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Fußnoten

1

Wenn du das ganze Märchen von den drei Böcken Bruse lesen willst, schau hinten im Buch nach.

DER BRIEF

Wenn du unten am Kai von Bord der Fähre gehst, dann spürst du sofort den Wind aus dem Tal. Selbst wenn es ein kalter Winter ist, spürst du ihn. Das Tal ist leicht zu finden. Es riecht nach Fichten. Und nach Tannen. Man muss nur losgehen.

Folge dem Weg, der geradeaus führt, vorbei an dem geschlossenen Kiosk, dem Laden und Theos Friseursalon, und weiter hinauf den Fluss entlang.

Anfangs ist es noch ziemlich flach und es gibt ein paar Häuser. Vor einem der letzten Häuser steht ein Bagger. Da wohnt Peter mit seiner Mutter.

Dann gibt es immer mehr Schnee und Wald und immer weniger Häuser. Der Weg ist nur noch halb so breit und doppelt so glatt. Es kann gut sein, dass du etwas skeptisch wirst, weil du hier noch nie vorher warst, und vielleicht fragst du dich, ob du falsch gegangen bist. Aber das bist du nicht. Denn gerade als du dich das fragst, da siehst du ein Schild.

»Glimmerdal« steht darauf. Und da weißt du, dass du richtig bist.

Als Erstes kommst du nach diesem Schild zu einem Campingplatz. Und jetzt hör gut zu: Du darfst um alles in der Welt nicht auf die Idee kommen, diesen Campingplatz zu betreten. Tust du es dennoch, dann komm hinterher nicht zu mir und sage, ich hätte dich nicht gewarnt. Klaus Hagen, der Leiter von Hagens Wellnesscamping, ist so böse, dass man ihn eigentlich in den Abfluss kippen sollte. Er hat überhaupt keinen Humor, und er kann keine Kinder leiden, und schon gar keine, die laut sind. Und weil ein paar Kinder einmal mit einer Steinschleuder eine Scheibe in einer der Campinghütten zerschlagen haben – wenn auch nicht mit Absicht –, so glaubt er, sie wären schlimmer als alles andere. (Um ehrlich zu sein: Das Kind, das die Scheibe mit der Schleuder zerschlagen hat, ist auch nicht besonders begeistert von Klaus Hagen. Es kommt vor, dass es abends wach im Bett liegt und überlegt, ob es nicht noch eine kaputt machen soll.) Also, wenn du schlau bist, dann gehst du an Hagens Wellnesscamping vorbei.

 

Nach dem Campingplatz kommst du in einen Wald, in dem der Schnee die Zweige fast bis auf deinen Kopf hinunterdrückt. Er wird vereinzelt auch als Märchenwald bezeichnet. Dahinter liegt Sallys grünes Haus, aber das hat nicht besonders viel Märchenhaftes an sich. Du kannst Sallys fast lilafarbene Dauerwelle hinter einer Topfpflanze im Wohnzimmerfenster hervorlugen sehen. Sally sieht dich auch. Da kannst du dir sicher sein. Sally sieht alles. Und wenn du dich wie eine kleine Maus im Tarnanzug um das grüne Haus herumschleichen würdest, ohne auch nur einen Pieps von dir zu geben: Sally hat dich doch gesehen. Sie macht auch nie Mittagsschlaf.

Aber wenn du sicher an Sallys Haus vorbeigekommen bist, dann gelangst du schließlich auf die Brücke, die über den Glimmerdalfluss führt. Gehst du über die Brücke und den Fluss und danach den Hügel nach rechts hoch, dann kommst du auf Gunnvalds Hof. Tust du das nicht, sondern gehst den Hügel nach links hoch, dann kommst du zu Tonje und deren Hof. Mehr Höfe gibt es hier oben unterhalb der Berge nicht.

Und jetzt bist du also im Glimmerdal. Herzlich willkommen.

Kapitel 1

In dem Tonje fast einen Salto
auf Skiern macht

Tief im Glimmerdal ist es an einem Nachmittag im Februar ganz still. Der Fluss rauscht nicht, denn er liegt unter einer Eisschicht. Die Vögel zwitschern nicht, denn sie sind in den Süden gezogen. Man hört nicht einmal die Schafe, denn die stehen im Stall. Es gibt nur weißen Schnee, dunkle Tannen und große, schweigsame Berge.

