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Helga Leeb

Basko und seine Leute

Ein heiterer Roman

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 1982 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

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Schutzumschlaggestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8276-7

Für Jonathan

1

»Irgend etwas fehlt hier«, sagte Jonathan, verteilte sorgfältig einen Löffel Honig auf seinem Toast und goß sich Kaffee ein.

»Ich weiß«, erwiderte ich seufzend, »die Himbeermarmelade. Ich weiß es übrigens schon die ganze Zeit, während du dein Ei gegessen hast. Aber ich dachte, vielleicht übersiehst du einfach großzügig, daß auf diesem perfekt gedeckten, appetitlichen, mit frischen Blumen und englischem Geschirr gedeckten Frühstückstisch die Himbeermarmelade fehlt.«

»Ach so, die Marmelade! Natürlich fehlt die. Irgendwas fehlt doch eigentlich immer, wenn du Frühstück machst und nicht ich, aber die meine ich nicht«, entgegnete Jonathan ungewohnt friedlich.

»Wunderbar«, murmelte ich, angelte mit meinem großen Zeh einen Gartenstuhl so nahe zu mir heran, daß ich bequem die Beine darauf legen konnte und schaute der dicken Amsel zu, die drüben unter dem Fliederstrauch in unserem sogenannten Vogelbad, einem ausrangierten, halben Römertopf, duschte. Sie sprühte mit heftigen Flügelschlägen immer neue perlende Wasserkaskaden über sich. Man hörte das Geplätscher über den Rasen bis auf die Terrasse.

»Schau nur, sie verbraucht wieder das ganze Wasser, und die Meisen, die ringsum anstehen und schon ganz ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen, müssen sich um den Rest balgen«, sagte ich zu Jonathan. Er nickte zerstreut. Das allsonntägliche Schauspiel schien ihn heute nicht besonders zu interessieren.

»Irgendwann einmal muß ich ein größeres Vogelbad kaufen«, stellte ich fest, »oder ich stelle den anderen halben Römertopf auch noch auf, dann können zwei Amseln gleichzeitig baden.«

Ich blinzelte zu den üppigen Blütendolden der Clematis hinauf, die das Balkongeländer umrankte, und fand, daß dies ein herrlicher Sonntagmorgen war: blauer Himmel, Sonne, ein leichter, lauer Wind und über uns die orangerote Markise, die uns gegen fremde Blicke schützte.

Niemand von den Einfamilienhäusern ringsum konnte beobachten, wie wir faul, in Morgenmänteln (lila ich, beige Jonathan), barfuß und unrasiert (Jonathan) auf der Terrasse saßen und frühstückten. Vielleicht stand Herr Speicher an seinem Badezimmerfenster und verrenkte sich, um einen winzigen Ausschnitt unserer morgendlichen Idylle zu ergattern, seinen Hals, aber das störte mich längst nicht mehr.

Vom Zwiebelturm der Dorfkirche schlug es gemächlich zehn Uhr. Gleich würden Michi und Christian verschlafen und mit zerzaustem Haarschopf auf die Terrasse tapsen und sich mit einem beiläufigen »Morgen« über die Reste hermachen. Jonathan pflegte das lasche Auftreten seiner Söhne jedesmal mit einer sarkastischen Bemerkung zu begleiten, etwa: »Auch schon auf, die Herren?« oder »Aha, da hat jemand gehört, das alles fix und fertig ist und keinerlei Mithilfe mehr benötigt wird.«

Er war ein autoritärer, etwas altmodischer Vater und hätte gerne gehabt, daß ihn am Sonntagmorgen zwei frischgewaschene und gekämmte Knaben mit freundlichen Gesichtern und fertig gedecktem Tisch empfangen hätten. Leider ließen sich seine Vorstellungen nicht in die Realität umsetzen, woran ich mit meiner toleranten Erziehung – wie es Jonathan nannte – sicher nicht unschuldig war. Also brummelte er wenigstens ein bißchen, wenn die beiden erschienen, fand dann aber, damit habe er seine Autorität ausreichend bewiesen.

