Susanne Breit-Keßler

Lebenssätze

Die Inspiration der Zehn Gebote

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Für Dieter

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee

Umschlagmotiv: © Corbis

ISBN (E-Book): 978-3-451-34655-2

ISBN (Buch): 978-3-451-61117-9

Inhalt

Vorwort

Das erste Gebot: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Das zweite Gebot: Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz brauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.

Das dritte Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen.

Das vierte Gebot: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.

Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten.

Das sechste Gebot: Du sollst nicht ehebrechen.

Das siebte Gebot: Du sollst nicht stehlen.

Das achte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Das neunte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.

Das zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.

Nachwort

Vorwort

Einen »Katalog von Menschenpflichten« hat Altbundeskanzler Helmut Schmidt die Zehn Gebote einmal genannt. Das ist sicher richtig – aber es sagt noch nicht alles über diese kurzen knappen Sätze, die einen Schutzraum für das Leben bieten, von dem des Kindes über das des Jugendlichen bis hin zum Dasein des Erwachsenen und der Greisin. Die Zehn Gebote verpflichten nicht nur zu einem respektvollen Umgang miteinander, sie machen vor allen Dingen erst einmal Freiheit möglich – Freiheit, sich zu entfalten, sich zu erproben in diesem Leben, es kennenzulernen mit seinem weiten Horizont und seinen Grenzen.

Die Zehn Gebote, viel zu oft missverstanden als moralinsaurer Katalog des Unerlaubten, sind ein bunter Strauß von Lebenschancen, zusammengebunden von der Frage, an wem oder was ich mein Leben ausrichte. Mit gebührendem Ernst machen sie deutlich, wie Alleinsein und Miteinander ernsthaft, verlockend und natürlich fröhlich gestaltet werden können. Die Zehn Gebote machen durchaus im umgangssprachlichen Sinne »selig«, wenn man den ganzen Strauß bewundert, an einzelnen Blüten schnuppert, sie betrachtet, vielleicht interessiert herausnimmt und schließlich wieder in das Gesamtarrangement zurücksteckt.

Zehn Gebote – Lebenssätze, die Lust machen, nachzudenken und anders zu handeln.

Das erste Gebot

Ich bin der Herr, dein Gott,

der dich aus der Knechtschaft

geführt hat. Du sollst nicht

andere Götter haben neben mir.

Ich bin

Ich bin – mit diesen zwei kleinen Worten eröffnet Gott die Liste der Zehn Gebote. Bevor er Räume zum Leben eröffnet und die Weite des Daseinshorizonts abschreitet, sagt er, wer er ist. Ich bin, das ist eine Aussage über die eigene Identität.

Wer bin ich? Ich kenne meinen Namen, weiß, was mich bisher geprägt hat: Uneheliche Geburt, der Pfarrer, der mir die Taufe verweigert, weil ich »Kind der Sünde« bin. Meine Mutter, die wie eine Löwin für ihre Tochter und ihr Recht auf die Sakramente kämpft.

Sie findet einen Vikar, der mich im Wohnzimmer tauft. Ich bin ein Kind Gottes, sagt er liebevoll. Der Pfarrer dagegen muss bald darauf gehen, weil er kleine Mädchen, nackt unter Baströckchen, durch ein Flüsschen waten lässt. Röckchen in die Höhe.

Ich erlebe eine Kindheit in einfachen Verhältnissen. Der geliebte Vater ist bald schwer krank, die Mutter pflegt ihn liebevoll. Es riecht nach Äther im »Taufzimmer«. Wunden müssen verarztet werden. Ich spiele neben Medikamenten.

Ich bin: Ein kleines Mädchen, das neugierig ist auf die Welt und von seinen Eltern schon bald freigelassen wird. Suche du dir deinen Weg!, heißt es. Ich gehe als Erstes in den Kindergottesdienst, weil es dort aufregende Geschichten zu hören gibt. Und die Gebote!

