Andreas Goyert

Anthroposophische Medizin

und die Prozesse

im Stoffwechselsystem

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort

I Die Anthroposophische Medizin im Strom der Medizingeschichte

EINLEITUNG

Studium der Medizin auf Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde

DIE ENTWICKLUNG DER NATURWISSENSCHAFTLICH ORIENTIERTEN MEDIZIN

Rudolf Virchow

Die «Zellularpathologie»

Heutige Medizin

Anthroposophie und Menschheitsentwicklung

DIE ENTWICKLUNG DES DENKENS

Die Leitsätze 103 bis 105 und 112 bis 113

«Welten-Zeitenwende-Anfang»

DIE BEWUSSTSEINSETAPPEN

Das Erleben der Gedanken im Ätherleib

Die Zeit der griechischen Kulturblüte und die Elementenlehre

Die Vier-Säfte-Lehre

Gesundheit und Krankheitstypen

Die Temperamente

Das Erleben der Gedanken im Astralleib

Die Zeit der Kulturblüte im Zweistromland

Die Heilkunde im Zweistromland

Der Tempelschlaf

Das Erleben der Gedanken im Ich

Die Gegenwart und das Erleben der Gedanken im Physischen Leib

ANTHROPOSOPHISCHE MEDIZIN

DIE AMME ALLEN WERDENS

II Der Magen-Darm-Trakt und die Ernährung

EINFÜHRUNG

Kommunikation des Menschen mit der Welt

DIE NAHRUNGSUMWANDLUNG

Der Weg durch die Elemente

Form und Substanz, Bewegung und Prozess

Die Bildung des Stuhls auf dem Weg der Ausscheidung

DER MAGEN-DARM-TRAKT

Anatomie und Physiologie in einer ganzheitlichen Betrachtung

Der Mund

Der Magen

Die Magenbewegungen

Der Dünndarm

Die Dünndarmbewegungen

Der Dickdarm

Die Dickdarmbewegungen

Der innere Aufbau des Magen-Darm-Traktes

Die Dreigliederung im Magen-Darm-Trakt

Die Anatomie als Ausdruck der Aufgabe und Funktion

III Die Tätigkeit der vier Wesensglieder im Verdauungstrakt

MUND

MAGEN

DÜNNDARM

DER ÜBERGANG VOM MAGEN ZUM DÜNNDARM. EIN ATMUNGSPROZESS

DER ÜBERGANG VOM DARMTRAKT IN DAS BLUT

IV Die Ernährung

DAS ICH UND DIE INNEREN KRÄFTE DER NAHRUNGSSUBSTANZ

DAS SAMENCHAOS

GENTECHNISCH VERÄNDERTE NAHRUNG

NAHRUNG UND ÖKOLOGISCH ORIENTIERTE LANDWIRTSCHAFT

BIOLOGISCH-DYNAMISCHE LANDWIRTSCHAFT

ZUR BEDEUTUNG DER ERNÄHRUNG

DIE GEMEINSAME MAHLZEIT

DIE DARMWAND – ÜBERGANG DER NAHRUNG IN DEN INNEREN MENSCHEN

«… DAS IST EIN ERNÄHRUNGSPROBLEM …»

V Der weitere Weg der Nahrungssubstanz nach innen

HERZ-LUNGEN-GEFÄSS-SYSTEM

NIERENSYSTEM

LEBER-GALLEN-SYSTEM

DIE BRÜCKE ZU DEN SEELENGLIEDERN DENKEN – FÜHLEN – WOLLEN

DAS ZUSAMMENWIRKEN DES STOFFWECHSELSTROMS MIT DEN KRÄFTEN DES NERVEN-SINNES-SYSTEMS

VI Die Ausscheidung

PRIMÄRE UND ABDRUCKARTIGE WIRKSAMKEIT DER WESENSGLIEDER

DIE DARMFLORA

Entdeckung der Darmflora

Entwicklung der Darmflora

Verteilung der Mikroben im Magen-Darm-Trakt

Aufgaben und Bedeutung der Darmflora

Kurzkettige Fettsäuren

Barrierefunktion

Vitaminproduktion

Entgiftungsfunktion

Kommunikation

Darmflora und Immunsystem

Störungen der Darmflora

ÜBERGEORDNETE GESICHTSPUNKTE ZUR DARMFLORA

Darmflora und Todesprozess

Darmflora und Sinnesorgan

Darmflora und Gehirn

VII Das Immunsystem

DIE AUFGABE DES IMMUNSYSTEMS

DAS NATÜRLICHE IMMUNSYSTEM

DAS SPEZIFISCHE IMMUNSYSTEM

DER THYMUS

DER THYMUS UND DIE T-LYMPHOZYTEN

DAS ZWEITE LEBENSJAHRSIEBT

Das Ätherherz

Die Überwindung des Erbstromes und Ausbildung der individuellen Leiblichkeit

DIE B-LYMPHOZYTEN

DAS IMMUNSYSTEM ALS ABWEHRSYSTEM?

DAS IMMUNSYSTEM ALS «MILITÄRISCHE EINRICHTUNG» UND VERTEIDIGUNG?

