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Vielleicht ist alles nur

durch die Sehnsucht verbunden.

 

Für Rolf, immer – it was the best of things

to be married to Dustfinger.

 

Für Ileen, die alles über das Verlieren weiß

und immer da war, um den Schmerz zu verstehen

und zu lindern.

 

Für Andrew, Angie, Antonia, Cam und James,

Caroline, Felix, Mikki und last, but for sure not least,

Lionel und Oliver, die alle so viel Licht, Wärme

und Freundschaft in dunkle Tage brachten.

 

Und für die Stadt der Engel,

die mich mit Schönheit und Wildnis fütterte

und mit dem Gefühl, dass ich meine

Tintenwelt gefunden habe.

Ich bin das Lied, das den Vogel singt.

Ich bin das Blatt, das schafft das Land.

Ich bin die Flut, die zieht den Mond.

Ich bin der Strom, der bannt den Sand.

Die Wolke, die den Wind bewegt;

Erde, die zeugt der Sonne Licht;

Das Feuer, das den Flintstein schlägt.

Ich bin der Ton, der formt die Hand.

Wort bin ich, das den Menschen spricht.

 

Charles Causley, I Am The Song

 

Nichts als ein Hund und ein Blatt Papier

Horch, der Schritt der Nacht erstirbt

in der weiten Stille;

meine Schreibtischlampe zirpt

leis wie eine Grille.

 

Goldig auf dem Bücherstand

glühn der Bände Rücken:

zu der Fahrt ins Feenland

Pfeiler für die Brücken.

Rainer Maria Rilke, Larenopfer /

Vigilien III

Mondlicht fiel auf Elinors Morgenmantel, auf ihr Nachthemd, ihre nackten Füße und den Hund, der zu ihren Füßen lag. Orpheus’ Hund. Wie er sie ansah mit seinen ewig traurigen Augen. Als fragte er sich, warum, um aller aufregenden Gerüche in der Welt, sie mitten in der Nacht in ihrer Bibliothek saß, umgeben von schweigenden Büchern, und einfach nur vor sich hin starrte.

»Ja, warum?«, fragte Elinor in die Stille. »Weil ich nicht schlafen kann, du dummes Vieh.« Den Kopf tätschelte sie ihm trotzdem. So weit ist es mit dir gekommen, Elinor!, dachte sie, während sie sich mühsam aus ihrem Sessel erhob. Verbringst die Nächte damit, dich mit einem Hund zu unterhalten. Dabei kannst du Hunde nicht mal leiden, und diesen schon gar nicht, weil er dich mit jedem hechelnden Atemzug an seinen abscheulichen Herrn erinnert!

Ja, den Hund hatte sie behalten, trotz der schmerzlichen Erinnerungen, die er hervorrief, und den Sessel auch, obwohl die Elster darin gesessen hatte. Mortola … Wie oft glaubte sie, ihre Stimme zu hören, wenn sie in die stille Bibliothek trat, wie oft sah sie Mortimer und Resa zwischen den Regalen stehen oder Meggie vor dem Fenster sitzen, ein Buch auf dem Schoß, das Gesicht verborgen hinter dem glatten hellen Haar … Erinnerungen. Das war alles, was ihr geblieben war. Nicht greifbarer als die Bilder, die Bücher heraufbeschwören. Aber was blieb, wenn sie diese Erinnerungen auch noch verlor? Dann würde sie endgültig wieder allein sein – mit der Stille und der Leere in ihrem Herzen. Und einem hässlichen Hund.

Ihre Füße sahen so alt aus in dem blassen Mondlicht. Mondlicht!, dachte sie, während sie die Zehen darin bewegte. Wie viele Geschichten gab es, in denen es magische Kräfte hatte. Alles gelogen. Ihr ganzer Kopf war angefüllt mit gedruckten Lügen. Nicht einmal den Mond konnte sie ansehen, ohne dass ihr Blick von Buchstabenschleiern vernebelt war. Könnte man sich all die Worte doch nur aus Hirn und Herz wischen und die Welt wenigstens ein einziges Mal bloß mit den eigenen Augen sehen!

Himmel, Elinor, du bist ja wieder in einer fabelhaften Stimmung!, dachte sie, während sie auf die Vitrine zutappte, in der sie aufbewahrte, was Orpheus außer seinem Hund noch zurückgelassen hatte. Badest dich in Selbstmitleid, wie dieser dumme Hund es gern in jeder Pfütze tut.

Das Blatt Papier, das unter dem schützenden Glas lag, sah unscheinbar aus, nichts als ein ganz gewöhnliches Blatt liniertes Papier, dicht beschrieben mit blassblauer Tinte. Kein Vergleich zu den prachtvoll illuminierten Büchern, die in den anderen Vitrinen lagen – auch wenn man jedem Buchstaben ansah, wie sehr Orpheus von sich selbst beeindruckt war. Ich hoffe, die Feuerelfen haben ihm das selbstzufriedene Lächeln von den Lippen gebrannt!, dachte Elinor, während sie die Vitrine öffnete. Ich hoffe, die Gepanzerten haben ihn aufgespießt – oder noch besser: dass er elend verhungert ist im Weglosen Wald, ganz, ganz langsam. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich Orpheus’ jämmerliches Ende in der Tintenwelt ausmalte. Ihr einsames Herz genoss diese Bilder wie kaum etwas anderes.

Das Blatt vergilbte bereits. Billiges Papier. Auch das noch. Und den Wörtern darauf sah man wahrlich nicht an, dass sie ihren Verfasser in eine andere Welt befördert hatten, direkt vor Elinors Augen. Neben dem Blatt lagen drei Fotos – eins von Meggie und zwei von Resa, ein Kinderfoto und eines, erst vor wenigen Monaten aufgenommen, auf dem sie mit Mortimer zu sehen war. Wie sie beide lächelten. So glücklich. Es verging kaum eine Nacht, in der Elinor sich nicht diese Fotos ansah. Inzwischen liefen ihr dabei wenigstens nicht mehr die Tränen übers Gesicht, aber sie waren noch da, in ihrem Herzen. Salzige Tränen. Voll bis an den Rand war es damit. Ein abscheuliches Gefühl.

Verloren.

Meggie.

Resa.

Mortimer.

Fast drei Monate war es nun her, dass sie verschwunden waren. Bei Meggie waren es sogar noch ein paar Tage mehr …

Der Hund streckte sich und kam verschlafen auf sie zugetrottet. Er schob die Nase in die Tasche ihres Morgenmantels, in der Gewissheit, dass darin immer ein paar Hundekekse steckten.

»Ja, ja, schon gut«, murmelte sie, während sie ihm eins der stinkenden kleinen Dinger in die Schnauze schob. »Wo steckt dein Herr, hm?« Sie hielt ihm das Blatt Papier unter die Nase und das dumme Vieh schnupperte daran, als könnte es Orpheus tatsächlich hinter den Buchstaben riechen.

Elinor starrte die Worte an und formte sie mit den Lippen: »In den Gassen von Ombra …« Wie oft in den letzten Wochen hatte sie nachts so dagestanden, umgeben von Büchern, die ihr nichts mehr bedeuteten, seit sie wieder allein mit ihnen war. Sie schwiegen sie an, als wüssten sie, dass sie sie alle auf der Stelle für die drei Menschen eingetauscht hätte, die sie verloren hatte. Verloren in einem Buch.

