Christiane Kutik

Herzensbildung

Von der Kraft der Werte im Alltag mit Kindern

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

VORWORT

EINLEITUNG:
WARUM DAS HERZ GEBILDET WERDEN MUSS

GEBORGENHEIT

SELBSTACHTUNG

MITGEFÜHL

KONFLIKTFÄHIGKEIT

EIGENSTÄNDIGKEIT

WERTSCHÄTZUNG

WAHRHAFTIGKEIT

WELTINTERESSE

SEELENNAHRUNG

SCHÖNHEITSSINN

NATURVERBUNDENHEIT

HUMOR UND HEITERKEIT

ANMERKUNGEN

IMPRESSUM

LESEPROBE

NEWSLETTER

Vorwort

Kinder werden heute viel gefragt: Sie sollen entscheiden, welches Joghurt, welches Müsli, welches T-Shirt, welchen Ausflug, welches Programm sie denn gerne hätten. In den jungen Erdenbürgern könnte das den Eindruck erwecken, es ginge hier im Leben hauptsächlich um das Materielle. Und darum, dass alles «Spaß machen» soll – selbst wenn wertschätzendes Miteinander dann auf der Strecke bleibt. «Unsere Kinder haben keine Lust zu grüßen», sagt zum Beispiel ein Elternpaar. – «Und bitte und danke sagen sie auch nicht?» – «Die wollen das nicht. Und dann lassen wir sie.»

Allerdings ist es keineswegs großzügig, Erziehung auf das zu reduzieren, was Kinder mögen, denn es vermittelt ihnen die Haltung: ‹Sei dir selbst der Nächste. Tu was du willst. Es ist in Ordnung, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen.›

Und wie oft werden Kinder selbst brüskiert, beispielsweise wenn die liebsten Menschen, die sie haben, ihnen zu wenig Aufmerksamkeit widmen, weil es im Alltag ständig «schnell, schnell» gehen soll – und sie andererseits erleben, dass ein kleines, smartes, elektronisches Gerät oft mehr Zuwendung erfährt als sie selbst.

So gehört es in unserer modernen Zeit der Fülle und Möglichkeiten zu den großen Erziehungsaufgaben, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Und wesentlich ist, dass wir Erwachsene unsere Herzenskräfte aktivieren. Dass wir als Eltern und Erziehende es wieder wagen, Werte hochzuhalten und vorzuleben – selbst wenn andere einen dann für «altmodisch»halten.

Für Kinder ist es niemals altmodisch, zu spüren, wie sich Geborgenheit anfühlt. Oder mitfühlen zu können. Oder zur Eigenständigkeit ermutigt zu werden. Kinder lieben es, wenn Erwachsene mit ihnen bewusst schöne, aufbauende Dinge pflegen, wenn sie sich Zeit nehmen, zuzuhören oder mit ihnen Wunder zu entdecken.

Kinder sind auf herzliche Zuwendung geradezu angewiesen – die gar nicht immer stundenlang dauern muss und doch Regelmäßigkeit braucht. Jede wertschätzende Handlung, die wir Kindern vorleben, gibt ihnen Halt und Lebenssicherheit.

Dafür will dieses Buch Sie begeistern. Es zeigt, wie es – trotz der Herausforderungen des modernen Lebens – gelingt, im Alltag kleine Freiräume für das zu schaffen, was innerlich belebt und beflügelt und begeistert. Wo Kinderaugen wieder strahlen und wo durchweg auch der Humor seinen Platz hat.

München, 26. Februar 2016     Christiane Kutik

Warum das Herz gebildet werden muss

Ein Sechsjähriger sitzt mit seinem Papa in einer Eisdiele. Auf einmal und ganz unvermittelt fragt er: «Du, Papa, gell, es gibt schon mehr gute Menschen als schlechte. Oder?»

Der Vater schaut zunächst etwas ratlos und rückt seinen Stuhl zurecht. Schließlich antwortet er beherzt: «Ja! Und jeder kann jeden Tag etwas dazu beitragen.»

Und was ist es denn, was «jeder jeden Tag dazu beitragen» kann? Elterliche Ratschläge − wie etwa: «Lüg nicht!», «Iss nicht so unappetitlich!», «Sag keine schlimmen Ausdrücke!» − erreichen nichts. Viel wirksamer ist das Bemühen, bei sich selbst anzufangen. Selbst darauf zu achten, dass man das sagt, was wahr ist. Selbst vorzumachen, wie man gepflegt isst. Selbst nicht zu fluchen.