IMMUNSYSTEM UND FREIHEIT

DAS IMMUNSYSTEM ALS PÄDAGOGISCHES SYSTEM

IMMUNSYSTEM UND ICH-ORGANISATION

DAS IMMUNSYSTEM

IMMUNSYSTEM UND NERVEN-SINNES-SYSTEM

VIII Anthroposophische Medizin und Heileurythmie

INNERER KOSMOS

DIE WELT DER LAUTE

PARACELSUS

Das Licht der Natur

Die Natur, ein Buch Gottes, das den Menschen beschreibt

Die Therapie über den Ätherleib und die Heileurythmie

Anthroposophische Medizin als Erweiterung der Medizin

HEILEURYTHMIE

Die Zusammengehörigkeit der Ärzte- und Heileurythmievorträge

Die Kehlkopfmetamorphose

Die Abkoppelung von den kosmischen Kräften durch die Informationstechnologie

Die weiteren Vorträge und der fünfte Vortrag im Ärztekurs

Der vierte Vortrag des Heileurythmiekurses

Die Wesensglieder im Verdauungstrakt

Die Lautfolge im vierten Vortrag des Heileurythmiekurses

Die Laute B/P

Die Lautbewegungen D/T und G/K

Die Lautbewegung S

Die Lautbewegung F

Die Lautbewegung R

Die Lautbewegung L

Die Lautbewegung H

Die Lautbewegung M

Die Lautbewegung N

Die Lautbewegung SCH

SM – HM

MEDIKAMENTÖSE THERAPIE UND HEILEURYTHMIE IN DER HAND DES ARZTES

DER VERDAUUNGSPROZESS UND DER WILLE

Anmerkungen

Abbildungen

Impressum

Leseprobe

Newsletter

Vorwort

Am Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit hatte ich das anthroposophische Ärzteseminar an der Lukasklinik in Arlesheim in der Schweiz besucht. Richtungsweisend für meine zukünftige Arbeit waren dabei die Begegnungen mit Vertretern der Anthroposophischen Medizin, wie u. a. mit Ernst Marti, der in wunderbarer Weise die Welt des Ätherischen darstellte, oder mit Willem Daems, der die Gestalt des Paracelsus in einer Weise charakterisierte, die in mir ein besonderes Interesse für diesen großen Arzt am Ausgang des Mittelalters entfachte, sowie mit Friedrich Lorenz, der in seiner bescheidenen authentischen Art, mit von Ehrfurcht getragener Liebe zur Anthroposophischen Medizin, mich als jungen Arzt tief beeindruckte.

Nach meiner Ausbildung zum Internisten in einer gastroenterologisch ausgerichteten Klinik unter Prof. Klaus Heinkel, der der Anthroposophie gegenüber sehr aufgeschlossen war und mir ermöglichte, erste Erfahrungen in der Anthroposophischen Medizin zu sammeln, kam ich an die Filderklinik. Dort war ich zunächst als Assistenzarzt, dann als Oberarzt und schließlich über sechzehn Jahre als leitender Arzt tätig.

Mehr als dreißig Jahre hatte ich das Glück, zunächst in der Ausbildung zur Krankenpflege, dann in der Heileurythmieausbildung in Stuttgart und im Ärzteseminar, später Eugen-Kolisko-Akademie, Unterricht über das Stoffwechselsystem, insbesondere die Prozesse im Magen-Darm-Trakt, geben zu dürfen. Zusammen mit der Heileurythmieausbildung hatte ich über fünfundzwanzig Jahre in Stuttgart, jeweils dreimal im Jahr, eine Wochenendarbeit für Ärzte und Heileurythmisten verantwortet, wobei wir mehrmals kontinuierlich den Heileurythmiekurs und den parallel gehaltenen Ärztekurs Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie erarbeiteten und dabei die Heileurythmieübungen erlernten. Diese gemeinsame Arbeit, die vielfältigen Fragen, die entstanden, waren mir eine enorme Hilfe für die eigene Arbeit.

In der ständigen Wiederholung und neuen Erarbeitung dieses Themas, zusammen mit der wachsenden Erfahrung in der Behandlung der Patienten mit den verschiedenen Erkrankungen auf diesem Gebiet, bekam ich eine immer größere Gewissheit und Sicherheit darüber, wie wertvoll und bereichernd die anthroposophische Menschenkunde für das Verständnis der Stoffwechselvorgänge beim gesunden und auch beim kranken Menschen ist.

Versucht man die Anatomie und die bekannten Vorgänge der Physiologie und Pathophysiologie mit der anthroposophischen Menschenkunde zu durchdringen, so kommt man rasch zu der Erkenntnis, dass die Anthroposophische Medizin keine Ergänzung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin in dem Sinne ist, dass sie geisteswissenschaftliche Erkenntnisse den naturwissenschaftlich gewonnenen hinzufügt, sondern man bekommt vielmehr ein Bewusstsein davon, dass diese Vorgänge und auch die Anatomie plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen, das neue Perspektiven eröffnet und zu neuer und umfassenderer Beurteilung und Interpretation der bisherigen Erkenntnisse führt und im Hinblick auf die Behandlung von Krankheiten andere Konsequenzen fordert.

Die Vorgänge, die wir im Einzelnen im Studium und der weiteren ärztlichen Ausbildung kennengelernt haben, können in ein ganzheitliches Bild zusammengeführt werden, das den Menschen in seiner Beziehung zur Welt, zum Kosmos und zum Geistigen darstellt. Dadurch bekommen die Vorgänge der Ernährung und Verdauung einen weiterführenden, tieferen Sinn als die gemeinhin angenommene notwendige Energiezufuhr zum Leben.

Es zeigt sich, wie der Mensch in der Ernährung, der Auseinandersetzung mit der Welt, die Möglichkeit bekommt, sich selbst zu entwickeln. Der Verdauungsvorgang ist seinem Wesen nach ein ständiger Lernvorgang. Und auch das Immunsystem, das eng mit dem Verdauungstrakt verbunden ist, ist in Wirklichkeit kein Abwehrsystem, mit dem der Mensch sich gegenüber der Welt wehrt, sondern eine Art Schule, in der er die Welt kennenlernt.

Die jahrelange vertrauensvolle ärztliche Zusammenarbeit mit Dr. Jürgen Schürholz in der Filderklinik, wobei uns das Interesse für die Elementenlehre der Griechen besonders verband, sowie die Beschäftigung mit der Heileurythmie und hier insbesondere die über Jahre erfolgte regelmäßige Zusammenarbeit mit Nanna Wilkens, Ursula Ziegenbein und Ute Schmidt in der Heileurythmieausbildung und den Ärzte-Heileurythmie-Fortbildungen waren letztlich der Schlüssel, der mir das Tor und den Weg zu den in diesem Buch angeführten Erkenntnissen eröffnete und zeigte.

Das Buch möchte kein Lehrbuch sein. Vielmehr wird darin versucht, den Leser zu dem Denken der anthroposophischen Menschenkunde und Medizin hinzuführen. Insofern kann es gerade für junge, noch im Studium und in der Ausbildung befindliche Menschen eine Hilfe sein. Dabei ist das Buch vornehmlich für diejenigen Leser gedacht, die dem medizinischen Strom angeschlossen sind, wie Ärzte, Heileurythmisten, Kunsttherapeuten, Pflegende, Physiotherapeuten. Aber auch Leser, die sich für aus der anthroposophischen Menschenkunde beleuchtete Hintergründe zur Ernährung, dem Immunsystem und Verdauungsprozessen interessieren, können hier wertvolle Hinweise finden.