»Ich bin!«, sagt Gott. Er verbindet seine Aussage mit der ersten Erinnerung, die das Volk an ihn hat. Gott ist der, der ein Ende macht mit aller Sklaverei und in die Freiheit führt. Wer sich ihm anvertraut, spürt frischen Wind um die Nase.

»Ich bin« – seit wann kann ich das sagen? Meine erste Erinnerung ist die an den irdischen Vater. Er darf nur zu Besuch kommen, denn unverheiratete Paare können zu jener Zeit nicht zusammenleben. Ich stehe im Gitterbett und warte, dass er kommt.

Endlich ist er da. Jetzt will ich auch essen, kann schlafen. Am nächsten Morgen, als ich aufwache, ist er wieder weg. Meine Mutter verheißt seine Wiederkehr. Ich warte wieder. Und er kommt. Verlässlich, jeden Tag. Bis er zu uns ziehen kann, weil er Hilfe braucht.

»Ich bin derjenige«, sagt Gott, »der dir Leben möglich macht. Lass andere sagen, was sie wollen. Kümmere dich nicht um ihre verlogene, selbstgerechte Moral. Du bist mein geliebtes Kind, meine geliebte Tochter. Ich bin dein Vater. Du sollst leben!«

Wunderbare Unvollkommenheit

Gott sagt, wer er ist. Er erinnert an die ersten gemeinsamen Erfahrungen. Gott wünscht sich Treue – und er will uns nicht teilen. Das erinnert natürlich an die Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Ich will meinen Mann keinesfalls teilen – er mich auch nicht. Trotzdem spreche ich jetzt nicht von der Treue in einer Partnerschaft, sondern davon, dass dieser eine Gott ganz klar entlasten will.

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Manchmal sagt mein Mann zu mir lächelnd »meine Göttin« – und ich weiß, dass er das mit zärtlicher Ironie sagt. Er kennt meine Schwächen viel zu genau. Würde er es ernst meinen, wäre das ein Problem. Ich bin der Herr, dein Gott: Lass dich nicht dazu verführen, deinen Mann, deine Frau in den Himmel zu heben und alles von ihm, von ihr zu erwarten.

Der Partner, die Partnerin – sie sind nicht Gott, nicht vollkommen. Sie sind nicht dazu da, einen zu erlösen von allen Übeln. Wer an Gott glaubt und sich von ihm Zuwendung erhofft, kann seinen Mann, seine Frau entlasten vom Terror der totalen Verantwortung für das ganze eigene und gemeinsame Leben. Die Endlichkeit zeigt sich auch im begrenzten Glück. Wir müssen und dürfen uns einüben in die Freude am halb Gelungenen.

Mein Mann hat Pfannkuchen gemacht und die Küche nicht aufgeräumt? Jetzt kommt Arbeit auf mich zu – aber seine braunen Augen haben so unfassbar geleuchtet, dass ich einfach nichts sagen kann und stillschweigend-verliebt alles sauber mache. Umgekehrt legt er nur leise knurrend die weißen Handtücher ins oberste Fach des Kleiderschrankes und die bunten ins Bad, weil ich es gerne so habe. Einfach so. Ohne Grund.

Ich liebe meinen Mann. Er ist mein gleichberechtigter Partner. Gott ist für mich alleiniger Herr meines Lebens. Das erspart uns »Irdischen« Allmachtsfantasien und Überforderung. Wir können uns nicht wechselseitig die Seligkeit garantieren – höchstens für eine wunderbar begrenzte Zeit. Wir sind ganzer und wahrer Mensch – in charmanter und hinreißender, manchmal nervenaufreibender Unvollkommenheit. Das macht dieses gemeinsame Leben so abwechslungsreich …

Aufbrüche

Glaube ist Beziehung, ist Leben in der Gegenwart mit ganz unterschiedlichen Erinnerungen an Vergangenheit und wagemutige, manchmal nur zaghafte Hoffnung auf Zukunft. Ich erinnere mich daran, dass Gott von Anfang an zu meinem Leben gehört hat – mal näher und mal sehr fern.