»Ich werde es lernen, verdammt noch mal!« Ihre Stimme klang trotzig wie die eines Kindes. »Ich werde lernen, sie so zu lesen, dass sie mich auch verschlucken, ja, das werde ich!«

Der Hund sah sie an, als glaubte er ihr jedes Wort, aber Elinor glaubte sich nicht ein einziges. Nein. Sie war keine Zauberzunge. Selbst wenn sie sich ein Dutzend Jahre lang und mehr daran versuchte – die Wörter klangen nicht, wenn sie sie sprach. Sie sangen nicht. Nicht wie für Meggie und Mortimer – oder den dreimal verfluchten Orpheus. Obwohl sie sie ihr ganzes Leben lang so sehr geliebt hatte.

Das Blatt zitterte in ihren Fingern, als sie zu weinen begann. Da kamen sie wieder, die Tränen, obwohl sie sie so lange zurückgehalten hatte, all die Tränen in ihrem Herzen. Es floss einfach über. Elinor schluchzte so laut, dass der Hund sich erschrocken zusammenduckte. Wie absurd, dass einem Wasser aus den Augen tropfte, wenn einem das Herz wehtat. In Büchern waren die tragischen Heldinnen gewöhnlich furchtbar schön. Kein Wort von verquollenen Augen oder einer roten Nase. Ich bekomm immer eine rote Nase vom Heulen, dachte Elinor. Vermutlich komm ich deshalb auch in keinem Buch vor.

»Elinor?«

Sie fuhr herum und wischte sich hastig die Tränen vom Gesicht.

Darius stand in der Tür, in dem viel zu großen Morgenmantel, den sie ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte.

»Was ist?«, fuhr sie ihn an. Wo war denn nur dieses Taschentuch schon wieder? Schniefend zog sie es aus dem Ärmel und putzte sich die Nase. »Drei Monate, sie sind drei Monate fort, Darius! Ist das vielleicht kein Grund zu heulen? Ja. Guck mich nicht so mitleidig an mit deinen Eulenaugen. Egal, wie viele Bücher wir kaufen –«, sie wies mit weit ausladender Geste auf die wohlgefüllten Regale, »– egal, wie viele wir ersteigern, tauschen, stehlen – nicht eins von ihnen erzählt mir das, was ich wissen will! Tausende von Seiten, und auf keiner steht auch nur ein Wort über die, von denen ich hören will. Was interessieren mich all die anderen? Ich will nur ihre Geschichte hören! Wie geht es Meggie? Wie geht es Resa und Mortimer? Sind sie glücklich, Darius? Leben sie noch? Werde ich sie jemals wiedersehen?«

Darius sah an den Büchern entlang, als ließe sich die Antwort vielleicht doch in einem von ihnen finden. Aber dann schwieg er, wie all die bedruckten Seiten.

»Ich werd dir eine Milch mit Honig machen«, sagte er schließlich und verschwand in der Küche.

Und Elinor war wieder allein mit den Büchern, dem Mondlicht und Orpheus’ hässlichem Hund.

Nur ein Dorf

The wind was a torrent of darkness among the gusty trees,

The moon was a ghostly galleon tossed upon cloudy seas,

The road was a ribbon of moonlight over the purple moor,

And the highwayman came riding –

 Riding – riding –

The highwayman came riding, up to the old inn-door.

Alfred Noyce, The Highwayman

Die Feen begannen schon zwischen den Bäumen zu tanzen, Schwärme winziger blauer Leiber. Ihre Flügel fingen das Sternenlicht, und Mo sah, wie der Schwarze Prinz besorgt zum Himmel blickte. Noch war er so dunkel wie die Hügel ringsum, aber die Feen täuschten sich nie. Nur der aufziehende Morgen konnte sie in einer so kalten Nacht aus den Nestern locken, und das Dorf, dessen Ernte die Räuber diesmal retten wollten, lag gefährlich nah bei Ombra. Sobald es dämmerte, mussten sie fort sein.

Ein Dutzend ärmlicher Hütten, ein paar karge, steinige Felder und eine Mauer, die kaum ein Kind fernhalten konnte, geschweige denn einen Soldaten – das war alles. Ein Dorf wie viele andere. Dreißig Frauen, männerlos, und drei Dutzend vaterloser Kinder. Im Nachbardorf hatten die Soldaten des neuen Statthalters sich vor zwei Tagen fast die gesamte Ernte geholt. Dort waren sie zu spät gekommen. Doch hier war noch etwas zu retten. Seit Stunden gruben sie, zeigten den Frauen, wie man Tiere und Vorräte unter der Erde versteckte …

Der Starke Mann brachte den letzten Sack hastig ausgegrabener Kartoffeln. Sein grobes Gesicht war rot vor Anstrengung. So färbte es sich auch, wenn er kämpfte oder betrunken war. Zusammen ließen sie den Sack in das Versteck hinab, das sie gleich hinter den Feldern gebaut hatten. In den umliegenden Hügeln quakten die Kröten so laut, als wollten sie den Tag herbeilocken, und Mo zerrte das Geflecht aus Zweigen über den Einstieg, das den Verschlag vor Soldaten und Steuereintreibern verbarg. Zwischen den Hütten wurden die Wachtposten unruhig. Auch sie hatten die Feen gesehen. Ja, es wurde Zeit, dass sie fortkamen, zurück in den Wald, wo sich jederzeit ein Versteck fand, obwohl der neue Statthalter immer mehr Patrouillen durch die Hügel streifen ließ. Der Hänfling, so hatten ihn die Witwen von Ombra getauft. Ein passender Name für den schmächtigen Schwager des Natternkopfes. Aber sein Hunger auf das wenige, das seine Untertanen besaßen, war unersättlich.

Mo fuhr sich mit dem Arm über die Augen. Himmel, er war müde. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen. Es gab einfach zu viele Dörfer, in denen sie den Soldaten noch zuvorkommen konnten.

»Du siehst erschöpft aus.« Erst gestern hatte Resa das zu ihm gesagt, als sie neben ihm aufgewacht war, ahnungslos, dass er sich erst zu ihr gelegt hatte, als es draußen schon dämmerte. Und er hatte ihr von schlechten Träumen erzählt und davon, dass er sich die schlaflosen Stunden damit vertrieben hätte, an dem Buch zu arbeiten, das er aus ihren Zeichnungen von Feen und Glasmännern band. Auch heute hoffte er, dass Resa und Meggie schlafen würden, wenn er zurückkam zu dem einsamen Hof, auf dem der Schwarze Prinz sie untergebracht hatte, eine Wegstunde östlich von Ombra und weit entfernt von dem Land, in dem immer noch der Natternkopf herrschte, unsterblich gemacht durch ein Buch, das seine Hände gebunden hatten.

Bald, dachte Mo. Bald wird es ihn nicht mehr schützen. Aber wie oft schon hatte er sich das gesagt. Und der Natternkopf war immer noch unsterblich.

Ein Mädchen kam zögernd auf ihn zu. Wie alt mochte es sein? Sechs? Sieben? Es war lange her, dass Meggie so klein gewesen war. Verlegen blieb es einen Schritt entfernt von ihm stehen.