Aber mitten in diesem stillen Winter gibt es einen schwarzen Punkt, der bald Geräusche von sich geben wird. Dieser schwarze Punkt steht oben am Rand des Vardetind, am Anfang einer langen, ziemlich krummen Skispur. Der Punkt, das ist Tonje Glimmerdal. Sie hat einen Vater, der ist Bauer im Glimmerdal, und eine Mutter, die ist Meeresforscherin, draußen auf dem Meer. Und Tonje, sie hat eine rote Löwenmähne. Zu Ostern wird sie zehn Jahre alt. Das will sie feiern, dass es in den Bergen nur so kracht.

 

Klaus Hagen unten vom Campingplatz, der Mann, der keine Kinder mag, könnte eigentlich mit dem Leben ganz zufrieden sein. Es gibt nämlich nur ein einziges Kind im Glimmerdal. Und ein Kind, das müsste ja sogar für Klaus Hagen zu ertragen sein. Ist es aber nicht. Tonje Glimmerdal ist genau so ein Kind, das Klaus Hagen am allerwenigsten erträgt. Sie hat etwas an sich, das all seinen Feriengästen, wenn sie ihr begegnen, sofort begreiflich macht, dass sie gerade Tonjes Tal besuchen. Und dass es Tonjes Tal bleibt, egal, wie lange sie noch auf Hagens Wellnesscampingplatz wohnen. Dabei freut Tonje sich mehr als alle anderen über Besuch.

»Auf deiner Stirn sollte ›Herzlich willkommen‹ stehen, Tonje«, hat Tante Idun einmal gesagt.

Im Winter formen Tonjes Skispuren und Fußstapfen im ganzen Glimmerdal Kreise und Muster.

»Ich lasse sie morgens raus und hoffe, dass sie abends wieder heimkommt«, erklärt Papa Sigurd, wenn Leute, die ihn besuchen, fragen, was er mit seiner Tochter gemacht hat. Denn das fragen die Leute im Glimmerdal immer.

»Der kleine Wirbelwind vom Glimmerdal«, so wird sie genannt.

 

Und jetzt dreht Tonje sich ein wenig, sodass die Skispitzen auf den Veslehammaren zeigen. Sie haben an diesem letzten Freitag vor den Winterferien früher schulfrei bekommen. Es ist immer noch mitten am Tag.

»Winterferien sind eine gute Sache«, sagt Tonje zu sich selbst. »Winterferien und steile Abhänge.«

Den Veslehammaren geht es steil hinunter. So steil, dass Tonje dort, wo sie steht, erst einmal Mut fassen muss. Genau wie Tante Eir und Tante Idun, wenn sie zu Weihnachten nach Hause kommen. Sie starten hier oben, und dann fahren sie in voller Fahrt los, dass das Schneegestöber wie ein Brautschleier hinter ihnen herweht. Sie nutzen die Kante des Veslehammaren als Sprungschanze und fliegen hoch in den Himmel. Tante Eir hat sogar mal einen Salto gemacht.

»Man braucht zwei Dinge im Leben«, pflegt Tante Eir immer zu sagen. »Tempo und Zuversicht.«

Tonje findet, das hat Tante Eir klug gesagt. Sie übt verschiedene Dinge, die mit Tempo und Zuversicht zu tun haben, während die Tanten in Oslo sind und dort studieren.

Aber eines ist sicher, und zwar, dass Tonje Glimmerdal nicht den kleinsten Pupssprung machen würde, wenn nicht Gunnvald an seinem Küchenfenster säße und zuguckte. Denn zum einen macht es ihr keinen Spaß, zu springen, ohne dass jemand zuguckt, zum anderen ist es nicht schlecht, wenn der Zuschauer das Rote Kreuz alarmieren kann, falls sie nach der Landung nicht wieder aufsteht. Gunnvald wohnt zwar ziemlich weit entfernt vom Fuß des Vardetind, wo Tonje nun steht, aber er hat ein unglaublich gutes Fernglas. Jetzt wedelt Tonje mit den Armen und signalisiert, dass sie bereit ist.

 

Und damit ist es mit der Ruhe im Glimmerdal vorbei.

 

»Per Spielmann, der hatte nur ’ne einzige Kuh!«, grölt Tonje und wirft sich nach vorn.