Filderstadt im April 2015 Dr. Andreas Goyert

I Die Anthroposophische Medizin im Strom der Medizingeschichte

 

Einleitung

Über neunzig Jahre sind seit dem ersten Vortragszyklus, den Rudolf Steiner 1920 vor Ärzten gehalten hat und mit dem die Anthroposophische Medizin als eine neue Medizin inauguriert wurde, vergangen. In dieser Zeit hat sich die Anthroposophische Medizin entwickelt, konnte sich verbreiten, bekannt machen und erreichte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.

In der gleichen Zeit aber konnten wir eine unglaubliche Entwicklung und einen Siegeszug der naturwissenschaftlich orientierten Medizin erleben, die lediglich ein halbes Jahrhundert zuvor ihren Anfang erlebte.

Grundlage und treibender Impuls dieser Entwicklung war dabei ein sich immer stärker am Materiellen ausrichtendes Denken, das die verschiedensten Bereiche der Naturwissenschaften prägte. Nicht zuletzt diese am Physischen orientierte Betrachtungsweise führte aber bei vielen Ärzten, die sich mit der Anthroposophie beschäftigt hatten, zu der Sorge, dass ein derartiges materielles Menschenbild dem Menschen, insbesondere in der Krankheitssituation, nicht gerecht werden könne. Und so wurden Fragen nach einer Medizin, die sich auf dem Boden der anthroposophischen Geisteswissenschaft am Menschen orientiert, gestellt, die von Rudolf Steiner aufgegriffen wurden und zu mehreren Vortragszyklen für Ärzte führten. Zudem verfasste Rudolf Steiner zusammen mit Dr. Ita Wegman das fundamentale Werk zur Anthroposophischen Medizin: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst.1

Studium der Medizin auf Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde

Im Rahmen eines Ärztekurses 1922 äußerte Rudolf Steiner:

«Wenn ich einrichten sollte ein medizinisches Studium für solche Menschen, welche unmittelbar an dieses Studium herankommen und dieses Studium im Verlaufe von einiger Zeit absolvieren wollen, so würde ich, nachdem die nötigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erworben sind, beginnen müssen mit der Auseinandersetzung der verschiedenen menschlichen Funktionen. Ich würde beginnen müssen damit, in einer Art anatomisch-physiologischer Weise, die Verarbeitung der Nahrungsmittel vom Ptyalinisieren durch das Pepsinisieren zunächst zu verfolgen bis zur Aufnahme der Nahrungsmittel in das Blut, würde also dann, nachdem der gesamte Verdauungsakt besprochen ist im engeren Sinne, übergehen müssen zu der Besprechung des Herz-Lungen-Systems mit allem, was damit zusammenhängt. Ich würde dann zu besprechen haben alles dasjenige, was zum Nierensystem des Menschen gehört. Das Nierensystem müsste dann besprochen werden im Zusammenhang mit dem ganzen Nerven-Sinnes-Apparat, der gar nicht so, ich möchte sagen, durch heute anerkannte Erkenntnis mit dem Nierensystem zusammenhängt, und dann müsste besprochen werden das Leber-, Galle-, Milzsystem, und auf dem Wege dieses Kreislaufes würde man langsam einen Überblick bekommen über die Einrichtungen im menschlichen Organismus, so wie man sie braucht, um dasjenige aufzubauen, was durch anthroposophische Geisteswissenschaft nun eigentlich erst aufgebaut werden muss. Dann würde man auf Grundlage, ich möchte sagen, der Durchleuchtung der sinnlich-empirischen Forschungsergebnisse, die so geordnet sein müssten, wie ich sie eben angegeben habe, zum Therapeutischen übergehen können.»2

Es ist interessant, dass auch Rudolf Steiner darauf hinweist, dass zunächst die nötigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erworben sein müssen. Dann würde man in einer bestimmten Reihenfolge, beginnend mit dem Verdauungstrakt, die Organe und Körperfunktionen des Menschen zu studieren haben, wodurch die Grundlage geschaffen wird für die Entwicklung der Krankheitslehre und Therapie unter dem Gesichtspunkt der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Nun führt Rudolf Steiner dies näher aus:

«Wenn wir die menschliche Organisation nun nehmen, anatomisch-physiologisch, dann können wir zunächst betrachten, welchen Weg das Nahrungsmittel nimmt, bis es an den Darmwandungen mit all den komplizierten Organen, die da sind, angelangt ist und aufgenommen wird in Lymph- und Blutwege. Also bis zur Aufnahme in Lymph- und Blutwege kann man zunächst, sagen wir, die Verdauung oder Ernährung im weitesten Sinne verfolgen. Wenn man sich zunächst auf dieses Gebiet beschränkt, dann kommt man mit dem, was man sich heute in der Naturwissenschaft aneignet durch eine allerdings nicht ganz mechanistische Betrachtungsweise, durchaus zurecht. Eine ganz mechanistische Anschauungsweise führt auch für dieses Gebiet eben nicht ganz zum Ziele, weil die Gesetzmäßigkeiten, die man äußerlich im Laboratorium beobachtet, und die man charakterisiert innerhalb der Naturwissenschaft als unorganische Gesetzmäßigkeiten, immerhin sich dann abspielen im Verdauungstrakt, also im lebendigen Organismus.»3

Im Bereich der Verdauungsvorgänge, wo die Nahrung durch mechanische und chemische Prozesse aufgeschlossen und der eigenen Natur nach zerstört wird, da kommen wir also mit unserem heutigen Denken, das durch die Naturwissenschaften und deren Orientierung an dem physisch Messbaren geprägt ist, noch zurecht.