Der Schnapper trat aus der Dunkelheit auf das Kind zu. »Ja, sieh ihn dir an!«, raunte er der Kleinen zu. »Er ist es tatsächlich! Der Eichelhäher. Kinder wie dich frisst er zum Abendbrot!«

Der Schnapper liebte solche Scherze. Mo schluckte die Worte hinunter, die sich ihm auf die Zunge drängten. Das Mädchen war blond wie Meggie. »Glaub ihm kein Wort!«, flüsterte er ihm zu. »Warum schläfst du nicht wie die anderen?«

Das Kind sah ihn an. Dann schob es ihm den Ärmel hoch, bis die Narbe zum Vorschein kam. Die Narbe, von der die Lieder erzählten …

Mit großen Augen sah es ihn an, mit dieser Mischung aus Ehrfurcht und Furcht, die er inzwischen in so vielen Augen gesehen hatte. Eichelhäher. Das Kind lief zu seiner Mutter zurück und Mo richtete sich auf. Jedes Mal, wenn ihn die Brust dort schmerzte, wo Mortola ihn verwundet hatte, kam es ihm vor, als sei er ihm dort hineingeschlüpft – der Räuber, dem Fenoglio sein Gesicht und seine Stimme gegeben hatte. Oder war er immer schon Teil von ihm gewesen und hatte nur geschlafen, bis Fenoglios Welt ihn geweckt hatte?

Manchmal, wenn sie Fleisch zu einem der hungernden Dörfer brachten oder ein paar Sack Getreide, die sie den Verwaltern des Hänflings gestohlen hatten, kamen die Frauen zu ihm und küssten ihm die Hände. »Geht zum Schwarzen Prinzen und bedankt euch bei ihm«, sagte er zu ihnen, aber der Prinz lachte darüber nur. »Schaff dir einen Bären an«, sagte er, »dann lassen sie dich in Frieden.«

In einer der Hütten begann ein Kind zu weinen. Die Nacht färbte sich rot, und Mo glaubte, Hufschläge zu hören. Reiter, mindestens ein Dutzend, vielleicht mehr. Wie schnell die Ohren lernten, Geräusche zu lesen, so viel schneller, als die Augen es lernten, Buchstaben zu entziffern. Die Feen stoben auseinander. Die Frauen schrien und rannten auf die Hütten zu, in denen ihre Kinder schliefen. Mos Hand zog wie von selbst das Schwert. Als hätte sie nie etwas anderes getan. Es war immer noch das Schwert, das er in der Nachtburg aufgehoben, das Schwert, das einst dem Brandfuchs gehört hatte.

Morgengrauen.

Hieß es nicht, dass sie immer bei Morgengrauen kamen, weil sie das Rot am Himmel liebten? Hoffentlich waren sie betrunken, von einem der endlosen Feste ihres Herrn.

Der Prinz winkte die Räuber zu der Mauer, die das Dorf umgab, nichts als ein paar Schichten flacher Steine. Auch die Hütten würden kaum Schutz bieten. Der Bär schnaubte und stöhnte, und da kamen sie auch schon aus der Dunkelheit: Reiter, mehr als ein Dutzend, das neue Wappen von Ombra auf der Brust, ein Basilisk auf rotem Grund. Natürlich hatten sie nicht erwartet, auf Männer zu treffen. Weinende Frauen, schreiende Kinder, ja, aber keine Männer, noch dazu bewaffnet. Verdutzt zügelten sie die Pferde.

Ja, sie waren betrunken. Gut. Das würde sie langsam machen.

Sie zögerten nicht lange. Sie sahen sofort, dass sie weit besser bewaffnet waren als die zerlumpten Räuber. Und sie hatten Pferde.

Dummköpfe. Sie würden sterben, bevor sie begriffen, dass noch anderes zählte.

»Alle!«, raunte der Schnapper Mo heiser zu. »Wir müssen sie alle töten, Eichelhäher. Ich hoffe, dein weiches Herz weiß das. Kehrt auch nur einer nach Ombra zurück, dann brennt morgen dieses Dorf.«

Mo nickte nur. Als ob er das nicht wüsste.

Die Pferde wieherten schrill, als ihre Reiter sie auf die Räuber zutrieben, und Mo spürte sie wieder, wie damals auf dem Natternberg, als er Basta getötet hatte – Kaltblütigkeit. Kalt wie der Raureif zu seinen Füßen. Die einzige Furcht, die er empfand, war die Furcht vor sich selbst. Doch dann kamen die Schreie. Das Stöhnen. Das Blut. Der eigene Herzschlag, laut und viel zu schnell. Schlagen und zustoßen, das Schwert aus fremdem Fleisch ziehen, die Nässe von fremdem Blut auf seinen Kleidern, Gesichter vom Hass verzerrt (oder war es Angst?). Zum Glück sah man nicht viel unter den Helmen. Sie waren oft so jung! Zerschlagene Glieder, zerschlagene Menschen. Vorsicht, hinter dir. Töte. Schnell. Nicht einer darf entkommen.

Eichelhäher.

Einer der Soldaten raunte den Namen, bevor er ihn niederstach. Vielleicht hatte er noch beim letzten Atemzug an das Silber gedacht, das er auf der Burg von Ombra für seine Leiche bekommen würde, mehr Silber, als man in einem ganzen Soldatenleben zusammenrauben konnte. Mo zog ihm das Schwert aus der Brust. Sie waren ohne ihre Panzer gekommen. Was brauchte man Panzer gegen Frauen und Kinder? Wie kalt einem vom Töten wurde, so kalt, obwohl die Haut einem brannte und das Blut wie im Fieber floss.

Ja, sie töteten sie alle. In den Hütten war es still, als sie die Leichen den Abhang hinunterstießen. Zwei gehörten zu ihnen und würden nun ihre Knochen mit denen ihrer Feinde mischen. Es war keine Zeit, sie zu begraben.

Der Schwarze Prinz hatte einen bösen Schnitt an der Schulter. Mo verband ihn, so gut es ging, während der Bär besorgt danebensaß. Das Kind kam aus einer der Hütten, das Mädchen, das ihm den Ärmel hochgeschoben hatte. Von Weitem sah es wirklich aus wie Meggie. Meggie, Resa – hoffentlich schliefen sie noch, wenn er zurückkam. Wie sollte er sonst all das Blut erklären? So viel Blut.

Irgendwann werden die Nächte die Tage überschatten, Mortimer, dachte er. Blutige Nächte, friedliche Tage – Tage, an denen Meggie ihm all das zeigte, wovon sie ihm im Turm der Nachtburg nur hatte erzählen können; Nymphen, die Haut schuppig, in blütenbedeckten Tümpeln, Fußspuren längst verschwundener Riesen, Blüten, die flüsterten, wenn man sie berührte, Bäume, die in den Himmel wuchsen, Moosweibchen, die zwischen ihren Wurzeln auftauchten, als hätten sie sich aus der Rinde geschält … Friedliche Tage. Blutige Nächte.

Die Pferde nahmen sie mit, und die Spuren des Kampfes verwischten sie, so gut es ging. In die Dankesworte, die die Frauen zum Abschied stammelten, mischte sich Furcht. Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, dass ihre Helfer vom Töten ebenso viel verstanden wie ihre Feinde.