Mein Glaube: Ich denke an verschiedene Aufbrüche, Formen des Exodus, die ich durchgemacht habe: Auszug aus meinem kindlichen Zuhause, der Tod der Eltern, Krankheit, Verlust und die Trennung von Menschen, die ich lieb gehabt habe, Um- und Ausbrüche aus dem Gewohnten.

Es war mir möglich, mich auf den Weg zu machen, erwachsen zu werden, Verantwortung für mich und andere zu übernehmen, Vertrauen zu lernen, phasenweise zu verlieren und neu zu lernen. Exodus, Auszug aus Knechtschaft, neuer Aufbruch meint nicht eine immerwährende und zu bekämpfende Tretmühle.

Exodus ist sozusagen das Grund- oder Eckdatum unserer Existenz: Unser Gott hat von Anfang an klargemacht, dass er Freiheit für seine Geschöpfe will, nicht Unterwerfung. Er ist nicht kühl und unnahbar auf einem jenseitigen Thron hocken geblieben. Er hat sich in Bewegung gesetzt und ist Mensch geworden.

Ich bin der Herr, dein Gott. Neben ihm, dem Baby der Weihnachtsgeschichte, dem eigensinnigen Kämpfer für individuelles Leben, dem Mann am Kreuz, sollen wir keine anderen Götter haben. Das ist doch mal ein Herrschaftsanspruch: ein menschlicher Gott mit Kinderaugen, revolutionärer Seele und geschundenem Leib …

Aufbruch, Exodus zusammen mit ihm bedeutet: Wir kommen nicht immer im Gelobten Land an, in dem Milch und Honig fließen. Aber wir gewinnen, klein und schwach, groß und stark oder umgekehrt ordentlich Boden unter den Füßen, entdecken Raum zur Entfaltung und Entwicklung.

Schreck lass nach!

Aus der Knechtschaft geführt werden – das ruft nicht nur Jubelstürme in mir hervor. Denn irgendwie ist es doch auch ganz nett, sich in gewohnter Umgebung, in alten, vertrauten Verhaltensweisen einzurichten, nichts Neues mehr zu probieren. Gemütlich, immer das Gleiche zu essen, zu trinken, zu sagen, zu denken. Nichts Überraschendes mehr tun – das erspart mir Anstrengung und Mühe.

Diese Form von Knechtschaft hat auch gute Seiten: Gewöhnung, beruhigender Trott. Ich erspare mir Angst vor dem Aufbruch, muss mich nicht verblüffen lassen, neu sortieren und orientieren, bin nicht beunruhigt. Wenn sich zwei Menschen begegnen und beide sagen: »Alles beim Alten!«, dann sind sie meist zufrieden. Es ist nichts weiter passiert. Gut so!

Bloß – wenn man für immer dabei stehen bleibt, immer die ewige Wiederkehr des Gleichen begeht und womöglich auch noch feiert, dann wäre es so, als ob man sich zum Sklaven, zur Gefangenen des eigenen Lebens macht. Dann gönnt man sich keine Exkursionen ins Dasein, in die Wildnis der Gefühle, das schöpferische Chaos der Gedanken, die wilde Lust am Handeln. Wirklich: Es ist aufregender und schöner, neugierig zu sein.

Ich treffe Menschen im Rentenalter, die keinen Sinn für Bastelkreise und Diavorträge haben, dafür Computerkurse belegen und wie die Weltmeister durchs Internet surfen. Ein Freund von mir, der durch einen Motorradunfall jedes Gefühl und alle Kraft im rechten Arm verloren hat, macht einen Tauchkurs, um sich und die Welt neu zu spüren. Eine Witwe, der der Tod ihres Mannes schier das Herz gebrochen hat, fasst sich wieder eines und reist allein in den Urlaub, besucht Freunde, gibt Einladungen. Ein junger Mann, den ich im Gefängnis kennenlerne, nimmt widerstrebend an der Arbeitstherapie teil. Zum ersten Mal begreift er, was Pflichten und Termine sind – und freut sich wie ein Schneekönig, als sein hölzerner Nähkorb schnell verkauft und ständig nachbestellt wird.