»Wie ich vorhin schon sagte«, begann Jonathan aufs neue, diesmal mit leichtem Nachdruck: »Ich finde, uns fehlt etwas.«

Ich schaute ihn an, wie er dasaß, die Hornbrille auf die Nase gerutscht, unter dem Gürtel des Morgenrocks ein leichter Bauchansatz, die ersten grauen Haare an den Schläfen, alles in allem ein ziemlich zerzauster, aber doch recht ansehnlicher Ehemann.

»Ach Jonathan, du bist drollig«, rief ich gut aufgelegt. »Natürlich fehlt uns eine ganze Menge: mir zum Beispiel ein Pelzmantel, irgend so was ganz Lässiges mit Kapuze zum Reinkuscheln. Außerdem fehlt uns ganz eindeutig ein neuer Teppich, am besten wäre ein weißer Berber, wollig, weich und drei Zentimeter hoch. Ach ja, und ein guter Anfang für meinen Artikel fehlt mir, und – das wollte ich dir eigentlich gar nicht sagen – aber irgendwie fehlen mir auch zweihundert Mark vom Haushaltsgeld und der Reservehausschlüssel, vielmehr einer von meinen drei Reservehausschlüsseln.«

Normalerweise wäre Jonathan nach diesem letzten Geständnis wutentbrannt hochgefahren und hätte etwa Folgendes gesagt: »Das Verhältnis dieser Familie zu Geld und insbesondere zu Hausschlüsseln ist erschütternd. Es gibt bestimmt kein Haus weit und breit außer unserem, bei dem von morgens bis abends der Hausschlüssel außen in der Tür steckt, und das Gartentor weit offensteht, damit jeder, aber auch wirklich jeder, mühelos hereinkommen kann. Es ist ein reines Wunder, daß sich nicht sämtliche Diebe und Einbrecher der Stadt bei uns verabreden.«

Spätestens an diesem Punkt hätte ich Jonathan normalerweise unterbrochen und gesagt: »Tatsache ist aber, daß uns noch nie jemand die kleinste Sache gestohlen hat und daß es bei den vielen Freunden der Kinder viel praktischer ist, wenn jeder aus- und eingehen kann, ohne zu klingeln. Außerdem finde ich es gemein von dir, daß du meine Reservehausschlüssel, die alle an guten, vernünftigen Plätzen untergebracht sind, immer wieder heimlich wegnimmst. Neulich mußte ich durchs Waschhausfenster klettern – das geht übrigens prima, obwohl du glaubst, das Gitter sei diebstahlsicher befestigt –, bloß weil ich keinen einzigen Schlüssel finden konnte. Jedenfalls würden wir alle viel weniger Hausschlüssel verlieren, wenn man sie einfach dort ließe, wo sie hingehören: einer außen an die Tür, einer unters Fensterbrett der Garage, einer in den Wäscheklammersack im Garten und einer für schlimmste Notfälle hinter den Geranientopf auf der Terrasse.«

Merkwürdigerweise fand dieser Dialog heute nur in meinem Gehirn statt. Jonathan schien an seinem Lieblingsthema gänzlich desinteressiert zu sein. Statt dessen sagte er plötzlich laut und langsam: »Was ich seit einer halben Stunde sagen möchte, ist folgendes: ich finde, was uns fehlt, ist ein Hund.«

»Ein Hund?« wiederholte ich tonlos, und dann, als ich die ganze Tragweite dieses Satzes begriffen hatte, schrie ich entsetzt auf: »Ein Hund!!!!?«

»Ja«, erwiderte Jonathan sachlich. »Ich finde, zu einer richtigen Familie gehört einfach ein Hund.«

Ich saß ein paar Sekunden stumm vor Staunen und schaute ihn fassungslos an.