Es ist wichtig zu singen, wenn man auf Skiern steht. Die Male, die sie vom Veslehammaren gesprungen ist, hat Tonje so laut gesungen, dass kleine Schneelawinen vom Glimmerhornet abgegangen sind.

»Per Spielmann, der hatte nur ’ne einzige Kuh!«

Sie krümmt sich zusammen, die Hände vor sich, und senkt den Kopf, um weniger Luftwiderstand zu haben.

»Er tauschte die Kuh, kriegt ’ne Geige dafür!«

Die Kante des Veslehammaren wächst, wird immer größer. Tonje spürt, dass sie jetzt ganz laut singen muss, damit sie ihren Absprung nicht noch schrecklich bereut.

»ER TAUSCHTE DIE KUH, KRIEGT ’NE GEIGE DAFÜR!«, singt sie so laut, dass es von den Bergen zurückhallt.

Oh du meine Güte, was für ein Tempo! Oh du meine Güte, wie schnell der Veslehammaren vor ihr wächst. Dass sie auch nie vernünftig wird. Dass sie es nie, nie, niemals lernt. Jetzt ist sie gleich da. Jetzt geht es gleich aufwärts. Es geht aufwärts. Tonje sucht mit ihrem Blick den Rand, von dem sie abspringen muss. Es kitzelt im Bauch und kribbelt in den Beinen.

»Du gute alte Vioooooooooooooooooooooooooooooooo-oooo-oooo-ooolin…!«

Tonje schwebt. Noch nie zuvor hat sie so viel von »Per Spielmann« gesungen, während sie in der Luft war. Das war ja fast der ganze Refrain. Hätte sie einen Salto gemacht, so wie Tante Eir, dann hätte sie ihn bestimmt dreimal singen können.

Aber ich kann leider noch keinen Salto, denkt Tonje da oben in der Luft. Oder kann ich ihn doch, denkt sie dann, denn sie spürt, dass ihr Kopf dort ist, wo die Beine sein sollten, und die Beine dort, wo der Kopf hingehört.

Und so macht Tonje nach einem wirklich beeindruckenden Flug eine Crashlandung im Schnee, wie ein umgedrehtes Gummibärchen in einer Sahnetorte mit viel zu viel Sahne. Es ist weiß und kalt, und sie weiß nicht, ob sie noch lebt oder schon tot ist, wie sie da so liegt. Das fragt Gunnvald sich sicher auch, unten hinter dem Küchenfenster. Tonje bleibt still liegen, bis sie spürt, wie ihr Herz schlägt. Dann schüttelt sie vorsichtig den Kopf, um sozusagen alles da drinnen wieder an Ort und Stelle zu kriegen.

»Ob das wohl eine Art Salto war?«, fragt sie sich.

Kapitel 2

In dem Gunnvald und Tonje
über früher sprechen

Gunnvald lebt in einem schrecklich großen Haus, er hat einen Stall und Schafe, genau wie Tonjes Familie, aber mit Gunnvalds Schafen ist immer etwas los. Sie laufen weg, sie sterben, oder sie fressen Sallys Tulpen. Zum Glück hat Gunnvald auch eine Tischlerwerkstatt. In ihr genießt er seine Tage und spart die Rente. Er ist 74 Jahre alt und Tonjes bester Freund.

»Dass so ein alter Kerl der beste Freund sein kann«, sagt sich Tonje in mancher schweren Stunde. »Es gibt wirklich keine große Auswahl hier im Glimmerdal.«

Aber in ihrem Inneren weiß Tonje, dass Gunnvald auch ihr bester Freund wäre, wenn in jedem Haus im ganzen Tal zehn Jahre alte Kinder leben würden. Sie mag Gunnvald so gern, dass es in ihrem Herzen knackt.

Er ist übrigens auch ihr Patenonkel. Das war mutig von Mama und Papa, so einem Brummbären zu erlauben, sie zur Taufe zu tragen, findet Tonje. Er hätte sie ja mit einem Rums auf den Kirchenboden fallen lassen können, wenn er Lust dazu gehabt hätte. Ja, denn Gunnvald kann manchmal so schlecht gelaunt sein, dass es nicht zu glauben ist. Aber dennoch wollten Mama und Papa, dass Gunnvald ihr Patenonkel wird. Sie legten Tonje Glimmerdal in seine riesigen Fäuste und seitdem hat er sie niemals fallen gelassen.