Exodus, Aufbrüche: Es ist tatsächlich richtig Arbeit, etwas Neues anzufangen. Es braucht Mut, sich in unbekannte Gefilde zu wagen. Aber ist es nicht verlockend, dem Ruf desjenigen zu folgen, der sagt: Ich habe dich aus der Knechtschaft geführt – und wann immer du in eine neue gerätst, ich hol’ dich da wieder ’raus? Trau dich, komm … Geh auf neuen Wegen! Du kannst das!

Der ich bin

Auch das Miteinander lebt wie die Liebe von Erfahrungen, dass der andere anders ist und bleibt, einem manchmal fremd vorkommt. Deswegen kann es gelegentlich ziemlich unharmonisch zugehen, ein andermal leidenschaftlich und begeistert im besten Sinn. Den anderen sein, leben zu lassen, ohne ihn sein zu lassen, das ist neben der Ehre Gottes Mittelpunkt der Zehn Gebote.

Das hat natürlich seine problematischen Seiten. Zum Beispiel, wenn dieser oder diese andere das eigene Sein absolut setzt. Daneben ist kein Platz mehr. »Ich bin nun mal so, damit musst du dich abfinden«, sagt ein Mann zu seiner Frau. »Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen.« Oder sie sagt schnippisch zur kranken Kollegin: »Ist mir egal, wie viel Arbeit noch zu tun ist. Sieh zu, wie du das hinkriegst. Ich habe eine Verabredung.«

Ich bin, und du bist – mir gleichgültig. Dieser Satz tut höllisch weh. Gott meint es doch himmlisch: »Ich bin, der ich bin« – für dich, für euch. Ich bin da, einmalig, unverwechselbar. Und ich werde in Zukunft der sein, der ich sein werde – ich bin dynamisch, beweglich, lasse mich auf dich ein. Ich gehe mit euch auf allen euren Wegen. Ich mache das unbeirrt. Auf mich ist Verlass.

Ich bin, die ich bin – ein schöner Satz, wenn ich anderen damit sage: Ich lasse mich von euch erkennen, ich zeige etwas von mir her, von meinen sonnigen Seiten, meinem Glanz und von meinen Schatten, meinen Schwächen. Ich gebe mich hin – dem liebsten Menschen, demjenigen, dem ich mich ganz und gar anvertrauen kann, der sogar von meinen Abgründen wissen darf.

Gott zeigt sich: »Ich bin, der ich bin.« Wenn wir, wie die Schöpfungsgeschichte erzählt, Gottes Ebenbild sind, als Mann und Frau zu seinem Bilde geschaffen, dann können wir ja immerhin versuchen, es ihm gleichzutun. Ich kann es versuchen. Dann bin ich beständig und verlässlich ich selbst, sodass ich mich selbst und auch andere mich wiedererkennen können in dem, was ich tue und lasse. Meistens jedenfalls.

Ich bin, der ich bin. Aus dem Hebräischen kann man den Namen Gottes auch so übersetzen: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Nehme ich mir das zum Vorbild, dann lasse ich mich auf Veränderungen ein – bei mir, beim anderen. Wir können bleiben, wie wir sind. Aber wir dürfen uns auch verändern, neu werden. Es ist aufregend zu sehen, was aus Kindern wird. Und es ist verheißungsvoll, darauf zu warten, was aus dir, aus mir noch alles werden kann mit den Jahren. Nicht beruflich – sondern als Mensch.

