrere Sommer lang haben wir Anschleichen geübt, im Kronwaldpark, im Wöhrmannschen Garten, sogar auf dem Deutschen Friedhof (da liegen die ganzen Generäle und Großgrundbesitzer, die in Lettland unterwegs waren).

Anschleichen ginge besonders gut, wenn man so leise wie eine Maus und so blättrig wie grünes Gebüsch würde, meinte Maris. »Du musst dir nur vorstellen, dass dich niemand sieht und niemand hört.« Dann sind wir immer über Stock und Stein gepirscht, haben uns an Spaziergänger angeschlichen und gewartet, bis sie uns doch gehört haben und sich erschrocken nach uns umgedreht haben.

»Macht nichts, wir üben weiter. Du bist ein Ozols und ein richtiger Ozols muss sich anschleichen können«, sagte Mahris dann immer. Den Zusammenhang zwischen dem Anschleichen und unserem Familiennamen fand ich etwas weit hergeholt. Halb Lettland ist wie wir nach Bäumen benannt, aber außer uns kenne ich niemanden, der besonderen Wert aufs Anschleichen legt.

Zwischen Berlin und Dortmund versuchte Mahris, mir alles noch einmal in Ruhe zu erklären. Ich konnte sehen, dass er ein schlechtes Gewissen hatte wegen unseres überstürzten Aufbruchs. Ich hätte doch sicher die vielen Männer und Frauen gesehen, die mit ihren verknautschten Tüten und Löchern in den Schuhen durch Riga liefen? Das war mir aufgefallen. Gerade eben noch, am Zentralmarkt, hatte ich Tütenleute gesehen. Schräg gegenüber der Bushaltestelle schlief einer regelmäßig. Schlafsack, Hund und Einkaufswagen. Die Haltestelle ist sein Zuhause.

»Du meinst Leute wie der Alte mit dem Hund?«

Mahris nickte.

»Nur, dass er nicht alt ist. Na ja, nicht viel älter als ich. Der Mann ist nicht sehr alt, sondern sehr arm. Armut macht Leute alt. Und das passiert schneller, als man denkt.« Mahris zögerte. »Weißt du, Niks, der Bausektor ist weggebrochen. Wegen der großen Krise.«

Das waren Mahris’ Worte. Bausektor – weggebrochen. Gemeint war, dass es auf den Baustellen seit der Bankenkrise nicht mehr so hoch herging wie früher. Am wenigsten wurden Leute gebraucht wie Mahris: Leute, die sich vor allem aufs Verzieren, Gipskanten-Ziehen, Schleifen und Schönmachen verstehen. »Wenn das Geld knapp wird, verzichten die Leute immer zuerst auf Schönheit. Deshalb fahren wir nach Deutschland. In Deutschland ist alles schön, denn in Deutschland boomt die Wirtschaft«, sagte Mahris. Es klang wie »Bumm«, und gerade wollte ich lachen, da schob er hinterher: »Wenn es richtig toll läuft in Deutschland, dann könnten wir auch länger dableiben. Für immer, zum Beispiel.«

Bumm.

Danach sagte eine Weile keiner von uns mehr irgendwas. Ich zählte die Chipskrümel auf dem Boden und versuchte, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Mahris gerade keinen Witz gemacht hatte. Hatte er nicht, denn seine Augen waren ganz ernst geblieben.

Am Nachmittag des nächsten Tages war ich so fertig und so müde vom Sitzen, dass ich mir selbst versprach, nie wieder in einen Bus zu steigen. Genau da kam Dortmund in Sicht. Wir fuhren in die Stadt und hielten neben dem Bahnhof, erst jetzt merkten wir, dass wir dringend was zu essen brauchten. Mahris schaffte es, uns in Zeichensprache zwei belegte Brötchen zu bestellen, die erstaunlich gut schmeckten, wenn man bedenkt, dass sie nicht aus Riga kamen, wo die besten Bäcker leben. Mahris zog sein Handy aus der Tasche und fing an zu telefonieren.

Dann kam ein grauer Skoda vorgefahren und lud uns ein. Wir brausten über die Autobahn, eine Landstraße, erreichten eine weitere Stadt, die nicht mehr Dortmund war. Eine Brücke, ein Fluss an dessen Ufern viele Menschen in der Sonne lagen. Breite Straßen, Alleen, schöne Häuser. Dann wurden die Straßen anders, enger und holpriger. Irgendwann hielten wir vor einem mehrstöckigen Haus. Satellitenschüsseln steckten an kleinen Balkonen wie Zahnstocher in einem Käse.