»Was hättest du ohne mich gemacht?«, fragt Tonje oft.

»Dann hätte ich mir ein Loch gebuddelt, mich reingelegt und wäre gestorben«, antwortet Gunnvald.

 

Als Tonje jetzt auf den Skiern über den Hof brettert, schiebt Gunnvald die Küchengardine mit seinem Fernglas zur Seite und steckt seinen Wuschelkopf hinaus in den Winter. Er ist riesig wie ein Troll. In seinen besten Zeiten war er noch größer – in den letzten Jahren ist er geschrumpft. Das liegt am Alter, an der Gicht und allem Möglichen, aber er geht nie zum Arzt. Er hat eine Riesenangst vor Ärzten.

Und außerdem ist es so: Wenn Gunnvald Kautabak unter der Lippe und die Geige unter dem Kinn hat, dann ist er gleich wieder munter wie ein Kalb. Seine Geige ist die beste Medizin, sagt Gunnvald. Wozu braucht man einen Arzt, wenn man eine Geige hat?

 

»War das ein Salto?«, fragt Tonje.

Gunnvald prustet, dass die Gardinen in ihren Haken klirren.

»Wenn das ein Salto war, Tonje Glimmerdal, dann bin ich ein Elch.«

Er fragt, ob Tonje eigentlich immer mit dem Kopf zuerst landen muss, so, dass alle glauben, sie wäre tot. Und Tonje bestätigt es, ja, das muss sie.

In der Gunnvald-Küche hat Tonje ihren festen Platz auf dem Stuhl am Fenster, einen eigenen Haken für ihre Mütze und einen eigenen Becher im Schrank. Gunda, Gunnvalds schwarz-weiße Katze, kommt und streicht ihr um die Beine.

»Stell dir vor, jetzt sind Winterferien. Erinnerst du dich noch an früher, Gunnvald?«

»Welches Früher denn?«, fragt Gunnvald und stellt ihr einen Teller hin.

Gunnvald lebt schon so lange, dass »früher« alles Mögliche für ihn sein kann.

»Das Früher, als Klaus Hagen noch nicht ins Glimmerdal gezogen war und wir dort unten einen ganz normalen Campingplatz hatten«, erklärt Tonje.

Ja, daran erinnert Gunnvald sich gut.

»Was war das jedes Mal in den Ferien für ein herrliches Gewimmel«, sagt er.

»Da kamen tonnenweise Kinder«, fügt Tonje hinzu. »Man brauchte nur runter zum Campingplatz zu gehen und schon war man umringt von Kindern wie von einem Bienenschwarm.«

Gunnvald erinnert sich. Doch dann kam der humorlose Klaus Hagen.

 

Er kam, sah sich das Glimmerdal an und fand, das sei ein fantastischer Ort. So fantastisch fand Klaus Hagen es hier, dass er gleich den ganzen Campingplatz kaufte. Er war unglaublich reich. Er baute da unten neue Hütten und machte den Campingplatz so schön, dass Tonje und alle anderen im Glimmerdal es einfach toll fanden. Als er fertig war, wurde der Campingplatz neu eröffnet. »Hagens Wellnesscampingplatz – der ruhigste im Land«, steht in seinen Werbebroschüren. Leute, die Ruhe und Frieden suchen, können dorthin kommen.

 

Zu Anfang fand Tonje das großartig. Es kamen viele, die Ruhe und Frieden suchten, und nichts ist so schön, wie Besuch hoch oben in den Bergen zu bekommen. Aber nach einer Weile stutzte sie. Warum um alles in der Welt kamen niemals Kinder?

Tonje quält sich nie lange mit einer Frage herum, also fuhr sie eines Tages mit dem Rad hinunter zu Klaus Hagen und fragte ihn: »Du, Klaus, warum sind nie Kinder auf deinem Campingplatz?«

»Weil es verboten ist, Kinder zu Hagens Wellnesscampingplatz mitzubringen«, antwortete Klaus Hagen darauf.

»Hä?«, wunderte Tonje sich.

»Meine Gäste sollen das Rauschen des Baches und das Sausen der Tannen hören, kein Geschrei und Gezanke«, erklärte Klaus Hagen und guckte auf seine Uhr.