Mit allen Sinnen

Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Diesen Satz lasse ich mir auf der Zunge zergehen wie eine zartbittere Praline. Ich spüre, schmecke ihm nach. Ich atme tief ein und aus, strecke alle meine Glieder – so fühlt sich Freiheit an. Und ich wittere Morgenluft: Jeder Tag ein frischer Tag, der mir die Möglichkeit gibt, mich mit meinen Talenten zu entfalten oder auch einfach Ruhe zu halten, still zu sein, mich zu versenken in die Betrachtung meines Lebens, lustig wie ein Kind durch Pfützen zu laufen oder in Laubhaufen zu springen. Was das mit dem ersten Gebot zu tun hat? Alles.

Seit wann glauben Menschen an Götter? Auf den Tag datieren lässt sich das nicht. Evolutionsgeschichtlich lernt der Mensch zuerst einmal aufrecht zu gehen, Werkzeuge anzufertigen, Feuer zu beherrschen und Pläne zu schmieden. Er lernt, Absprachen darüber zu treffen, was erlaubt ist und was nicht, Sitten und Gebräuche zu pflegen, Tabus zu schützen. Von Anfang an gehört zum Menschsein auch, den eigenen Horizont zu erweitern. Was liegt hinter dem Berg? Wohin kommt man jenseits des großen Wassers? Der Mensch fragt nach sich selbst und nach Sphären, die er nur erahnt. Erschüttert von der Erfahrung, täglich neu ums Leben kämpfen zu müssen, sehnt er sich nach Schutz.

Wie sind die Mächte wohlgesonnen zu stimmen, die günstige Witterung, fette Beute und den Erhalt der Sippe schenken können? Ritualisierte Tänze, Gesänge, Rhythmen stillen anfänglich die eigene Unruhe. Sie sollen Anklang finden im Kosmos, dem man ausgeliefert ist. Der frühe Mensch lebt in einer Welt voller unbekannter Gewalten, die reichlich Anlass bieten für Spekulationen über Götter und Dämonen. Die Mythen, Sagen und Legenden, die aus alter Zeit von Sumerern und Babyloniern, von Ägyptern und Griechen, von Azteken und Inkas überliefert sind, zeugen von höchst fantasievollen Erklärungsversuchen.

Götter sind es, die die Erde beben lassen, Fluten und Feuersbrünste senden. Götter sind es, die sich hinter menschlichem Intrigenspiel verbergen, Neid und Eifersucht ebenso wecken wie edle Tugenden. Antike Götter aalten sich im Olymp oder lustwandelten auf der Erde – selten zur Freude der Zeitgenossen. Liebeshungrig fanden sie sich in Schlafzimmern ein, lauerten Blitze schleudernd in der freien Natur oder tobten durch Schlachten, wenn sie sie nicht gleich selber anzettelten. Später dann, philosophisch verdichtet, geistert Gott als Idee durch die Gedanken. Er ist die Himmelsmacht, die alles beflügelt und beschwingt, Ursache und Antrieb jeder vergänglichen oder ewigen Bewegung.

Gott thront jenseitig, desinteressiert an irdischen Niederungen. Er wird gedacht als Weltseele, als »das Eine« schlechthin. Immer wieder wird er als Sampler alles Guten und Schönen präsentiert, sozusagen als Best-of. Eines haben die Gottesvorstellungen der Geschichte gemeinsam: Sie sind Ausdruck davon, wie sich Menschen selbst verstehen konnten und wollten. Nach wie vor befriedigen die alten Gottesbilder menschliche Bedürfnisse. Gott ist mehr als diese Welt und von ihr einfach nicht zu fassen. Aber anders als menschlich kann man nicht von ihm reden. Darum entwerfen viele Menschen ihr ureigenes Bild von ihm, basteln sich Gott oder Götzen selber.

Schon Martin Luther, der als Kirchenreformer damit seine liebe Not hatte, sagte: »Woran du dein Herz hängst, da ist dein Gott.« Was bekanntlich auch heute hochaktuell ist. Money makes the world go round, gegenwärtig mehr denn je, Geld lässt viele Herzen höherschlagen. Fußballstars oder tote Idole wie Michael Jackson können zum Gott werden, obwohl Fans schon humorvoll und selbstkritisch ein großes Transparent entrollten mit der Aufschrift: »Only God is bigger than Michael«. Anstelle von Beckham oder der irdischen Madonna kann es auch Esoterik oder die eigene Arbeit, kann es flüchtiger Sex mit Fremden oder der Satan, Ecstasy oder Heroin sein, die vergöttert werden.