Jonathan schaute zurück. »Ich wollte schon immer einen Hund haben, weißt du«, sagte er. »Hunde gehörten zu meiner Kindheit, wie der Lagerplatz an der Spree, wo wir Verstecken spielten, und die Berliner Weiße mit Schuß am Samstagabend. Mein Hund damals war ein Dackel und hieß Biggi.«

»Und starb an Herzverfettung und keifte jeden Fremden an, der eure Wohnung betrat, bis er asthmatisch keuchend in einer Ecke zusammenbrach und von deiner Mutter aufs Sofa gebettet wurde. Ich erinnere mich deutlich, es war ein erhebender Anblick.« Meine Stimme klang sarkastisch.

»Du hast Biggi nur in seinen letzten Jahren in München gesehen. Früher war er anders. Außerdem konnte er nichts dafür, daß meine Mutter ihn hemmungslos überfütterte und nie jemand mit ihm spazierenging.«

»Aha, da haben wir’s. Wer bitte sollte mit unserem Hund Spazierengehen?«

»Die Kinder natürlich«, erwiderte Jonathan. »Und am Wochenende du und ich. Jeder müßte seinen Teil Verantwortung für den Hund übernehmen. Ich sehe da überhaupt kein Problem.«

»Du siehst nie Probleme«, seufzte ich. »Für dich ist es ganz normal, ein gepflegtes Haus, einen gemähten Rasen, zwei halbwegs ordentlich erzogene Söhne und eine berufstätige Frau zu haben. Von pünktlichen Mahlzeiten und tadellos gebügelten Hemden ganz abgesehen.«

»Richtig, es klappt alles tadellos. Wo gibt es da ein Problem?«

»Gelegentlich«, sagte ich, »ganz selten einmal bin ich etwas atemlos, weißt du, und überlege, wieso ich das eigentlich alles schaffe.«

»Aber Liebling, ganz einfach, weil du eine emanzipierte Frau bist«, antwortete Jonathan fröhlich.

»Ich bin zwar eine emanzipierte Frau, aber nur, weil ich das unverdiente Glück habe, eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Zugehfrau als Hilfstruppe zu besitzen«, erklärte ich.

»Na also, wo liegt das Problem?« erkundigte sich Jonathan. Es war hoffnungslos.

»Das Problem liegt darin«, erklärte ich behutsam, »daß ich mir manchmal denke, es müßte Spaß machen, einen Mann zu haben, der sich partnerschaftlich mit mir die Hausarbeit, die Bügelwäsche und die Elternsprechtage für zwei schulpflichtige Kinder teilt. So etwas gibt es nämlich. Ich schreibe dauernd darüber.«

»Liebling, das ist doch nicht dein Ernst! Kannst du dir vorstellen, wie ich mit dem Bügeleisen aussähe oder beim Abspülen? Mit Gummihandschuhen womöglich!«

»Eigentlich nicht«, gab ich zu. »Aber vielleicht hätte ich mich im Verlauf einer zwölfjährigen Ehe an diesen Anblick gewöhnen können.«

»Also ich nicht«, erklärte Jonathan mit verblüffender Selbstverständlichkeit.

»Tja, dann ist dieses Problem ja wohl auch gelöst«, stellte ich fest. Jonathan spürte meinen ironischen Unterton nicht. »Siehst du, ich sag’s ja immer, du suchst Probleme, wo es gar keine gibt«, rief er vergnügt. »Und mit unserem Hund wird das sicher ganz genauso.«

»Wieso mit unserem Hund?«

»Na ja, wir reden im Grunde doch die ganze Zeit davon, daß wir einen Hund wollen.«

»Du willst einen Hund«, beharrte ich eigensinnig. »Also gut, ich. Aber Michi und Christian sicher auch. Für die wäre ein Hund sogar besonders wichtig. Für ihre menschliche Entwicklung, weißt du. Wir hatten die beiden schließlich im zarten Alter von sechs und acht ihrer Heimat entfremdet und sie in ein fernes, unbekanntes Land verpflanzt.«