Soll nun die Medizin aber durch Geisteswissenschaft erweitert und dazu ein neues Studium der Medizin eingerichtet werden, so ist es zunächst notwendig die Studierenden dort abzuholen, wo sie stehen, d. h. das Studium da zu beginnen, wo die physischen Prozesse wirken und man mit dem heutigen Denken noch zurechtkommt. Deshalb empfiehlt Rudolf Steiner, ein Medizinstudium mit der Darstellung und Besprechung des Verdauungssystems zu beginnen.

Die Entwicklung der naturwissenschaftlich orientierten Medizin

Unsere heutige naturwissenschaftlich orientierte Medizin ist, gemessen an der Medizingeschichte, noch jung. Sie beginnt, mit der Person Rudolf Virchow verbunden, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung zu treten und entwickelt sich in der Folgezeit mit enormer Geschwindigkeit.

Rudolf Virchow

Abb. 1:

Rudolf Virchow (1821  1902)

Mit Bewunderung und Anerkennung blicken wir heute auf das Lebenswerk Rudolf Virchows. Sein Interesse galt nicht nur der Medizin, die er revolutionierte, sondern all dem, was den Menschen im Hinblick auf seine Entwicklungsgeschichte wie auch das soziale Leben betraf. So befasste er sich mit Anthropologie, Archäologie und auch der Politik, wobei er als Reichstagsabgeordneter soziale Reformen aktiv vorantrieb und in dieser Funktion ein erbitterter Gegner von Bismarck war. Mehr als 2.000 wissenschaftliche Arbeiten wurden von ihm verfasst. In seinem Nachlass befinden sich etwa 20.000 Briefe mit über 2.200 Korrespondenzadressen. Dazu wurden von ihm über 20.000 Präparate angefertigt und mehr als 4.000 Schädel identifiziert und klassifiziert.4 Dazu muss bedacht werden, dass dieser Mann noch als Abgeordneter unzählige Besprechungstermine wahrnehmen musste und als Professor Vorlesungen abzuhalten und Studenten zu betreuen hatte. So wird berichtet, dass mancher Student von dem Professor während der Kutschenfahrt von einem zum nächsten Termin belehrt und examiniert wurde.5

Die «Zellularpathologie»

Rudolf Virchow war fest davon überzeugt, dass sich die Gesetze der Natur, im Organischen wie im Anorganischen, in mechanischer Art und auf dem Weg der Kausalität und Notwendigkeit vollziehen. Grundlage aller Lebewesen sei die Zelle, die eine festgelegte Struktur habe und anatomisch darstellbar sei. In der Zelle sei der «Lebensherd», und damit müsse auch der Krankheitsherd in der Zelle gesucht und gefunden werden. Da die Organe und Zellen sichtbar und der Untersuchung zugänglich seien, müsse, so forderte Virchow, auch die Heilkunde auf drei Säulen basieren:

  1. der Untersuchung des Kranken mit allen Hilfsmitteln der Physik und Chemie in der Klinik,
  2. dem Experiment am Tierversuch,
  3. dem Studium des Leichnams mit dem Skalpell, dem Mikroskop und dem Reagens.6

Mit diesen drei Säulen wurde die Medizin auf den Boden der Gesetzmäßigkeit des Physischen, des Sichtbaren, Messbaren, der Allgemeingültigkeit gestellt. Das individuelle Kranksein hatte hierin keinen Platz mehr. Vom individuellen kranken Menschen wurde die Medizin losgelöst und in die Allgemeingültigkeit der physischen Gesetzmäßigkeit überführt.

Da die Ursache der Krankheiten in der Zelle zu suchen und zu finden sei, nannte er folgerichtig die neue Krankheitslehre «Zellularpathologie», im Gegensatz zu der früheren «Humoralpathologie», die die Krankheitsursachen in einem Missverhältnis der Säfteströme im Organismus sah.

Diese revolutionäre Entwicklung der Medizin, die sich nun auf dem naturwissenschaftlichen Beobachten und Denken stützt, nannte Virchow «Vom Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter».7

Es ist eben schon bezeichnend und merkwürdig, dass diese auf der Naturwissenschaft basierende neue Medizin durch einen Pathologen, der sich mit dem Toten befasst, inauguriert wurde.

In dieser Zeit Rudolf Virchows, der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zeugen viele andere bahnbrechende Entdeckungen von der exakten Beobachtung und Erforschung der Natur und dem sich immer stärker an der Naturwissenschaft orientierenden Denken. Beispielhaft seien hier genannt Gregor Mendel (1822  1884), der die Gesetzmäßigkeiten in der Vererbung erkannte und beschrieb, Charles Darwin (1809  1882), der in der von ihm begründeten Evolutionstheorie revolutionär die Entstehung der Arten in einem neuen Licht beschrieb, Louis Pasteur (1822  1895) und Robert Koch (1843  1910), die die Welt der Mikroben und Bakterien und deren Wirkungs- und auch Krankheitspotenziale entdeckten und beschrieben.

Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass das naturwissenschaftliche Denken neue ungeahnte Möglichkeiten für die Medizin eröffnet. Der bekannte Arzt Bernhard von Naunyn (1839  1925) formulierte dies in seinem berühmten Hamlet-Zitat: «Die Medizin muss Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein.»8

In diese Zeit des sich ausbildenden naturwissenschaftlichen Denkens wird Rudolf Steiner (1861) hineingeboren. Als Zeitgenosse ist er mit diesem Denken vertraut. Er schätzt die Leistungen der Naturwissenschaft und korrespondiert mit den großen Naturwissenschaftlern seiner Zeitepoche.9 Selbst beschäftigt er sich allerdings intensiv mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, die er im Zeitraum von 1884 bis 1897 herausgibt.

Heutige Medizin

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Entwicklung der Medizin durch die Naturwissenschaft und die Technik, die ja angewandte Naturwissenschaft ist, geprägt. Überall da zeigten sich enorme Erfolge, wo Technik angewandt werden konnte.

Wenn wir an die heutigen Möglichkeiten der Diagnostik, der chirurgischen Eingriffe oder der Intensivtherapie denken, so können wir diese als die großartigen Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Medizin sehen.

Diese stürmische Entwicklung führte schließlich auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu der Überzeugung, dass es sicherlich nur noch eine Frage der Zeit sein könne, bis die Krankheiten, auch die letzten großen Geiseln der Menschheit wie die Krebserkrankung, besiegt werden könnten. Gesundheit und Krankheit wurden dabei vornehmlich im Zusammenhang mit sozialen und finanziellen Verhältnissen gesehen.