Je nach dem Grad der Abhängigkeit, der die Anbeter befallen hat, sind diese Ersatzgötter und Diven brandgefährlich. Götzen fressen Freiheit auf. Der christliche Gott macht keine Sklaven. Im Alten Testament zeigt er sich dynamisch und beziehungsfreudig, gelegentlich erschreckend fremd. Nach den Erzählungen des Neuen Testamentes gewinnt er Gestalt, ohne gefällig zu werden, bekommt ein unverwechselbares Gesicht – im Juden Jesus, unromantisch geboren als Kind armer Eltern und gekreuzigt wegen seiner ewig lebens- und menschenfreundlichen Haltung. Hat man Gott früher als Erklärer des Unerklärlichen benötigt, ist er längst in dieser Funktion überflüssig geworden.

Das ist alles andere als schade. Vieles ist von der Wissenschaft erfreulicherweise aufgeklärt, erhellt worden. Der wahre Gott hat keine Lückenbüßeraufgaben. Er macht sich vielmehr selbst zum Gegenstand der Reflexion, setzt sich Menschen höchstpersönlich aus. Festzunageln ist er trotzdem nicht. Er passt übrigens auch nicht als himmlischer »Schachterlteifi«, den man springen lässt, um Kinder oder Erwachsene zu schocken und zu disziplinieren. Der souveräne Gott schätzt eigenständige, unangepasste Leute.

Noch etwas: Jesus ist der schärfste Religionskritiker, den die Erde je gesehen hat. Er gibt Maßstäbe her, um aufzudecken, was der eigene Gott wert ist: Ist er bloßes Produkt von Sehnsüchten, Fantasien oder Größenwahn, Ausgleich für eigene Defizite oder echtes, vitales Gegenüber? Muss man in seinem Gefolge andere verfolgen oder gewinnt man die Größe, sogar Feinde zu lieben? Muss man selbst sich Würde erkämpfen?

Ich bin der Herr dein Gott – bei ihm vergeht mir nicht Hören und Sehen, sondern ich lerne hinzuschauen und hinzuhorchen auf ihn, auf meine Mitmenschen und auf mich. Ich bin raus aus der Nummer mit der Knechtschaft: Ich brauche keine anderen Götter neben ihm. Denn sie sind alle kein Vergleich zu dem Gott, der die Freiheit und Unabhängigkeit seiner Menschen möchte. Der will, dass ich lebe.

Das zweite Gebot

Du sollst den Namen des

Herrn, deines Gottes, nicht

unnütz brauchen, denn der

Herr wird den nicht ungestraft

lassen, der seinen Namen

missbraucht.

Unbewusst

»Herrjeh«, sagt man. Oder »ach Gott«, »um Gottes willen«. Madonna, madre mia, Maria und Joseph!, Sacklzement, Kruzifix, Herrgottsakrament … Die Liste der Worte ist lang, mit denen Menschen ihre Überraschung, ihr Entsetzen, ihre Wut und ihren Zorn ausdrücken. Gott und seine irdische Familie werden dafür weitaus mehr in Anspruch genommen als der Teufel und seine Sippe. Warum ist das so?

In besonders freudigen wie unerwartet schrecklichen Momenten des Lebens ruft man himmlische Mächte an. Die Freundin hat ihren Arbeitsplatz verloren, der Vater ist schwer krank. Oh Gott! Der Bruder trennt sich nach dreißig Jahren Ehe wegen einer Jüngeren von seiner Frau. Ein Flugzeugabsturz, Hochwasser, Erdbeben: Um Gottes willen! Man selbst muss mit ungewisser Diagnose ins Krankenhaus: Du meine Güte!