»Du tust, als ob unsere zwei Jahre London nicht eine herrliche, faszinierende Zeit gewesen wären.«

»Waren sie, wenn auch etwas aufregend, wie du zugeben wirst. Aber für Michi und Christian ist es nicht so einfach, sich wieder in ihre alte Umgebung einzugewöhnen. Ein Hund könnte ihnen dabei helfen.«

»Jonathan, werde nicht sentimental«, sagte ich. »Du weißt genau, daß Michi längst die drei Größten und Frechsten aus seiner Klasse als Freunde hat, und ob Christians Rechtschreibung im Deutschen weniger katastrophal wäre, wenn er zwischendurch nicht zwei Jahre auf einer englischen Schule verbracht hätte, ist keineswegs erwiesen. Schließlich ist auch seine englische Rechtschreibung katastrophal.«

»Da kommen sie«, sagte Jonathan. »Wir fragen sie einfach selbst, ob sie einen Hund haben wollen.«

Es war zu spät, um einzugreifen.

»Wieso redet ihr von einem Hund? Kriegen wir vielleicht einen Hund?«

Michi, der mit seinen braunen Locken und seiner Pfirsichhaut viel zu hübsch für einen Neunjährigen aussah, blieb buchstäblich der Mund offenstehen. Dann drehte er sich um, boxte seinen um zwei Jahre älteren Bruder in die Seite, daß der aufheulte, und brüllte: »Christian, hast du das gehört! Wir kriegen einen Hund!«

»Mensch klasse«, sagte Christian trocken. »Ich wollte schon immer einen Hund haben.«

»Also Moment mal, das ist noch gar nicht sicher, da müssen wir erst nochmal drüber reden«, versuchte ich einzuwerfen, kam aber, was nur selten geschieht, einfach nicht zu Wort. Die drei männlichen Mitglieder der Familie unterhielten sich bereits ausführlich und in ungewohnter Harmonie über Hunde im allgemeinen und unseren Hund im besonderen. Michi war für einen Bernhardiner, Christian für einen Afghanen, Jonathan für einen deutschen Schäferhund. Ich goß mir eine letzte Tasse Kaffee ein und hörte zu.

»Kinder, seid mal ruhig«, sagte Jonathan nach einer Weile. »Eure Mutter sitzt hier so still dazwischen. Die muß doch schließlich auch gefragt werden, was für einen Hund sie haben will!«

»Oder willst du womöglich gar keinen?« fragte Michi mit verzweifelt flehendem Blick.

Ich blinzelte in die Morgensonne, die jetzt schon fast eine Mittagssonne geworden war, schaute auf die wilde Unordnung des Tischs und dann auf die drei zerzausten, in schlampige Morgenmäntel gehüllten Gestalten drumherum, deren Gesichter vor Begeisterung glühten.

Es war wirklich ein außergewöhnlich schöner Sonntagmorgen.

»Natürlich will ich auch einen Hund«, sagte ich. »Ich hab mir meine ganze Kindheit hindurch einen Hund gewünscht und nie einen bekommen. Ich freu mich wahnsinnig auf unseren Hund.«

Christian und Michi fielen mir von zwei Seiten her um den Hals, eine englische Kaffeetasse zersprang klirrend auf dem Boden, Jonathan blickte mild und schob mit dem Fuß die Scherben beiseite.

»Am liebsten hätte ich einen Rauhhaardackel«, sagte ich, als ich wieder zu Luft gekommen war. »Einen ganz kleinen frechen, zärtlichen, den man auf den Schoß nehmen und streicheln kann.«

»Einen Dackel!« riefen Michi und Christian gedehnt.

»Aber ein Dackel ist doch gar kein richtiger Hund.«

»Ich fürchte, unser Hund wird doch ein Problem«, sagte Jonathan ahnungsvoll.

Er sollte recht behalten.