Der Schnapper kehrte mit den Pferden und den meisten Männern ins Lager zurück. Sie verlegten es fast jeden Tag. Zurzeit lag es in einer dunklen Schlucht, die selbst bei Tag kaum heller wurde. Sie würden nach Roxane schicken, damit sie die Verwundeten versorgte. Während Mo dorthin zurückkehrte, wo Resa und Meggie schliefen, zu dem verlassenen Hof, den der Prinz für sie gefunden hatte, weil Resa nicht im Räuberlager leben wollte und auch Meggie sich nach all den heimatlosen Wochen nach einem Haus gesehnt hatte.

Der Schwarze Prinz begleitete Mo, wie so oft. »Natürlich. Der Eichelhäher reist nie ohne Gefolge!«, spottete der Schnapper, bevor sie sich trennten. Mo hätte ihn dafür fast vom Pferd gezerrt. Das Herz schlug ihm immer noch zu schnell von all dem Töten, aber der Prinz hielt ihn zurück.

Sie gingen zu Fuß. So war der Weg zwar schmerzhaft weit für ihre müden Glieder, aber ihre Spuren waren schwerer zu verfolgen als die von Pferden. Und der Hof musste sicher bleiben, denn alles, was Mo liebte, war dort.

Das Haus und die halb verfallenen Ställe tauchten jedes Mal so unerwartet zwischen den Bäumen auf, als hätte sie jemand dort verloren. Von den Feldern, die den Hof einst ernährt hatten, war nichts mehr zu sehen. Auch der Weg, der irgendwann zum nächsten Dorf geführt hatte, war längst verschwunden. Der Wald hatte alles verschlungen. Hier nannte man ihn nicht mehr den Weglosen Wald, wie südlich von Ombra. Hier hatte er ebenso viele Namen, wie Dörfer darin lagen: Feenwald, Dunkler Wald, Moosweibchenwald. Dort, wo sich das Nest des Eichelhähers verbarg, hieß er Lerchenwald, wollte man dem Starken Mann glauben. »Lerchenwald? Unsinn. Der Starke Mann nennt alles nach Vögeln! Bei ihm bekommen selbst die Feen Vogelnamen, obwohl sie Vögel nicht leiden können!«, sagte Meggie dazu nur. »Baptista sagt, er heißt Lichterwald. Das passt doch viel besser oder hast du jemals zuvor in einem Wald so viele Glühwürmchen und Feuerelfen gesehen? Und dann all die Leuchtkäfer, die nachts oben in den Baumkronen sitzen …«

Wie immer der Wald hieß, der Frieden unter den Bäumen verzauberte Mo jedes Mal aufs Neue und erinnerte ihn daran, dass auch das die Tintenwelt war, ebenso wie die Soldaten des Hänflings. Das erste Morgenlicht sickerte durch die Äste und sprenkelte die Bäume mit blassem Gold und die Feen tanzten wie betrunken in den herbstkalten Sonnenstrahlen. Sie taumelten dem Bären in das pelzige Gesicht, bis er nach ihnen schlug, und der Prinz hielt sich eins der kleinen Geschöpfe mit einem Lächeln ans Ohr, als könnte er verstehen, was das schrille Stimmchen schimpfte.

War die andere Welt ebenso gewesen? Warum erinnerte er sich kaum? Hatte das Leben dort aus demselben betörenden Gemisch bestanden: aus Dunkelheit und Licht, aus Grausamkeit und Schönheit – so viel Schönheit, dass sie ihn manchmal fast betrunken machte?

Der Schwarze Prinz ließ den Hof Tag und Nacht von seinen Männern bewachen. Heute war der Gecko einer von ihnen. Er trat mit mürrischem Gesicht aus dem verfallenen Schweinestall, als sie zwischen den Bäumen hervorkamen. Der Gecko war immer in Bewegung, ein kleiner Mann mit leicht vorstehenden Augen, die ihm seinen Namen gegeben hatten. Eine seiner zahmen Krähen hockte ihm auf der Schulter. Der Prinz nutzte die Vögel als Boten, doch meist stahlen sie für den Gecko auf den Märkten. Mo verblüffte immer wieder, was sie alles in ihren Schnäbeln davontragen konnten.

Als der Gecko das Blut auf ihren Kleidern sah, wurde er blass. Doch offenbar war der einsame Hof auch in dieser Nacht unberührt geblieben von den Schatten der Tintenwelt.

Mo stolperte vor Müdigkeit fast über die eigenen Füße, als er auf den Brunnen zuging, und der Prinz griff nach seinem Arm, auch wenn er selbst vor Erschöpfung wankte.

»Das heute war knapp«, sagte er so leise, als fürchtete er, seine Stimme könnte den Frieden verscheuchen wie einen trügerischen Spuk. »Wenn wir nicht vorsichtiger sind, werden beim nächsten Dorf die Soldaten schon auf uns warten. Von dem Preis, den die Natter auf deinen Kopf ausgesetzt hat, könnte man ganz Ombra kaufen. Ich trau meinen eigenen Männern kaum noch und in den Dörfern erkennen dich inzwischen selbst die Kinder. Vielleicht solltest du für eine Weile hierbleiben?«

Mo scheuchte die Feen fort, die über dem Brunnen schwirrten, und ließ den hölzernen Eimer hinab. »Unsinn. Dich erkennen sie ebenso.«

Das Wasser schimmerte in der Tiefe, als hätte der Mond sich dort vor dem Morgen versteckt. Wie der Brunnen vor Merlins Hütte, dachte Mo, während er sich das Gesicht mit dem klaren Wasser kühlte und den Schnitt am Unterarm auswusch, den ihm einer der Soldaten beigebracht hatte. Fehlt nur noch, dass Archimedes mir gleich auf die Schulter fliegt und Wart aus dem Wald stolpert …

»Worüber lächelst du?« Der Schwarze Prinz lehnte sich neben ihm an den Brunnen, während sein Bär sich schnaubend auf der taufeuchten Erde wälzte.

»Über eine Geschichte, die ich mal gelesen habe.« Mo stellte dem Bären den Wassereimer hin. »Irgendwann erzähl ich sie dir. Es ist eine gute Geschichte. Auch wenn sie ein trauriges Ende hat.«

Aber der Prinz schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. »Nein, wenn sie ein trauriges Ende hat, will ich sie nicht hören.«

Der Gecko war nicht der Einzige, der den schlafenden Hof bewacht hatte. Mo lächelte, als Baptista aus der verfallenen Scheune trat. Baptista hielt nicht viel vom Kämpfen, aber von allen Räubern waren er und der Starke Mann Mo die liebsten, und es fiel ihm leichter, nachts fortzugehen, wenn einer von ihnen Resas und Meggies Schlaf bewachte. Baptista trat immer noch auf den Märkten als Possenreißer auf, auch wenn seine Zuschauer kaum eine Münze übrig hatten. »Das Lachen soll ihnen schließlich nicht ganz vergehen!«, sagte er, wenn der Schnapper ihn dafür verhöhnte. Er verbarg das pockennarbige Gesicht gern hinter seinen selbst genähten Masken, lachenden, weinenden, je nachdem, wie ihm zumute war. Doch als er zu Mo an den Brunnen trat, reichte er ihm keine Maske, sondern ein Bündel schwarzer Kleider.