Wir stiegen aus. Der Mann, der uns gefahren hatte, blieb im Skoda sitzen und rauchte. Wir holten unsere Taschen aus dem Kofferraum. Der Fahrer streckte eine kleine faltige Hand aus dem Fenster. Eine Hand, in die Mahris mehrere ganz glatte Geldscheine legte. Der Mann gab ihm dafür einen Schlüssel, dann fuhr er, ohne ein weiteres Wort zu sagen, weg. Knatternder Auspuff.

Mahris zuckte mit den Achseln. »Netter Typ.«

Wenn Mahris nicht wirklich was Gutes über Leute zu sagen hat, dann sagt er immer, dass sie nett sind.

Wir sahen uns in der neuen Umgebung um. Vor uns auf dem Bürgersteig stritt sich eine Horde schwarzhaariger Kinder. Mahris wollte gerade zu ihnen gehen, den Streit schlichten, bis ihm wohl auffiel, dass er kein Wort von dem verstand, was sie sich an den Kopf warfen. Die Kids sprachen nämlich verschiedene Sprachen, persisch oder afghanisch oder marokkanisch, auch wenn ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste. »Tja«, sagte Mahris, kratzte sich am Kopf, ging zum Haus und stieß die Eingangstür auf.

Die Wände im Flur waren gefliest. »Nette Farbe«, murmelte Mahris, dem das Orange der Fliesen zu schaffen machte. Bei Mahris geht es anders zu als bei dem Rest der Menschheit – bei ihm stirbt alles Schöne zuletzt.

Im Flur roch es nach Seife und Knoblauch, und über allem flimmerte ein Neonlicht, obwohl es draußen noch hell war. Wir bugsierten gerade unsere Taschen in einen winzigen Aufzug, als ich den Jungen entdeckte.

Er saß auf der obersten Treppenstufe und rauchte. Er sah uns regungslos zu, wie wir uns mit unserem Gepäck abmühten, mit zwei dicken Reisetaschen, zwei kleineren Rucksäcken, einem Fußball und Mahris’ komischer Hutschachtel, die er nie aus den Händen gibt.

Scheißpolacke, zischte er mir zu, als ich an ihm vorbeiging. Der Junge sprach russisch.

»Russki, go home«, parierte ich. »Bin übrigens Lette.«

»Ach nee.«

»Ach doch.«

»Scheißlette.«

»Kackrusse.«

Wenn mir jetzt jemand gesagt hätte, dass da oben auf der Treppenstufe mein Freund Charlie saß, ich hätte demjenigen wohl einen Vogel gezeigt.

»Niks, komm mal «, rief Mahris von oben. Er hantierte mit den Taschen und brauchte meine Hilfe.

Die Tür zu unserer neuen Wohnung hatte mittendrin ein kleines Loch, mit dem ich zunächst nichts anfangen konnte, von dem ich später aber erfuhr, dass die Deutschen es Spion nennen. Man kann durch dieses Loch rausgucken, aber nicht rein. Die Person, die vor der Tür steht, sieht dann dick aus wie ein Pelmeni. Fragt mich heute einer nach dem Haus, in dem wir zu der Zeit wohnten, dann ist damit alles gesagt: Spion. Von innen auf einen anderen schauen, der außen steht, ohne selbst gesehen zu werden. Darum ging es in diesem Haus.

In der Tür klemmten Werbebriefe. Wir betraten einen engen Flur, fanden ein Zimmer mit einer Matratze darin und eine kleine Küche mit einem wackeligen Tisch und einem Gaskocher. Hinter einer weiteren Tür befanden sich ein Klo und ein Handwaschbecken. Es müffelte ziemlich übel. Und das war’s. Aus dem Fenster schaute ich in einen Innenhof mit Mülltonnen, Gebüsch und einer Teppichstange. Vor dem Küchenfenster verliefen Gleise. Die Scheiben klirrten, wenn eine Bahn vorbeifuhr.

Ich dachte an unsere Wohnung in der Stabu iela. Unsere Wohnung ganz oben, am Ende der knarrenden Holztreppe. Eigentlich ist es nur ein Zimmer, aber ein schönes großes mit fünf schrägen und sieben geraden Fenstern, über die schrägen spazieren morgens die Tauben. Im Sommer ist es wegen der vielen Fenster so hell, dass wir uns die Augen verbinden müssen, wenn wir zu Bett gehen, sonst bekommen wir nicht genug Schlaf. Im Winter stellen wir Flaschen mit Kerzen auf die Fensterbretter, sie spiegeln sich in den Fensterscheiben, und wir kommen uns dann vor, als würden wir in einem Palast leben.