Nur so ist zu verstehen, dass die Konferenz der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 10. September 1978 in Alma-Ata als Ziel der Weltgemeinschaft beschloss, für das Jahr 2000 das Motto «Gesundheit für alle im Jahr 2000» herauszugeben. Dabei ging man davon aus, dass die Regierungen ein funktionierendes Gesundheitssystem einrichten würden, das mit genügend finanziellen Mitteln auszustatten sei.10

Was daraus wurde, können wir nun wahrnehmen. Auch in unserem Land mit einem sehr gut funktionierenden Gesundheitssystem sind wir weit von dem damaligen Ziel entfernt. Das Gesundheitssystem ist praktisch nicht mehr finanzierbar, und ganz neue Erkrankungen, die zu der damaligen Zeit völlig unbekannt waren, sind aufgetreten, und die chronischen Erkrankungen, wie auch insbesondere die psychischen Erkrankungen, nehmen in erschreckendem Maße zu.

Ungeachtet dieser ernüchternden Bilanz besteht aber in weiten Teilen der Naturwissenschaften und der an ihr orientierten Medizin weiterhin, oder entwickelt sich, geradezu ein neuer Wahn, durch Entschlüsselung der Gen-Information, durch Benützung der Stammzellenressourcen, durch die Möglichkeit des Klonens die Krankheiten zu besiegen.

Dem jetzigen Vorgehen wie auch den großen Errungenschaften der Naturwissenschaft und der Technik ist gemeinsam, dass der Erkenntnisgewinn und die Beeinflussungsmöglichkeit sich stets, entsprechend des naturwissenschaftlichen Ansatzes, auf das Messbare und die allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten bezog, während das Individuelle des einzelnen Menschen gerade ausgeklammert wurde. Dies ist ja auch die Grundlage der Statistiken; das Abbilden eines allgemeingültigen Bildes, indem das nicht Vergleichbare, eben das Individuelle, eliminiert wird. Man muss sich dabei nur bewusst sein, dass die statistische Aussage eben auch nur allgemein gilt und keine Aussage über das Individuelle erlaubt. Leider wird das immer wieder gerne vergessen.

Anthroposophie und Menschheitsentwicklung

In diesem 20. Jahrhundert, das den Menschen in dieser besonderen Weise ganz an die Materie geführt hat, ist nun durch Rudolf Steiner die Anthroposophie entwickelt und in die Menschheitsentwicklung hineingestellt worden. In den Anthroposophischen Leitsätzen, in denen das Wesen der Anthroposophie verdichtet dargestellt ist, heißt es im 1. Leitsatz:

«Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen will.»11

Also in der Zeit, in der ein Bernhard von Naunyn die Zukunft der Medizin nur in der Wissenschaft sieht, in der der Anthropologe Vogt den Ausspruch «Das Gehirn produziert den Geist wie die Niere den Urin»12 tätigt, in der Zeit, in der also der Mensch zunehmend mit dem Materiellen zusammen gesehen wird, wird die Anthroposophie entwickelt.

Die Geisteswissenschaft kann uns die Möglichkeit der Zusammenschau geben. Durch sie können wir erfahren, dass wir in einem Menschheitsentwicklungsprozess darinnen stehen, der sich kulturgeschichtlich offenbart, und können bestimmen, in welcher Phase dieses Entwicklungsprozesses wir uns in der heutigen Zeit befinden.

Die Entwicklung des Denkens

Betrachtet man die kulturgeschichtliche Entwicklung, so kann man sie als Ausdruck eines sich entwickelnden Denkens der Menschheit auffassen, das sich von der Orientierung auf das Göttlich-Geistige, mit dem es sich zunächst als eins erlebte, zu einem Denken entwickelte, das seine Orientierung an der materiellen Welt sucht.

Die Leitsätze 103 bis 105 und 112 bis 113

In prägnanter, verdichteter Form beschreibt Rudolf Steiner dies in den Leitsätzen 103 bis 105:

103

«In der Menschheits-Entwicklung steigt das Bewusstsein auf der Leiter der Gedanken-Entfaltung herab. Es gibt eine erste Bewusstseinsetappe: Da erlebt der Mensch die Gedanken im «Ich» als durchgeistigte, beseelte, belebte Wesen. Auf einer zweiten Etappe erlebt der Mensch die Gedanken im astralischen Leib; sie stellen da nurmehr die beseelten und belebten Abbilder der Geistwesen dar. Auf einer dritten Etappe erlebt der Mensch die Gedanken im Ätherleibe; sie stellen nur eine innere Regsamkeit wie einen Nachklang von Seelenhaftem dar. Auf der vierten, gegenwärtigen Etappe erlebt der Mensch die Gedanken im Physischen Leibe; sie stellen tote Schatten des Geistigen dar.»

Abb. 2: Die Bewusstseinsetappen und das Erleben der Gedanken in den Wesensgliedern.

104

«In demselben Maße, in dem das Geistig-Seelisch-Lebendige im Menschendenken zurücktritt, lebt des Menschen Eigenwille auf; die Freiheit wird möglich.»

105

«Es ist Michaels Aufgabe, den Menschen auf den Bahnen des Willens dahin wieder zu führen, woher er gekommen ist, da er auf den Bahnen des Denkens13 von dem Erleben des Übersinnlichen zu dem des Sinnlichen mit seinem Erdenbewusstsein heruntergestiegen ist.»

Abb. 3: Der Abstieg der Gedankenentfaltung durch die Wesensglieder und der Aufstieg auf den Bahnen des Willens, Michael folgend. Dazwischen die Freiheit.