»Sei gegrüßt, Eichelhäher«, sagte er mit derselben tiefen Verbeugung, mit der er sein Publikum begrüßte. »Entschuldige, dass es mit deiner Bestellung etwas länger gedauert hat. Das Garn war mir ausgegangen. Es ist Mangelware in Ombra, wie alles andere, aber zum Glück hat der Gecko«, er verbeugte sich in seine Richtung, »eine seiner schwarz gefiederten Freundinnen ausgeschickt, damit sie einem der Händler, die dank unseres neuen Statthalters immer noch reich sind, ein paar Rollen stiehlt.«

»Schwarze Kleider?« Der Prinz warf Mo einen fragenden Blick zu. »Wozu das?«

»Buchbinderkleider. Das ist immer noch mein Handwerk, hast du das vergessen? Und bei Nacht ist das Schwarz zudem eine gute Tarnung. Das hier –«, Mo zog sich das blutbefleckte Hemd aus, »– sollte ich wohl auch besser schwarz färben. Anders wird es kaum noch zu gebrauchen sein.«

Der Prinz sah ihn nachdenklich an. »Ich sag es noch mal, auch wenn du es nicht hören willst. Bleib ein paar Tage hier. Vergiss die Welt da draußen, so wie sie diesen Hof vergessen hat.«

Die Sorge in dem dunklen Gesicht rührte Mo, und für einen Moment war er fast versucht, Baptista das Bündel zurückzugeben. Aber nur fast.

Als der Prinz fort war, verbarg Mo das Hemd und die blutbefleckten Hosen in dem ehemaligen Backhaus, das er sich zur Werkstatt umgebaut hatte, und zog die schwarzen Kleider über. Sie passten tadellos, und er trug sie, als er sich ins Haus zurückschlich. Zusammen mit dem Morgen, der durch die glaslosen Fenster drang.

Meggie und Resa schliefen tatsächlich noch. Eine Fee hatte sich in Meggies Kammer verirrt. Mit ein paar leisen Worten lockte Mo sie auf seine Hand. »Seht euch das an«, sagte der Schnapper immer. »Selbst die verdammten Feen lieben seine Stimme. Ich bin wohl wirklich der Einzige, den sie nicht verhext.« Mo brachte die Fee ans Fenster und ließ sie nach draußen flattern. Er zog Meggie die Decke über die Schultern, wie in all den Nächten, in denen es nur sie und ihn gegeben hatte, und betrachtete ihr Gesicht. Wenn sie schlief, sah sie immer noch so jung aus. Wach schien sie so viel erwachsener. Sie flüsterte einen Namen im Schlaf. Farid. War man erwachsen, wenn man zum ersten Mal verliebt war?

»Wo warst du?«

Mo fuhr herum. Resa stand in der Tür und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»Ich hab den Feen bei ihrem Morgentanz zugesehen. Die Nächte werden immer kälter. Bald werden sie ihre Nester kaum noch verlassen.«

Das war immerhin keine Lüge. Und die Ärmel des schwarzen Kittels waren lang genug, um die Schnittwunde an seinem Unterarm zu verbergen. »Komm mit, sonst wecken wir unsere große Tochter auf.«

Er zog sie mit sich in die Kammer, in der sie schliefen.

»Was sind das für Kleider?«

»Buchbinderkleider. Baptista hat sie mir genäht. Schwarz wie Tinte. Passend, oder? Ich hab ihn gebeten, dir und Meggie auch etwas zu schneidern. Du wirst bald ein neues Kleid brauchen.«

Er legte ihr die Hand auf den Leib. Noch sah man es nicht. Ein neues Kind, mitgebracht aus der alten Welt, doch bemerkt erst in dieser. Kaum eine Woche war es her, seit Resa es ihm erzählt hatte. »Was wünschst du dir, eine Tochter oder einen Sohn?« – »Kann ich mir das wünschen?«, hatte er zurückgefragt und versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, erneut winzige Finger in der Hand zu halten, so winzig, dass sie kaum seinen Daumen würden umfassen können. Gerade zur rechten Zeit – bevor Meggie so groß war, dass er sie kaum noch ein Kind nennen konnte.

»Die Übelkeit wird schlimmer. Ich werd morgen zu Roxane reiten. Sie weiß bestimmt Rat.«

»Bestimmt.« Mo zog sie in seine Arme.

Friedliche Tage. Blutige Nächte.

Geschriebenes Silber

Vor allem wusste er die Schattendinge zu durchschmecken,

Wenn er im kahlen Zimmerchen, mit Wasserflecken,

Mit den geschlossnen Fensterläden, hoch und blau,

Seinen Roman las, bis sich seiner Schau

Versunkne Wälder, ockerfarbne Himmel malten,

Fleischblüten, die in Sterngehegen sich entfalten.

Arthur Rimbaud, Der Dichter von sieben Jahren

Natürlich grub Orpheus nicht selbst. Er stand da in seinen feinen Kleidern und sah zu, wie Farid schwitzte. An zwei Stellen hatte er ihn bereits graben lassen, und das Loch, an dem Farid nun schaufelte, war schon so tief, dass es ihm bis zur Brust reichte. Die Erde war feucht und schwer. Es hatte viel geregnet in den letzten Tagen, und der Spaten, den der Fleischberg besorgt hatte, taugte nichts. Außerdem war da der Gehenkte über Farids Kopf. Der kalte Wind schwang ihn hin und her an seinem verrotteten Seil. Was, wenn er herunterfiel und ihn unter seinen faulenden Knochen begrub?

An den Galgen zur Rechten schwangen drei weitere traurige Gestalten. Der neue Statthalter liebte das Hängen. Es hieß, dass der Hänfling sich aus dem Haar der Gehenkten Perücken machen ließ – und die Witwen in Ombra flüsterten, dass aus diesem Grund auch schon so manche Frau hatte hängen müssen …

»Wie lange brauchst du denn noch? Es wird schon hell! Na los, grab schneller!«, fuhr Orpheus ihn an und kickte einen Schädel zu ihm in die Grube. Wie grausige Früchte lagen sie unter den Galgen.

Es dämmerte tatsächlich schon. Verdammter Käsekopf. Fast die ganze Nacht hatte er ihn graben lassen! Ach, wenn er ihm doch bloß den blassen Hals umdrehen könnte.

»Schneller? Dann lass doch zur Abwechslung mal deinen feinen Leibwächter schaufeln!«, rief Farid zu ihm hinauf. »Auf die Art wären seine Muskeln wenigstens zu etwas gut!«

Der Fleischberg verschränkte die klobigen Arme und lächelte verächtlich zu ihm herab. Orpheus hatte den Riesen auf dem Markt gefunden. Er hatte dort für einen Bader die Kunden festgehalten, wenn er entzündete Zähne zog. »Was du wieder daherredest!«, hatte Orpheus nur herablassend erwidert, als Farid ihn gefragt hatte, wozu er noch einen Diener brauchte. »Selbst die Lumpenhändler in Ombra haben einen Leibwächter wegen all des Gesindels, das sich auf den Gassen herumdrückt. Und ich bin wesentlich reicher als sie!« Womit er sicherlich recht hatte – und da Orpheus besser zahlte als der Bader und dem Fleischberg von all dem gequälten Geschrei schon die Ohren schmerzten, war er ohne ein Wort mit ihnen gegangen. Oss nannte er sich, ein sehr kurzer Name für einen so großen Kerl, aber passend für jemanden, der so selten sprach, dass Farid zunächst geschworen hätte, dass sich in dem hässlichen Mund keine Zunge befand. Essen tat dieser Mund dafür umso mehr, und es kam immer öfter vor, dass der Fleischberg das, was Orpheus’ Mägde Farid hinstellten, gleich mit verschlang. Anfangs hatte Farid sich darüber noch beschwert, doch nachdem Oss ihm dafür auf der Kellertreppe aufgelauert hatte, ging er lieber mit knurrendem Magen schlafen oder stahl sich etwas auf dem Markt. Ja, der Fleischberg hatte das Leben in Orpheus’ Diensten nur noch trostloser gemacht. Eine Handvoll Glasscherben, in Farids Strohsack gesteckt, ein vorgestelltes Bein am Ende einer Treppe, ein plötzlicher fester Griff ins Haar … Vor Oss musste man ständig auf der Hut sein. Nur nachts hatte man Ruhe vor ihm, wenn er unterwürfig wie ein Hund vor Orpheus’ Kammer schlief.