»Geht schon klar«, murmelte Mahris jetzt. Er stellte unsere Taschen ab. Mahris ist ein Optimist. Das ist jemand, der immer das Beste erwartet. Vielleicht ist ein Optimist auch jemand, der, gerade weil er ständig das Beste erwartet, auch ständig das Beste bekommt. Und bislang war das auch immer so gewesen. Mahris erzählte mir immer gerne davon, wie viel Glück er in seinem Leben gehabt hatte. Glück mit der Wohnung, Glück mit seinen Freunden auf dem Markt, Glück mit mir. Das ist auch heute noch sein Lieblingssatz: »Mit meinem Niks habe ich großes Glück gehabt.«

Mahris hob zerstreut seine Hutschachtel hoch, stellte sie wieder hin, fuhr sich durch das Haar. Dann ging er in die Küche, fummelte an dem Gaskocher rum, bis eine Stichflamme hochschlug. Er packte unseren Reiseproviant aus, die Blinis von Maja. Eine Kerze mit dem Bild der Muttergottes hatte sie uns auch geschenkt. Auch wenn wir uns sonst manchmal zuzwinkern, wenn Maja mal wieder ständig für uns betet und uns segnet. Maja ist eine Russin und geht zur Alexander-Nevski-Kathedrale. Als ich klein war, bin ich oft mitgegangen. Daher weiß ich, dass in ihrer Kirche alle Gläubigen immer endlos beten. Sie beten vor ihren Ikonen, und die Heiligen darauf glänzen im Licht der Opferkerzen, was das Zeug hält.

Mahris zündete also die kleine Kerze an, wir machten uns über die Blinis her und spielten Karten. Es wurde gerade schön, Mahris war wie immer dabei zu verlieren, als wir laute Stimmen im Flur hörten. Es war ein Streit. Ein russischer Streit.

Es ging um irgendwelche Sachen, die in Sicherheit gebracht werden müssten. Von Anteilen war die Rede. Schmiere stehen hörte ich auch und verstand nicht, was damit gemeint war. Mahris und ich spitzten die Ohren. Wir sprechen beide russisch. Mahris noch von früher, weil Lettland mal von Russland besetzt war. Und ich, weil bei uns in Riga noch ziemlich viele Russen von früher übrig sind, Maja zum Beispiel. Und weil Maja auf mich aufgepasst hat, seit ich denken kann.

Mahris machte jetzt die Tür auf, schob sich halb raus. Er hat es nicht gerne, wenn Leute streiten. Also sagte er was mit seiner freundlichen Mahris-Stimme. Und wurde angeblafft, dass er sich um seine eigene Sch … kümmern sollte.

»Tja«, meinte Mahris. Er machte die Tür wieder zu und dann spülten wir ein paar zerkratzte Teller unter fließend kaltem Wasser. Als es draußen still war, gingen wir raus, um uns in dem Bad am Ende des Flurs die Zähne zu putzen. Schließlich drehte Maris wie bei uns daheim einen Haken in die Wand, rollte seine Hängematte aus und befestigte sie zwischen Fensterknauf und Haken. Ich kroch in meinen Schlafsack, den ich sonst nur brauche, wenn wir am Strand von Jūrmala zelten. Jetzt war ich froh, denn der Schlafsack roch so gut nach Zuhause, dass ich sofort eingeschlafen bin.

3

Mahris’ Stimme weckte mich. Er tigerte in unserem kleinen Flur auf und ab und telefonierte mit Onkel Witold. »Auf keinen Fall«, stieß er energisch hervor. »Keine Flugtickets … ich kann das alleine … wir machen das schon. Ja, Niks ist hier …« Deutschland … doch, doch, Deutschland. Du wirst schon sehen …«  Mahris hatte seine Stimme gesenkt. Wenn Onkel Witold mit Flugtickets winkte, hieß das, dass er sich mal wieder Sorgen um Mahris und mich machte. Onkel Witold war vor einigen Jahren nach Amerika ausgewandert und sagte ständig, dass wir nachkommen sollten. »Das ist so bei großen Brüdern«, hatte Mahris mir mal erklärt. »Sie passen bis an ihr Lebensende auf die jüngeren Geschwister auf. Auch wenn die Kleinen hervorragend allein zurechtkommen.«