Tonje starrte den Campingplatzbesitzer sprachlos an und erklärte das, was er soeben gesagt hatte, zum Schlimmsten, das sie je in ihrem Leben gehört hatte. Doch als sie das gerade getan hatte, brach Klaus Hagen seinen eigenen Rekord, indem er noch etwas Schlimmeres hinzufügte: »Und das mit dem Geschrei und Gezanke, das trifft auch auf dich zu, Trulte.«

»Tonje«, korrigierte Tonje ihn.

»Tonje, ja. Könntest du so gut sein und aufhören, den ganzen lieben Tag lang herumzusingen?«

Tonje kratzte sich vor Verblüffung im Ohr.

»Du störst die Ruhe meiner Gäste, wenn du laut grölend auf deinem Fahrrad vorbeifährst«, sagte Klaus Hagen und versuchte, eine Art höfliches Lächeln zu zeigen.

»Meinst du etwa, ich soll aufhören, in meinem eigenen Tal zu singen?«, fragte Tonje nach. Um ganz sicherzugehen.

»Na, was heißt schon ›dein eigenes‹«, murmelte Klaus Hagen verärgert. »Ich werbe damit, den ruhigsten Campingplatz im Land zu haben, und ich bitte dich, das zu respektieren.«

Doch so einfach kommt Klaus Hagen nicht davon. Man bittet Glimmerdals kleinen Wirbelwind nicht einfach so, mit dem Singen aufzuhören. Das hätten ihm alle sagen können. Wenn er gefragt hätte.

»Nein, leider geht das nicht«, antwortete Tonje Glimmerdal.

Dann trampelte sie das Tal hinauf, während sie so laut sang, dass sich das Gestrüpp am Wegesrand platt hinlegte.

Und seitdem hat Tonje mit dem Singen weitergemacht. Vielleicht singt sie sogar noch ein bisschen mehr als vorher, wenn man ehrlich sein soll. Besonders, wenn sie am Campingplatz vorbeiradelt. Und Klaus Hagen, der sieht Tonje inzwischen fast an, als wäre sie ein kleines, ekliges Insekt. Ganz schlimm war es im Herbst, als Tonje das Pech hatte und eine Fensterscheibe auf dem Campingplatz mit ihrer Schleuder kaputt machte. Dabei war das gar nicht mit Absicht gewesen. Sie hatte auf den Flaggenmast gezielt. Das gab so ein schönes Geräusch, wenn man auf einen Flaggenmast schoss, und es war so unglaublich schwierig. Man trifft nicht jedes Mal, wenn man auf Flaggenmasten schießt, auch Tonje Glimmerdal nicht.

»Ui«, sagte Tonje, als das Glas klirrte.

Sie radelte in Windeseile nach Hause und holte all ihr Erspartes. Das Geld lag in einer hübschen Schatulle, die sie bei Gunnvald geschnitzt hatte. Mit einem großen, zutiefst entschuldigenden Lächeln überreichte sie Klaus Hagen die Schatulle.

Doch der wollte sie nicht haben. Er nahm das Geld heraus und gab die Schachtel mit einem Grunzen zurück. »Was soll ich damit?«, fragte er verärgert.

Was war das für eine dumme Frage. Er konnte ja wohl sein Geld hineinpacken, wo er doch so reich war, meinte Tonje. Klaus Hagen schnaubte und öffnete nur die Tür, damit Tonje ging.

An dem Tag gab Tonje es auf, Klaus Hagen als Freund zu gewinnen. Ja, sie gab den ganzen Klaus Hagen auf, von der obersten Haarspitze bis zum untersten Nagel am großen Zeh. Wie konnte nur irgendjemand auf der ganzen Welt so eine schöne Schatulle ablehnen! Sie hatte einen ganzen Samstag gearbeitet, um die beiden Vögel auf dem Deckel hinzukriegen.

»Er hat keine Ahnung von Kunst«, sagte Gunnvald, als sie ihm das erzählte.

»Er hat überhaupt von nichts eine Ahnung!«, erklärte Tonje wütend.

 

»Dieser ganze Campingplatz, das ist ein trauriges Kapitel. Nicht ein einziges Ferienkind«, seufzt Tonje jetzt. »Nur gut, dass du mich hast, um dich aufzumuntern, Gunnvald, dann musst du hier nicht allein hocken und einsam zu Mittag essen.«

Gunnvald platziert seinen langen Körper auf dem Küchenstuhl, wobei es in seinen Knien und im Holz knackt.

»Amen«, murmelt er.