»Leibwächter graben nicht!«, erklärte Orpheus mit gelangweilter Stimme, während er ungeduldig zwischen den ausgehobenen Löchern auf und ab schritt. »Und wenn du weiter so trödelst, werden wir dringend einen Leibwächter brauchen. Noch vor Mittag werden zwei Wilderer zum Hängen hergebracht!«

»Na bitte! Ich sag’s dir immer wieder: Lass uns die Schätze einfach hinter deinem Haus finden!« Galgenberge, Friedhöfe, niedergebrannte Höfe – Orpheus liebte Orte, die Farid schaudern ließen. Nein, vor Geistern fürchtete der Käsekopf sich wahrlich nicht. Das musste man ihm lassen. Farid wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Du könntest wenigstens genauer beschreiben, unter welchem verdammten Galgen der Schatz liegt. Und warum, bei allen Teufeln, muss er so tief vergraben sein?«

»Nicht so tief! Hinter meinem Haus!« Orpheus spitzte verächtlich die mädchenweichen Lippen. »Wie originell! Hört sich das etwa so an, als ob es in diese Geschichte passt? Nicht einmal Fenoglio würde auf so einen Unsinn verfallen. Doch wozu erklär ich dir das immer wieder! Du begreifst es sowieso nicht.«

»Ach nein?« Farid stieß die Schaufel so tief in die feuchte Erde, dass sie stecken blieb. »Aber eins begreif ich sehr wohl. Dass du dir einen Schatz nach dem anderen herschreibst, den reichen Händler spielst und jeder Magd in Ombra nachsteigst, während Staubfinger weiter bei den Toten liegt!«

Farid spürte, wie ihm erneut die Tränen kamen. Der Schmerz war immer noch so frisch wie in der Nacht, in der Staubfinger für ihn gestorben war. Wenn er nur sein starres Gesicht hätte vergessen können! Wenn er sich nur so hätte an ihn erinnern können, wie er im Leben gewesen war, aber immer wieder sah er ihn in der verfallenen Mine liegen, so kalt und stumm, das Herz erfroren.

»Ich bin es leid, deinen Diener zu spielen!«, schrie er zu Orpheus hinauf. In seiner Wut vergaß er sogar die Gehenkten, die es bestimmt nicht mochten, wenn man an ihrem Sterbeplatz herumschrie. »Du hast deinen Teil der Abmachung ja auch nicht gehalten! Nistest dich ein in dieser Welt wie eine Made im Speck, statt ihn endlich zurückzuholen. Du hast ihn begraben wie all die anderen! Fenoglio hat recht: Du bist so nützlich wie eine parfümierte Schweinsblase! Ich werd Meggie sagen, sie soll dich zurückschicken! Sie wird es tun, du wirst schon sehen!«

Oss sah Orpheus fragend an. Sein Blick flehte um die Erlaubnis, Farid packen und auf gründlichste Weise grün und blau schlagen zu dürfen, aber Orpheus beachtete ihn nicht.

»Ah, bei dem Thema sind wir wieder!«, sagte er mit nur mühsam beherrschter Stimme. »Die unglaubliche, unübertreffliche Meggie, Tochter eines nicht weniger fabelhaften Vaters, der inzwischen auf den Namen eines Vogels hört und sich mit einer Bande verlauster Räuber im Wald versteckt, während zerlumpte Spielleute ein Lied nach dem anderen über ihn dichten.«

Orpheus rückte sich die Brille zurecht und blickte zum Himmel hinauf, als wollte er sich dort über so viel unangemessene Ehren beschweren. Er liebte den Spitznamen, den die Brille ihm eingebracht hatte: Doppelauge. In Ombra flüsterte man ihn mit Abscheu und Furcht, doch das gefiel Orpheus nur umso mehr. Außerdem galt die Brille als Beweis dafür, dass all die Lügen, die er über seine Herkunft erzählte, die reine Wahrheit waren: dass er von jenseits des Meeres kam, aus einem fernen Land, dessen Fürsten alle Doppelaugen hatten, was sie befähigte, ihrer Untertanen Gedanken zu lesen. Dass er der uneheliche Sohn des dortigen Königs war, der vor seinem eigenen Bruder hatte fliehen müssen, nachdem dessen Frau in unsterblicher Liebe zu ihm entbrannt war. »Beim Gott der Bücher. Was für eine armselige Geschichte!«, hatte Fenoglio ausgerufen, als Farid sie Minervas Kindern erzählt hatte. »Dieser Kerl ist so ein Schmalztiegel! Nicht eine originelle Idee hat er in seinem klebrigen Hirn. Nur mit den Einfällen anderer kann er herumpfuschen.«

Aber Fenoglio verbrachte seine Tage und Nächte damit, sich leidzutun, während Orpheus in aller Ruhe daran arbeitete, dieser Geschichte seinen Stempel aufzudrücken – einer Geschichte, über die er mehr zu wissen schien als ihr Erfinder.

»Weißt du, was man sich wünscht, wenn man ein Buch so sehr liebt, dass man es wieder und wieder liest?«, hatte er Farid gefragt, als sie zum ersten Mal vor dem Stadttor von Ombra gestanden hatten. »Nein. Natürlich nicht. Wie solltest du? Ein Buch bringt dich sicher nur auf den Gedanken, dass es in kalten Nächten gut brennt. Ich will dir die Antwort trotzdem verraten. Man will mitspielen, was sonst? Allerdings sicherlich nicht als der arme Hofdichter. Die Rolle überlasse ich gern Fenoglio – auch wenn er selbst darin eine jämmerliche Figur abgibt!«

Schon in der dritten Nacht hatte Orpheus sich an die Arbeit gemacht, in einem schmutzigen Gasthaus nah der Stadtmauer. Er hatte Farid befohlen, ihm Wein zu stehlen und eine Kerze, hatte ein schmutziges Stück Papier und einen Griffel unter dem Umhang hervorgezogen – und das Buch, das dreimal verfluchte Buch. Wie Elstern, die nach glitzernden Dingen suchten, waren seine Finger über die Seiten gewandert, Wörter zusammenklaubend, mehr und mehr. Und Farid war so dumm gewesen zu glauben, dass die Wörter, mit denen Orpheus so emsig das Blatt Papier füllte, den Schmerz in seinem Herzen heilen und Staubfinger zurückbringen würden. Doch Orpheus hatte ganz anderes im Sinn gehabt. Er hatte Farid fortgeschickt, bevor er laut las, was er geschrieben hatte, und noch bevor der Morgen dämmerte, hatte Farid ihm den ersten Schatz aus der Erde von Ombra graben müssen, auf dem Friedhof gleich hinter dem Siechenhaus. Orpheus hatte sich beim Anblick der Münzen gefreut wie ein Kind. Farid aber hatte die Gräber angestarrt und die eigenen Tränen auf der Zunge geschmeckt.