In demselben Maße, wie sich durch diese Gedankenentwicklung das Bewusstsein und damit die Kulturfähigkeit der Menschen entfaltet und gewandelt hat, hat sich auch die Beziehung des Menschen zu dem Göttlich-Geistigen im Kosmos, das in der Weltentwicklung auf verschiedene Art zur Geltung kommt, gewandelt. Im späteren Leitsatz 112 heißt es:

112

«Das Göttlich-Geistige kommt im Kosmos in den folgenden Etappen auf verschiedene Art zur Geltung:

1. durch seine ureigene W e s e n h e i t;

2. durch die O f f e n b a r u n g dieser Wesenheit;

3. durch die W i r k s a m k e i t, wenn die Wesenheit aus der Offenbarung sich zurückzieht;

4. durch das W e r k, wenn in dem erscheinenden Weltall das Göttliche nicht mehr ist, sondern nur dessen Formen.»

Abb. 4: Die Bewusstseinsetappen und das Erleben der Gedanken in den Wesensgliedern in Beziehung zu dem Göttlich-Geistigen im Kosmos.

Die Bewusstseinssituation unserer heutigen Zeit wird im Leitsatz 113 charakterisiert:

«Der Mensch hat in der gegenwärtigen Naturanschauung nicht ein Verhältnis zu dem Göttlichen, sondern nur zu dessen Werk. Mit dem, was sich der menschlichen Seelenverfassung durch diese Anschauung mitteilt, kann man sich als Mensch sowohl mit den Christus-Mächten wie mit den ahrimanischen Gewalten zusammenschließen.»14

Wir sehen, der Mensch ist in seiner Gedankenentwicklung von dem Erleben des Übersinnlichen zu dem des Sinnlichen herabgestiegen. Er erlebt in der heutigen Zeit die Gedanken im Physischen Leibe. In diesem Denken, das die gegenwärtige Naturanschauung prägt, hat der Mensch nicht mehr ein Verhältnis zu dem Göttlichen, sondern nur noch zu dessen Werk. Es ist ein gewisser Entwicklungsweg, der sich gesetzmäßig vollzog und der als Herabstieg vom Übersinnlichen zum Sinnlichen bezeichnet wurde, zum Ende gekommen.

Ein neuer Entwicklungsweg muss beschritten werden, der aber nun in die andere Richtung vom Sinnlichen zum Übersinnlichen führt. Dieser neue Entwicklungsweg geht aber nicht von alleine, sondern muss von den einzelnen Menschen gewollt und bewusst beschritten werden.

Durch das Heruntersteigen vom Übersinnlichen zum Sinnlichen lebt des Menschen Eigenwille auf und die Freiheit wird erst möglich. In dieser Freiheit hat der Mensch nun die Möglichkeit, sich sowohl mit den Christusmächten wie mit den ahrimanischen Gewalten zusammenzuschließen. Sich mit den Christusmächten zusammenzuschließen heißt, Michael zu folgen, dessen Aufgabe es ist, den Menschen auf den Bahnen des Willens wieder den Weg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen zu führen.

Abb. 5: Gedankenentwicklung

Michaels Weg auf den Bahnen des Willens

Unmissverständlich weist Rudolf Steiner darauf in, dass wir in unserer heutigen Entwicklungsstufe auch die Möglichkeit haben, uns Ahriman anzuschließen. Dies würde bedeuten, dass die Bewusstseinsentwicklung am Physischen gefesselt und zur Unternatur, dem Maschinenartigen geführt würde. Diese Tendenzen können wir heute in der Diskussion um die Gentechnologie und das Klonen wahrnehmen. Wie Rudolf Steiner dies bereits in seiner Zeit voraussah, mag folgendes Zitat aus einem Vortrag vom 3. 7. 1921 in Dornach beleuchten:

«Und in der Tat, es bestehen heute schon, ohne dass es die Menschen wissen, in gewissen Untergründen, wo allerlei Gesellschaften nach solchen Dingen hinarbeiten, die Tendenzen, etwas Ähnliches herbeizuführen wie 869 auf dem Konzil von Konstantinopel, nämlich zu erklären: Der Mensch besteht nicht aus Leib und Seele, sondern der Mensch besteht aus dem Leib, und die Seele ist bloß etwas, was aus dem Leibe heraus sich entwickelt. Es ist daher unmöglich, den Menschen seelisch zu erziehen; man muss also ein Mittel, ein materielles Mittel finden, womit man den Menschen in einem gewissen Lebensalter impft, und dann wird er seine Talente ausbilden durch Impfung. – Diese Tendenz besteht durchaus. Sie liegt in der geraden Linie der ahrimanischen Entwicklung: nicht mehr Schulen zu gründen, um zu lehren, sondern mit gewissen Stoffen zu impfen. Man kann das nämlich. Es ist nicht so, als ob man es nicht könnte. Man kann es; aber man macht den Menschen zu einem Automaten. Man würde dasjenige riesig beschleunigen, was man sonst auf dem Wege des Gedankenzwanges, durch eine Erziehung, die auf Gedankenzwang hinarbeitet, erreicht. Es gibt schon durchaus Substanzen, die man gewinnen kann, wodurch der Mensch, wenn er z. B. mit sieben Jahren geimpft würde, sich die Volksschule gut ersparen könnte; er würde nämlich ein Gedankenautomat. Er würde außerordentlich gescheit werden, aber er würde kein Bewusstsein davon haben. Es würde so ablaufen, diese Gescheitheit. Aber was liegt vielen Menschen heute schon daran, ob der Mensch ein inneres Leben hat oder nicht, wenn er nur äußerlich herumläuft und das oder jenes tut! Diejenigen Menschen, die sich heute vorzugsweise der ahrimanischen Kultur ergeben – und die gibt es auch –, streben durchaus nach solchen Idealen hin. Schließlich, was könnte es denn Reizvolleres geben für eine Gesinnung, wie sie sich heute immer mehr verbreitet, als einen Impfstoff zu finden, statt sich mit den Kindern jahrelang abzuplagen! Man muss diese Dinge drastisch darstellen. Solange man sie nicht drastisch darstellt, merkt nämlich die Menschheit der Gegenwart nicht, zu welchen Zielen sie hinstrebt.»15

Und bereits vier Jahre früher weist Rudolf Steiner auf die Verbindung des Menschenwesens mit dem Maschinenwesen hin:

«Ich habe Sie aufmerksam darauf gemacht, dass der fünfte nachatlantische Zeitraum das Problem wird lösen müssen, wie menschliche Stimmungen, die Bewegung menschlicher Stimmungen sich in Wellenbewegung auf Maschinen übertragen lassen, wie der Mensch in Zusammenhang gebracht werden muss mit dem, was immer mechanischer und mechanischer werden muss. (…) An solchen Stellen ist der Wille dazu vorhanden, die Menschenkraft zusammenzuspannen mit Maschinenkraft. Diese Dinge dürfen nicht so behandelt werden, als ob man sie bekämpfen müsste. Das ist eine ganz falsche Anschauung. Diese Dinge werden nicht ausbleiben, sie werden kommen. Es handelt sich nur darum, ob sie im weltgeschichtlichen Verlaufe von solchen Menschen in Szene gesetzt werden, die mit den großen Zielen des Erdenwerdens in selbstloser Weise vertraut sind und zum Heil der Menschen diese Dinge formen, oder ob sie in Szene gesetzt werden von jenen Menschengruppen, die nur im egoistischen oder im gruppenegoistischen Sinne diese Dinge ausnützen. Darum handelt es sich. Nicht auf das Was kommt es in diesem Falle an, das Was kommt sicher; auf das Wie kommt es an, wie man die Dinge in Angriff nimmt. Denn das Was liegt einfach im Sinne der Erdenentwicklung. Die Zusammenschmiedung des Menschenwesens mit dem maschinellen Wesen, das wird für den Rest der Erdenentwicklung ein großes, bedeutsames Problem sein. (…) In unser Nervensystem hinein ersterben wir. – Diese Kräfte, diese ersterbenden Kräfte, sie werden immer mächtiger und mächtiger werden. Und es wird die Verbindung hergestellt werden zwischen den im Menschen ersterbenden Kräften, die verwandt sind mit elektrischen, magnetischen Kräften, und den äußeren Maschinenkräften. Der Mensch wird gewissermaßen seine Intentionen, seine Gedanken hinleiten können in die Maschinenkräfte.»16

Dies sprach Rudolf Steiner bereits 1917 und 1921 aus. Heute sind durchaus die ernst zu nehmenden Überlegungen da, neuronale Strukturen des Menschen mit Computern zu verbinden und somit eine Verbindung von Mensch und Maschine zu schaffen. Wir sehen, wie wir tatsächlich mitten in dem Wirken der ahrimanischen Mächte drinnen stehen, und die Medizin ist ein wesentlicher Teil hiervon.

«Welten-Zeitenwende-Anfang»

Sergej O. Prokofieff stellt an den Anfang seines Buches Menschen mögen es hören, das Mysterium der Weihnachtstagung die Aussage Rudolf Steiners:

«Diese Weihnachtstagung, die eine Weihenacht, ein Weihefest für uns sein soll für nicht nur einen Jahresanfang, sondern für einen Welten-Zeitenwende-Anfang [Hervorhebung durch den Autor], dem wir uns widmen wollen zu hingebungsvoller Pflege des geistigen Lebens.»17

Wenn wir auf die geschilderte Entwicklungsgeschichte schauen, so sehen wir, dass wir tatsächlich an diesem Wendepunkt stehen, an dem der Entwicklungsweg nun wieder aufwärts gehen muss. Wir sind am Anfang einer neuen Weltenzeit, und dasjenige, das uns diesen Weg weist, ist die Anthroposophie. Durch sie können wir Michael auf den Bahnen des Willens folgen. In diesem Sinne ist auch der Beginn des ersten Leitsatzes zu verstehen: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.»

Dies ist ein Entwicklungsprozess, den der Einzelne wollen muss (siehe Abb. 5).

Die Zeit und der Weg der in die materielle Welt herabsteigenden Bewusstseinsentwicklung sind zu Ende. Dies vollzog sich gesetzmäßig, ging von alleine, eine Freiheit bestand noch nicht. Jetzt hat der Mensch aber die Freiheit errungen und muss sich entscheiden. Er muss den weiteren Weg selbst gehen, aus seinem Ich heraus ergreifen.

Dies bedeutet aber auch, dass das Wirken der Anthroposophie, der Anthroposophischen Medizin, in die Welt über die Tat der einzelnen Menschen und nicht über Programme geht. Tragfähige Einrichtungen entstanden und entstehen durch Konstellationen von Menschen, die eine gemeinsame Aufgabe wollen und ergreifen.

Die Bewusstseinsetappen

Das Erleben der Gedanken im Ätherleib

Wenn wir nun auf den zukünftigen zunächst vor uns liegenden Entwicklungsweg schauen (siehe Abb. 5), so sehen wir, dass die nächste Stufe, die erreicht wird, die des Ätherleibes ist. Wir kommen also wieder in den Bereich zurück, den wir auf unserem Weg nach unten, zum Physisch-Materiellen, noch in dem Bewusstsein, als die Gedanken im Ätherleib erlebt wurden, schon einmal durchschritten haben.

Bewusstsein, als die Gedanken im Ätherleib erlebt wurden, schon einmal durchschritten haben.

Die Zeit der griechischen Kulturblüte
und die Elementenlehre

Die Zeitepoche, in der das Erleben der Gedanken im Ätherleib in ihrer Hochblüte zum Ausdruck kam, ist in der Zeit der griechischen Kulturentwicklung zu sehen.

Es waren die ionischen Naturphilosophen, die die Grundlagen der Natur, allen Seins, des Werdens und Vergehens, der Krankheit und Gesundheit, in dem Wirken der vier Elemente «Erde», «Wasser», «Luft» und «Feuer» sahen.

In einem Vortrag vom 28. 6. 1921 in Bern18 schildert Steiner anschaulich das Denken und die darin begründete Auffassung der Welt der damaligen Zeit, indem er ein fiktives Gespräch eines heutigen Naturwissenschaftlers mit einem Vertreter der griechischen Naturphilosophen der vorsokratischen Zeit entstehen lässt. In dieser Unterhaltung berichtet der heutige Naturwissenschaftler von den enormen Erkenntnissen, die durch die materielle Betrachtung und Erforschung der Natur gewonnen wurden. Er führt die vielen Elemente, wie Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel usw., auf und erklärt, dass diese «… eigentlich alles miteinander ausmachen, was da in der physisch-sinnlichen Welt vorgeht. Was man auch sieht, es beruht auf der Verbindung und Entbindung dieser Elemente».