Denn Kinder nehmen sehr genau wahr, was wir Erwachsene vorleben. «Aber du machst es doch auch», ruft der Sohn, als seine Mama, die von den Kindern keine Schimpfworte duldet, selbst eines von sich gibt. – «Oh, das tut mir leid», sagt sie. «Da muss ich wirklich mehr aufpassen.»

Mehr aufpassen: das sollten wir alle. Und eigene Fehler bemerken und zugeben. Denn auch das gehört zur Bildung des Herzens.

Wir sollten nicht gleich beleidigt reagieren, wenn Kinder uns mit ihrer natürlichen Offenheit eigene Nachlässigkeiten spiegeln. Sondern lernfähig sein. So heißt es schon bei Goethe: «Ein Werdender wird immer dankbar sein.»1 – Und Werdende sind wir auch als Eltern: Wir können viel lernen, wenn wir mehr darauf achten, was Kinder an Herzensimpulsen mit auf die Welt bringen.

Herzensimpulse der Kinder

Haben Sie schon einmal beobachtet, wie gerne kleine Kinder teilen? Alle Kleinen haben – zunächst – diese wunderbare Eigenschaft. Doch wie oft wird sie von Erwachsenen ausgebremst!

So wie bei diesem Kind im Kinderwagen: Der Vater gibt ihm ein Apfelstück. Das Kind nimmt es, beißt ab und streckt es sogleich seinem Papa entgegen. Er soll auch abbeißen. Doch der schüttelt den Kopf. Das Kind versucht es erneut. «Nein», wehrt der Vater ab. «Das ist alles für dich!»

Erwachsene mit der Einstellung «Alles Beste nur für das Kind» halten sich oft für großzügig. Und merken nicht, wie dadurch die natürlichen Herzenskräfte der Kinder zurückgedrängt werden. Vielleicht wird dieses Kind – und auch andere, die derartig abgewiesen werden – den Eltern noch ein paar Mal etwas anbieten – bis es gelernt hat: Meine Gaben sind gar nicht erwünscht.

Doch Kinder wollen ernst genommen werden. Und sie sehnen sich nach herzlicher Zuwendung der Eltern.

Herzliche Zuwendung lässt Kinder aufblühen

Gerade auch den Familienmitgliedern, die wir ja so gut kennen, können wir Herzlichkeit schenken. Dann kosten wir eben ein klein wenig von dem dargebotenen Apfel und sagen freundlich «Danke». Und das Kind wird es mit einem Strahlen quittieren und lernen: «Es ist gut, wenn ich abgebe.»

Nehmen wir uns daher vor, keine materielle Belohnung zu verteilen – denn wir können es ja selbst beobachten, dass ein herzliches Dankeschön mit Augenkontakt und ein Anlächeln das Kind freut und beglückt.

Lächeln ist ansteckend

Kinder spiegeln uns helle, echte Freude, wenn sie gesehen werden. Wenn sie ein herzliches Lächeln spüren, einfach so, mal zwischendurch. Lächeln schafft die kürzeste Verbindung zwischen Menschen und erwärmt Herzen. Und das braucht die Welt. Denn lächeln, wirklich herzlich lächeln kann nur der Mensch.

Tun Sie es also öfter und lächeln Sie Ihr Kind an – wo immer Sie mit ihm beisammen oder unterwegs sind. Und Sie können sich freuen, denn Lächeln ist ansteckend. Wem Sie es auch schenken: es kommt zurück.

Keine materielle Belohnung

Schenken, teilen und helfen sind ganz ursprüngliche Impulse der Kinder. Wir sollten sie daher für diese natürliche Bereitschaft nicht materiell belohnen. So wie kleine Kinder die Fähigkeit mitbringen, mit anderen zu teilen, so sind sie auch von sich aus motiviert zu helfen – solange es ihnen nicht abgewöhnt wird. Mittlerweile belegen «mehr als 100 Studien, dass Belohnung die Eigenmotivation schwächt».2 In einer dieser Studien mit zwei Gruppen von zwanzig Monate alten Kleinkindern sollte eine Versuchsleiterin ihren Schreibtisch aufräumen und dabei einen Bleistift fallen lassen. Den Kindern der ersten Gruppe gab sie für das Aufheben je einen Spielklotz. Die Kinder der zweiten Gruppe bekamen ein freundliches Lächeln. Die Forscher stellten fest: Bei den Kindern, die für ihre Hilfeleistungen materiell belohnt wurden, ließ der innere Drang zu helfen nach.