Mit dem Silber hatte Orpheus sich neu eingekleidet, zwei Mägde und eine Köchin angestellt und das prächtige Haus eines Seidenhändlers gekauft. Der Vorbesitzer hatte sich aufgemacht, seine Söhne zu suchen, die mit Cosimo in den Weglosen Wald gezogen und niemals zurückgekehrt waren.

Auch Orpheus gab sich als Händler aus, ein Händler für ausgefallene Wünsche – und schon bald hatte es sich bis zum Hänfling herumgesprochen, dass der Fremde mit dem dünnen blonden Haar und der blassen Haut, blass, wie sie sonst nur die Fürsten hatten, wundersame Dinge besorgen konnte: gefleckte Kobolde, schmetterlingsbunte Feen, Schmuck aus Feuerelfenflügeln, Gürtel, besetzt mit den Schuppen von Flussnymphen, goldgescheckte Pferde für fürstliche Kutschen und andere Geschöpfe, die man in Ombra bislang nur aus Märchen gekannt hatte. In Fenoglios Buch gab es für vieles die richtigen Wörter. Orpheus musste sie nur etwas anders zusammensetzen. Ab und zu starb, was er schuf, nach wenigen Atemzügen oder stellte sich als allzu bissig heraus (der Fleischberg hatte recht oft bandagierte Hände), aber Orpheus störte das nicht. Was interessierte es ihn, wenn im Wald ein paar Dutzend Feuerelfen verhungerten, weil ihnen plötzlich die Flügel fehlten, oder eines Morgens eine Handvoll schuppenloser Nymphen tot im Fluss trieb? Faden für Faden zog er aus dem feinen Geflecht, das der alte Mann gesponnen hatte, und webte eigene Muster, setzte sie wie bunte Flicken in Fenoglios großen Teppich und wurde reich mit dem, was seine Stimme aus den Buchstaben eines anderen lockte.

Verflucht sollte er sein. Tausendundeinmal verflucht. Es war genug.

»Nichts tue ich mehr für dich! Gar nichts!« Farid wischte sich die regenfeuchte Erde von den Händen und versuchte, aus dem Loch zu klettern, doch Oss stieß ihn auf einen Wink von Orpheus zurück.

»Grab!«, grunzte er.

»Grab selber!« Farid zitterte in seinem schweißnassen Kittel, ob mehr vor Kälte oder Wut, hätte er nicht sagen können. »Dein feiner Herr ist nichts als ein Hochstapler! Sie haben ihn schon mal für seine Lügen ins Gefängnis gesteckt und sie werden es wieder tun!«

Orpheus kniff die Augen zusammen. Er mochte es gar nicht, wenn man von diesem Kapitel seines Lebens sprach.

»Ich wette, du warst einer von denen, die alten Frauen das Geld aus der Tasche lügen. Und hier bläst du dich auf wie ein Ochsenfrosch, nur weil deine Lügen plötzlich wahr werden, schleimst dich ein beim Schwager vom Natternkopf und hältst dich für schlauer als alle anderen! Doch was kannst du schon? Feen herbeischreiben, die aussehen, als wären sie in einen Färberkübel gefallen, Kisten voller Schätze, Schmuck aus Elfenflügeln für den Hänfling. Aber das, wofür wir dich hergeholt haben, kannst du nicht. Staubfinger ist tot. Er ist tot. Er ist – immer – noch – tot!«

Da kamen sie wieder, die verdammten Tränen. Farid wischte sie mit seinen schmutzigen Fingern fort, während der Fleischberg so ausdruckslos auf ihn herabstarrte, wie es nur jemand tut, der kein einziges Wort versteht. Wie auch? Was wusste Oss von den Worten, die Orpheus zusammenstahl, was wusste er von dem Buch und von Orpheus’ Stimme?

»Niemand – hat – mich – hergeholt!« Orpheus beugte sich über den Grubenrand, als wollte er Farid die Wörter ins Gesicht spucken. »Und bestimmt muss ich mir keine Reden über Staubfinger anhören von dem, der ihm den Tod gebracht hat! Ich kannte seinen Namen schon, als du noch nicht geboren warst, und nur ich werde ihn zurückbringen, auch wenn du ihn so überaus gründlich aus dieser Geschichte entfernt hast … Aber wie und wann, das ist ganz allein meine Entscheidung. Und nun grab. Oder denkst du Ausbund arabischer Weisheit –«, Farid glaubte zu spüren, wie die Wörter ihn in feine Scheiben schnitten, »– dass ich mehr zum Schreiben komme, wenn ich meine Mägde nicht mehr bezahlen kann und meine Wäsche künftig selber wasche?«

Verdammt. Verdammt sollte er sein. Farid senkte den Kopf, damit Orpheus seine Tränen nicht sah. Von dem, der ihm den Tod gebracht hat …

»Sag mir, warum ich die Spielleute ständig mit meinem schönen Silber für ihre jämmerlichen Lieder bezahle. Weil ich Staubfinger vergessen habe? Nein. Weil du es immer noch nicht geschafft hast, für mich herauszufinden, wie und wo man in dieser Welt mit den Weißen Frauen sprechen kann! Also hör ich mir weiter schlechte Lieder an, steh neben sterbenden Bettlern und bestech die Heilerinnen in den Siechenhäusern, damit sie mich rufen, wenn sich dort jemand ans Sterben macht. Natürlich wäre es sehr viel leichter, wenn du die Weißen Frauen wie dein Meister mit dem Feuer rufen könntest, aber das haben wir ja wohl oft genug ohne Erfolg versucht, oder? Wenn sie dich wenigstens besuchen würden, wie sie es angeblich so gern mit denen tun, die sie einmal berührt haben. Aber nein! Auch das frische Hühnerblut, das ich vor die Tür gestellt habe, hat nichts gebracht, ebenso wenig wie die Kinderknochen, die ich für einen Beutel Silber einem Friedhofsgräber abgehandelt habe, nur weil die Wächter vorm Tor dir erzählt haben, das würde gleich ein Dutzend Weißer Frauen anlocken!«

Ja. Ja! Farid wollte sich die Hände auf die Ohren pressen. Orpheus hatte recht. Sie hatten alles versucht. Aber die Weißen Frauen zeigten sich ihnen einfach nicht, und wer sonst sollte Orpheus verraten, wie er Staubfinger vom Tod zurückholen konnte?

Farid zog wortlos den Spaten aus der Erde und begann wieder zu graben.

Er hatte Blasen an den Händen, als er endlich auf Holz stieß. Die Truhe, die er aus der Erde zerrte, war nicht allzu groß, doch wie die letzte bis an den Rand mit Silbermünzen gefüllt. Farid hatte belauscht, wie Orpheus sie herbeigelesen hatte: »Unter den Galgen auf dem Finsteren Hügel, lange bevor der Speckfürst dort die Eichen für den Sarg seines Sohnes schlagen ließ, hatte eine Bande Wegelagerer eine Schatulle mit Silber vergraben. Danach hatten sie sich im Streit gegenseitig erschlagen, aber das Silber war noch dort, in der Erde, auf der ihre Knochen bleichten.«

Das Holz der Truhe war morsch, und Farid fragte sich wie bei den anderen Schätzen, die er ausgegraben hatte, ob das Silber nicht vielleicht doch schon unter dem Galgen gelegen hatte, bevor Orpheus seine Worte schrieb. Der Käsekopf lächelte auf solche Fragen hin nur wissend, aber Farid bezweifelte, dass er die Antwort wirklich kannte.