Nun erwidert in diesem Gespräch der alte Grieche, dass es ja recht schön ist, dass jetzt so viele Elemente bekannt sind, aber damit würde man den Menschen ganz gewiss nicht kennenlernen. Der Anfang der Menschenerkenntnis müsse darin bestehen, dass alles, was uns äußerlich umgibt, als Ergebnis des Zusammenwirkens der Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer verstanden wird. Dem Einwand des Naturwissenschaftlers, dass die Vorstellung von den vier Elementen eine sehr kindliche sei und man ja genau wisse, dass Wasser und Luft keine Elemente seien und Feuer kein Stoff sei, begegnet der Grieche: «Es ist ja schön von euch, dass ihr diese Erde differenziert und spezifiziert und sie auch in großer Mannigfaltigkeit in zweiundsiebzig oder sechsundsiebzig Elemente gespalten denken könnt, das ist alles schön; wir waren noch nicht so weit, diese interessanten Einzelheiten kennenzulernen, aber wir haben das alles zusammengefasst unter dem Ausdrucke ‹Erde›. Aber was wir unter Wasser, Luft und Feuer verstanden, davon versteht ihr gar nichts, und weil ihr davon nichts versteht, könnt ihr auch keine Menschenerkenntnis haben.»

Und er führt dann weiter aus, dass sich alle diese heute bekannten Elemente «… nur auf den Menschen, der im Grabe liegt, auf den menschlichen Leichnam (beziehen). So wie sich die Dinge verhalten im Menschen, als menschlicher Leichnam, das kann man erkennen mit eurer Chemie und Physik; aber gar nichts kann man erkennen damit von dem Menschen, der zwischen Geburt und Tod lebendig herumwandelt. Ihr habt eine Wissenschaft, die sich nur auf das Beobachten des Menschen, nachdem er gestorben ist, bezieht.» – «… denn wollt ihr eine Wissenschaft von dem lebenden Menschen haben, dann müsst ihr zunächst betrachten das umfassende, das universelle Weben und Leben desjenigen, was wir ‹Wasser› nennen. Wir nennen auch nicht das grobe, flüssige Element, das im Bache rinnt, Wasser, sondern wir nennen alles das Wasser, wo Kaltes und Feuchtes in der Welt ineinander spielt.»

Eine abstrakte Vorstellung der vier Elemente «Erde», «Wasser», «Luft» und «Feuer» war den Griechen fremd. Vielmehr sahen sie in diesen etwas Wesenhaftes wirken, dem man sich in bildhafter Vorstellung nähern konnte. So wurde zu dem Element «Erde» gehörig alles dasjenige gesehen, wo Trockenes und Kaltes zusammenwirkt. Zur «Erde» gehört das Feste, das Gewordene, das Schwere, das räumlich Bestimmbare, das Unbewegte, in dem die Gesetze der Physik und Chemie gelten. Alles dasjenige, was diese Eigenschaften trägt, wurde als «Erde» bezeichnet.

Das «Wasser» dagegen war dasjenige, was zwischen dem Kalten und Feuchten wirkt, was fließt, was ständig seine Gestalt verändert, was sich vermischt, der Schwerkraft den Auftrieb entgegenstellt, was als Feuchtes, sich mit der Luft verbindend, aufsteigt und als Regen wieder herniederfällt, einen ständigen Kreislauf bildend. So wie die «Erde» den Bereich des Toten repräsentiert, so wurde das «Wasser» als Ausdruck der Gesetzmäßigkeit des Lebendigen gesehen.

Die «Luft» wiederum wurde im Zusammenwirken des Feuchten und Warmen gesehen. Die Luft füllt den Raum aus, berührt alle Dinge, bleibt dabei aber an der Oberfläche ohne, wie die Wärme, in sie einzudringen. Die Luft, ständig selbst in Bewegung, bewegt alle Dinge. Einmal von außen als Wind, der leise, flüsternd, aber auch brausend, stürmend, tobend sein kann, zum anderen von innen, als Trieb, als Emotion des Seelischen. So steht die «Luft» auch für das äußere und innere Klima. Sie ermöglicht das soziale Miteinander, indem sie verbindet und vermittelt. Die Menschen atmen die gleiche Luft, und der Ton, die Sprache wird von der Luft getragen. Sie ermöglicht das In-Beziehung-Treten. Entsprechend war das Luftige ein Repräsentant des Seelischen.

Das «Feuer» bzw. «Wärme» wurde dem Warmen und Trockenen zugeordnet. Das Feuer ergreift und durchdringt die Dinge, im Gegensatz zur Luft, die sie nur berührt, verwandelt sie zerstörend in Licht, Wärme und Asche. Andererseits durchdringt die Wärme die anderen Elemente, befeuert die Luft und das Wasser gleichsam zu innerer Tätigkeit und unterstützt so das Gedeihen der Natur. Die Eigenschaften des «Feuers» wurden dabei als Ausdruck des Geistigen gesehen.

Die Elementenlehre der Griechen drückt somit ein Denken aus, das sich vornehmlich am Prozessualen orientierte. Die Menschen suchten in ihrem Denken nicht das Gewordene auf seine Bestandteile hin zu untersuchen, sondern die Beziehungen der Dinge untereinander, ihr Entstehen und Vergehen. Das Aufeinander und Zusammenwirken der Elemente war das Wesentliche, und die Vorgänge in der Natur und im Leben waren geprägt durch das Mischungsverhältnis der Elementenwirksamkeit.

Ein besonderes Beispiel für diese Art des Denkens, das in Bewegung bleibt, das Für und Wider bedenkt, an Neuem oder Altem anknüpft, dieses einbezieht, nicht diskutiert oder zementiert, und des sich daraus ergebenden Gespräches sind die Dialoge Platons.

In dieser Art des bewegten Denkens können wir nun wiederum die übergeordnete Eigenschaft des Wässrigen und die Gesetzmäßigkeit des Lebendigen sehen. Auch sahen die Griechen die Bedingungen für das Wässrige, das Lebendige, nicht auf der Erde, sondern im Kosmos beheimatet.

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