Sie füllen sich Klöße, gebratenes Fleisch und Kohlrabi auf und Tonje fragt sich, woher es kommt, dass Gunnvalds Essen immer besser schmeckt als jedes andere Essen, das sie kennt.

»Weißt du, was da drinnen steht und bereit ist für einen Test?«, fragt Gunnvald plötzlich und nickt mit dem Kopf in Richtung Werkstatt, lange bevor er das, was er gerade im Mund kaut, herunterschluckt.

Tonje legt ihre Gabel langsam auf den Teller.

»Die Rennrodel?«

Kapitel 3

In dem der erste
Rodel-Testlauf ansteht und Tonje
mit der Polizei gedroht wird

Tonje und Gunnvald denken sich ständig neue Projekte aus. Aber was sie diesen Winter vorhaben, das toppt alles. Das finden sowohl Tonje als auch Gunnvald. Sie wollen den perfekten Rennrodel entwickeln. Sie wollen ein Modell schaffen, das stabil wie eine Föhre ist, schnell wie ein Motorrad und so schön wie die tote Großmutter von Gunnvald. Wenn sie das schaffen, dann wollen sie noch vor Weihnachten eine richtige Produktion von Rennrodeln starten und genauso steinreich werden wie Klaus Hagen.

Die Idee entstand, nachdem Tonje eines Tages auf einem Tellerschlitten gefahren war.

»Irgendwie taugen die Tellerschlitten heutzutage nichts mehr«, beklagte sie sich bei Gunnvald.

»Pah, Tellerschlitten!«, hatte Gunnvald erwidert. »Du brauchst einen richtigen Rennrodel.«

»Und wo kriege ich den her?«, hatte Tonje gefragt.

»Vernünftige Rennrodel findet man nicht mehr«, erklärte Gunnvald.

Na, die müssten doch wohl zu finden sein, hatte Tonje widersprochen, wenn Rennrodel tatsächlich so gut waren. Und damit hatte Tonje bombensicher recht, wie Gunnvald fand. Also fuhr er am nächsten Tag in die Stadt und kam mit dem Wagen voller Kufen wieder zurück. Seitdem hat Gunnvald nach Herzenslust geschweißt, gehämmert und getischlert. Es gibt viel, was ausprobiert werden muss, um zu wissen, was am besten funktioniert. Schließlich wollen sie ja nicht irgendeinen blöden Rodel in Produktion bringen, »Glimmerdalsblitz« soll er heißen. Tonje ist von Haus zu Haus gegangen und hat alle Rodelwracks im ganzen Tal eingesammelt. Es ist wichtig, aus alten Produktionsfehlern zu lernen, erklärt Gunnvald.

»Wie läuft es denn mit dem Rodelbau?«, fragen die Leute häufig.

»Oh, es läuft«, antworten Tonje und Gunnvald dann und verraten nicht das Geringste.

Aber jetzt ist es schon ein paar Tage her, dass Tonje in der Werkstatt war. Sie war zu beschäftigt mit anderen Dingen. Als Gunnvald die Tür öffnet und Tonje drei fast fertige Rodelschlitten auf dem Boden vor der Schleifmaschine stehen sieht, fällt sie vor Freude fast in Ohnmacht.

»Jetzt brauchen wir eine Testperson. Am besten ein Kind«, murmelt Gunnvald und schaut schräg zu Tonje hinunter, dem einzigen Kind im Glimmerdal.

 

Drei Rennrodel oben am Start einer mehrere Kilometer langen Abfahrt, das ist ein herrlicher Anblick. Gunnvald trippelt vor Eifer von einem Bein aufs andere, während Tonje ihren Fahrradhelm festzieht.

»Wenn der Winter vorbei ist, haben wir einen Rodel, der bis zum Meer hinunterfahren kann. Darauf verwette ich meine Tabaksdose«, brummt er.

Tonje bleibt der Mund offen stehen. Das sind vier Kilometer. Mit ebenen Flächen, Steigungen und so. Ist es möglich, so weit zu fahren? Doch, ja, das glaubt Gunnvald, aber jetzt noch nicht. Zuerst müssen sie ein wenig testen und überlegen.

Es gibt zwei Arten von Bremsen. Einen Knüppel an dem einen Rodel, den Tonje mit der Hand ziehen soll, und eine Fußbremse am anderen Rodel.