»Na bitte. Wer sagt’s denn? Für den nächsten Monat dürfte das reichen.« Orpheus’ Lächeln war so selbstverliebt, dass Farid es ihm zu gern mit einer Schaufel Erde aus dem Gesicht gewischt hätte. Für einen Monat! Mit dem Silber, das er und der Fleischberg in lederne Beutel füllten, hätte man ganz Ombra für Monate den hungrigen Bauch füllen können.

»Wie lange dauert das denn noch? Vermutlich ist der Henker mit dem frischen Galgenfutter schon auf dem Weg hierher.« Wenn Orpheus nervös war, klang seine Stimme nicht allzu eindrucksvoll.

Farid verschnürte wortlos einen weiteren prall gefüllten Beutel, stieß die leere Truhe mit dem Fuß in die Grube zurück und warf einen letzten Blick hinauf zu den Gehenkten. Der Finstere Hügel war schon einmal ein Galgenberg gewesen, doch erst der Hänfling hatte ihn wieder zur Haupthinrichtungsstätte erklärt. Von den Galgen vorm Stadttor war der Leichengestank allzu oft bis zur Burg hinaufgeweht, und dieser Duft vertrug sich so gar nicht mit den feinen Speisen, die der Schwager des Natternkopfes dort zu sich nahm, während Ombra hungerte.

»Hast du Spielleute für heute Nachmittag besorgt?«

Farid nickte nur, während er Orpheus die schweren Beutel nachtrug.

»Der gestern war wirklich ein Ausbund an Hässlichkeit!« Orpheus ließ sich von Oss auf sein Pferd helfen. »Wie eine zum Leben erwachte Vogelscheuche! Und das meiste, was aus seinem fast zahnlosen Mund kam, war wieder mal das Übliche: Schöne Fürstin liebt armen Spielmann, lalalala, schöner Fürstensohn verliebt sich in Bauerntochter, lalalali … Nicht ein brauchbares Wort über die Weißen Frauen.«

Farid hörte nur halb zu. Er war auf die Spielleute nicht mehr sonderlich gut zu sprechen, seit die meisten von ihnen für den Hänfling sangen und tanzten und den Schwarzen Prinzen als ihren König abgewählt hatten, weil er allzu offen gegen die Besatzer kämpfte.

»Immerhin –«, fuhr Orpheus fort, »– kannte die Vogelscheuche ein paar neue Lieder über den Eichelhäher. Es hat mich einiges gekostet, sie aus ihm herauszulocken, und er hat sie so leise gesungen, als stünde der Hänfling höchstpersönlich unter meinem Fenster, aber eins hatte ich tatsächlich noch nie gehört. Du bist immer noch sicher, dass Fenoglio nicht wieder schreibt?«

»Ganz sicher.« Farid hängte sich seinen Rucksack um und pfiff leise durch die Zähne, wie Staubfinger es immer getan hatte. Schleicher schoss mit einer toten Maus in der Schnauze hinter einem der Galgen hervor. Nur der jüngere Marder war bei Farid geblieben. Gwin war bei Roxane – als wollte er an dem Ort sein, an den Staubfinger am ehesten zurückkehren würde, falls der Tod ihn doch noch aus seinen bleichen Fingern entließ.

»Und warum bist du da so sicher?« Orpheus verzog angeekelt den Mund, als Schleicher Farid auf die Schulter sprang und in seinem Rucksack verschwand. Der Käsekopf verabscheute den Marder. Aber er duldete ihn, vermutlich, weil er einst Staubfinger gehört hatte.

»Fenoglios Glasmann sagt, dass er nicht mehr schreibt, und der muss es schließlich wissen, oder?«

Rosenquarz beklagte unentwegt, wie mühsam sein Dasein geworden war, seit Fenoglio nicht mehr auf der Burg, sondern wieder in Minervas Dachkammer wohnte, und auch Farid verfluchte jedes Mal die steile Holztreppe, wenn Orpheus ihn mit seinen Fragen zu Fenoglio schickte: Was für Länder liegen südlich des Meeres, das an das Reich des Natternkopfes grenzt? Ist der Fürst, der im Norden von Ombra herrscht, verwandt mit der Frau des Natternkopfes? Wo genau hausen die Riesen oder sind sie inzwischen ausgestorben? Fressen die Raubfische in den Flüssen auch Nixen?

Manchmal ließ Fenoglio Farid nicht einmal herein, nachdem er sich mühsam all die Stufen hinaufgequält hatte, doch ab und zu hatte er so viel getrunken, dass er in redseliger Stimmung war. An solchen Tagen übergoss der Alte ihn mit einem solchen Schwall von Informationen, dass Farid der Kopf schwirrte, wenn er zu Orpheus zurückkam – und der fragte ihn dann noch einmal aus. Es war zum Verrücktwerden. Aber jedes Mal, wenn die zwei versuchten, direkt miteinander zu sprechen, begannen sie nach wenigen Minuten zu streiten.

»Gut. Sehr gut! Es würde die Dinge komplizieren, wenn der Alte die Worte wieder dem Wein vorzöge! Schon seine letzten Ideen haben nur zu heilloser Verwirrung geführt.« Orpheus nahm die Zügel auf und blickte zum Himmel. Es sah nach einem weiteren regennassen Tag aus, grau und traurig wie die Gesichter in Ombra. »Masken tragende Räuber, Unsterblichkeitsbücher, ein Fürst, der von den Toten zurückkommt!« Kopfschüttelnd trieb er sein Pferd auf den Pfad zu, der nach Ombra führte. »Wer weiß, was ihm noch eingefallen wäre! Nein, Fenoglio soll sich ruhig um das bisschen Verstand trinken, das er noch hat. Ich werde mich um seine Geschichte kümmern. Ich verstehe sie eh viel besser als er.«

Farid hörte erneut nicht zu, während er seinen Esel aus dem Gebüsch zerrte. Sollte der Käsekopf nur reden. Ihm war gleich, wer von den beiden die Worte schrieb, die Staubfinger zurückbrachten. Solange es nur endlich geschah! Und wenn die ganze verdammte Geschichte dabei zum Teufel ging.

Wie immer versuchte der Esel, Farid zu beißen, als er sich auf seinen knochigen Rücken schwang. Orpheus ritt eins der schönsten Pferde in Ombra – der Käsekopf war trotz seiner plumpen Gestalt ein guter Reiter –, aber natürlich hatte er, geizig, wie er war, für Farid nur einen Esel angeschafft, bissig und so alt, dass er kahl auf dem Kopf war. Den Fleischberg hätten selbst zwei Esel nicht tragen können, und so trottete Oss neben Orpheus her wie ein zu groß geratener Hund, das Gesicht schweißnass vor Anstrengung, bergauf, bergab auf den schmalen Pfaden, die die Hügel um Ombra durchzogen.