Herzlichkeit in der Begegnung

Überhaupt: Nicht nur das Lächeln, sondern jede Begegnung beglückt. Daher ist das Begrüßen so wichtig. Gleich am Morgen können wir uns innig begrüßen. Mit Körperkontakt. Mit Namen. Statt den Morgenmuffel zu markieren. Beobachten Sie doch einmal, wie der Tag gleich ganz anders beginnt! Man kann es unmittelbar spüren. Die paar Sekunden Zeit gibt es dafür immer. Dasselbe gilt für ein herzliches Verabschieden. Und es stärkt Kinder emotional.

Kinder emotional stärken

… das ist heute unerlässlich, wo das Thema Gewalt allgegenwärtig ist und wo ein Negativtrend durch Medien, Werbung oder angesagte Spielfiguren verbreitet wird, etwa durch die «Minions», die verkünden: «Wir wollen dem größten Schurken dienen.»

Hier können Sie als Eltern ein «gutes Gewissen» haben, wenn Sie Ihrem Kind Dinge verweigern, die eindeutig negativ gepolt sind. Oft ist hier der Einwand zu hören: «Aber dann ist mein Kind sauer.» Das ist völlig in Ordnung. Das passiert bei Kindern häufig.

Doch letztendlich lernt Ihr Kind, dass Ausflippen nicht belohnt wird und dass Papa und Mama eine klare Haltung haben – ohne einzuknicken. Das erfordert Mut. Und Mut ist eine wichtige Herzenskraft, die hier vorgelebt wird. Das stärkt Ihr Kind.

Geborgenheit

Trösten und Beruhigen

Ein Kind fällt hin. Seine Mama greift nach ihrer Tasche und ruft: «Moment, warte, die Arnikakügelchen! Wo hab ich die denn?» – Eine andere Mutter: «Ich kann dir aushelfen. Ich hab immer welche dabei.»

Das Kind bekommt die Kügelchen und obendrein noch jede Menge Fragen: «Wo tut’s denn weh? Ist es schlimm? Nun sag schon!» Doch das schluchzende Kind will und will sich nicht beruhigen.

Wie anders ist es bei diesem Kind, das eben gestürzt ist: Seine Mama beugt sich zu ihm hinunter. Sie streichelt ihm über den Rücken und singt:

Heile, heile Segen,

drei Tage Regen,

drei Tage Sonnenschein,

wird schon wieder gut sein.

Das Kind entwindet sich den tröstenden Armen. Und es sieht ganz so aus, als ob der Schmerz verflogen wäre.

So rasch? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kinder sich am besten beruhigen, wenn man sie in den Arm nimmt und ihnen etwas vorsingt. Kurzum, wenn sie Nähe und Geborgenheit spüren.

Geborgenheit ist ein menschliches Grundbedürfnis

Dieses Bedürfnis geht weit über Situationen des Tröstens hinaus. Eine Mutter sagt in diesem Zusammenhang: «Das Kind braucht keine tollen Klamotten oder Ausflüge oder Spielsachen. Sondern es braucht einen vertrauten Erwachsenen, der herzlich ist und der zu ihm hält.»

Kinder sind geradezu angewiesen auf ein wohlwollendes Gegenüber, das sich für sie interessiert, ihnen Halt und Sicherheit gibt und das Gefühl vermittelt: Hier bin ich richtig. Und überhaupt: Ich bin richtig!

Kinder brauchen Nestwärme. Sie wünschen sich, angenommen zu sein und zu spüren: Hier ist mein Platz – und hier habe ich Rückhalt.

Kinder wollen Liebe spüren

Sie wollen spüren: «Ich bin geliebt, weil es mich gibt. Die Eltern mögen mich und zeigen mir das auch.» Statt von Eltern bedrängt zu werden, dass man nicht so schüchtern sein, mehr Freunde haben und ohnehin ganz anders sein soll.

Kinder sollen unbedrängt sein dürfen – in dem Sinne, wie Alice Miller es zusammengefasst hat: «Ich bin niemandem Heiterkeit schuldig und muss nicht meinen Kummer oder Angst oder andere Gefühle nach den Bedürfnissen anderer unterdrücken.»3

Keine Zeit?

Geborgenheit zu geben scheint heute nicht leicht – in einer Zeit, in der gerade auch Eltern unter dem Druck langer Bürostunden leiden und ihr Alltag von Stress geprägt ist. Wie sehr wünschen sie sich, mehr Zeit mit den Kindern zu haben!

Näher besehen gibt es die Zeit. Doch bleibt sie oft ungenutzt, weil Mutter und Vater zwar physisch anwesend sind – jedoch nicht präsent. Das ist ein wunder Punkt, den schon die Kleinsten erleben. Immer wieder fordern sie die Präsenz ihrer Eltern ein.

So wie dieses Zweieinhalbjährige, das auf seinem Laufrad sitzt und der Mama ein Kunststück vorführen will. «Schau mal!», ruft es begeistert und zieht schnell die Füße hoch. Doch seine Mama ist mit ihrem Smartphone beschäftigt. Das Kind wieder: «Mama, schau!» – «Ich schau ja», ruft sie. Sie blickt kurz auf und heftet die Augen dann weiter auf ihr Mobilgerät. – «Mama, warum schaust du nicht?» – «Ich bin doch da», meint sie.

Ein nur körperliches «Ich-bin-doch-da» ist für Kinder nicht genug

Allein physisch präsent zu sein reicht nicht aus − auch nicht für all die Babys, die ihr Liebstes, die Eltern, gar nicht anschauen können, weil sie mit Blick nach vorne geschoben werden.

Und auch nicht für diese Zehnjährige, die der Mama vorhält: «Nie hast du Zeit!» Die Mutter erwidert: «Stimmt nicht, gestern waren wir doch Eis essen.» – «Ja, aber du hast die ganze Zeit nur in dein Handy getippt.»

Ein Kind, das spürt, dass ein Gerät wichtiger ist als es selbst, ist nicht geborgen.

Kuscheln vor dem Bildschirm?

Auch wenn wir mit den Kindern fernsehen, gibt es ihnen keine Geborgenheit.

«Wieso nicht?», entgegnet der Vater einer Fünfjährigen. «Wir gucken immer gemeinsam. Sie sitzt dann auf meinem Schoß, und ich halte sie.» Und er fügt hinzu: «Manchmal habe ich schon das Gefühl, dass ihr das Kuscheln wichtiger ist als die Bilder.» Bei der Frage, warum er dann den Bildschirm überhaupt anschaltet, wird er nachdenklich. «Stimmt eigentlich … Es ist mehr so aus Gewohnheit. Und ich will ja auch mit meinem Kind in Kontakt sein.»

Doch «sind Bildschirme bei den ganz Kleinen aus grundsätzlichen Überlegungen heraus schädlich», wie u. a. der bekannte Hirnforscher Manfred Spitzer nachweist.4 Und um mit den Kindern wirklich in Kontakt zu sein, gibt es wertvollere Möglichkeiten, als gemeinsam vor der Mattscheibe zu sitzen.

Mit den Kindern in Kontakt sein

… das gelingt, wenn Sie, liebe Eltern, sich Ihrem Kind direkt und persönlich zuwenden und sich mit ihm unterhalten. «Worüber denn? Kinder verstehen ja noch gar nicht richtig», heißt es oft. Und ob Kinder verstehen! Schon als Babys sind sie vollkommen empfänglich für die herzliche Kontaktaufnahme, beispielsweise für ein freundliches Gesicht, das es anlächelt und ihm zunickt. Lächeln Sie mal ein Kind an, das im Bus, in der U-Bahn, an der Haltestelle oder sonst wo im öffentlichen Raum ohne Blickkontakt zu Mama oder Papa in seinem Wagen sitzt. Und Sie werden bemerken, wie dem kleinen Wesen die Augen aufgehen, wie es beginnt zu lächeln, wie es sich freut. Entscheidender ist natürlich, dass die Eltern das tun, denn Kinder sind auf eine direkte Verbindung zu den Eltern oder Bezugspersonen geradezu angewiesen.

Verbindung pflegen

Ein Kind ist wichtiger als Geräte. Zeigen Sie ihm das, liebe Eltern, und nutzen Sie Mobilgeräte unterwegs bewusst nur für dringende Nachrichten. Schauen Sie es stattdessen viel öfter freundlich an, nicken ihm zu, lächeln es an und sprechen Sie mit ihm. Und Sie können sich freuen, wie dann sofort die Augen des Kindes aufleuchten, sobald es echte Zuwendung spürt.

Pflegen Sie außerdem im Alltag viele kleine Rituale, die Geborgenheit vermitteln.

Die wichtigsten Geborgenheitsrituale

Zu den wichtigsten Geborgenheitsritualen für Kinder gehört, dass wir sie aufmerksam und liebevoll begrüßen und verabschieden. Nicht nur am Morgen, sondern auch während des Tages − und jedes Mal mit Augenkontakt, Berührung, einem Bussi und ein paar herzlichen Worten. Doch wie oft wird gerade dies versäumt, weil Eltern meinen, ein «Hallo»im Vorbeigehen würde dem Kind genügen. Oder gar sagen: «Unsere Kinder mögen das nicht.»