»Und der dritte Rodel?«, fragt Tonje und zeigt auf den Rodel, der ein Lenkrad hat, aber keine Bremse.

»Wenn wir herausgefunden haben, welche Bremse am besten funktioniert, dann montieren wir sie dort dran. Der hat großartige Kufen«, erklärt Gunnvald und reibt sich die Hände.

Er drückt sie auf den ersten Rodel.

»Es ist möglich, dass er in den Kurven ausbricht. Aber in erster Linie interessiert mich die Bremse«, erklärt er.

Tonje greift das Lenkrad und Gunnvald hebt sein Walkie-Talkie. Bevor Tonje starten darf, müssen sie Kontakt zu Peter haben, damit der den Verkehr aufhalten kann.

Peter, das ist der, der in dem Haus mit dem Bagger davor wohnt. Er ist ein Freund von Tonje und Gunnvald und außerdem ist er verliebt in Tante Idun. Das hat Tante Eir erzählt. Nur dass Peter so schüchtern ist, dass er in der Sache nie weiterkommt. Er läuft nur verliebt herum, jahrein, jahraus, dass man ganz verrückt wird, allein vom Zusehen, wie Gunnvald findet.

»Testperson bereit. Over«, brummt Gunnvald jetzt in sein Walkie-Talkie.

Nach einigem Knistern und Knacken hört Tonje Peters Stimme: »Verkehr gestoppt. Over.«

»Over und los!«, ruft Gunnvald, und bevor Tonje sich recht besinnen kann, schubst er sie mit aller Kraft über den Hügelrand.

Das ist etwas anderes als ein Tellerschlitten, oh ja. Tonje ist schon an der Brücke, bevor sie das Wort »Brücke« überhaupt hat denken können. Hektisch sucht sie nach der Bremse. Da ist sie! Tonje zieht mit aller Kraft an dem Bremsknüppel, aber das war zu viel. Der Rodel bekommt Schlagseite und saust auf nur einer Kufe über die Brücke. Als sie versucht, ihn wieder aufzurichten, kippt er auf die andere Kufe. Es ist unmöglich, ihn unter Kontrolle zu bekommen.

»Juhuu!«, ruft Tonje, und bevor die Fahrt überhaupt richtig angefangen hat, fliegen sie und der Rodel wie zwei sonderbare Vögel durch die Luft und landen mit einem großen Pladatsch im Pulverschnee.

Zum zweiten Mal an diesem Tag liegt Tonje Glimmerdal in tiefem Schnee und fragt sich, ob sie noch am Leben ist. Dann spürt sie, dass sie etwas ins Gesicht pikst.

Ich lebe, denkt sie, und es gelingt ihr, den Kopf aus dem Schnee zu ziehen.

Das Tageslicht wird von zwei dünnen Beinen geteilt und Tonje versteht sofort, was sie da gepikst hat. Sallys armer Rosenbusch. Da liegt er unter dem Schnee, ahnt nichts Böses, und plötzlich kommt Tonje Glimmerdal angeflogen und weckt ihn mit ihrer ganzen Wucht aus dem Winterschlaf. Tonje hebt ihren Blick von Sallys Beinen hoch zu Sallys Gesicht. Diese steht mit einer Tablettenschachtel in der Hand da und schaut misstrauisch den verunglückten Rennrodel an.

»Was um Himmels willen treibst du denn jetzt schon wieder?«, fragt sie.

»Gunnvald und ich, wir testen«, erklärt Tonje und zieht ihr Fahrzeug aus dem Tiefschnee. »Das ist nicht gefährlich.«

»Na, wenn ich das man glauben soll.« Sally schüttelt den Kopf. »Hauptsache, du brichst dir nicht das Genick.«

Und Tonje verspricht, ihr Bestes zu tun, damit das nicht geschieht.

»Tschüss, Sally!«

 

»Schlechter Rodel«, sagt Tonje, als sie wieder oben bei Gunnvald angekommen ist.

»Schlechte Fahrerin«, entgegnet Gunnvald.

»Dann bring es mir doch besser bei!«, ruft Tonje wütend.

Und während sich die Sonne dem Gipfel des Storenuten nähert, erzählt Gunnvald Tonje alles, was er über die edlen Künste des Rennrodellenkens weiß. Und das ist nicht gerade wenig.

»Wo bleibt die Testperson? Over«, knattert es plötzlich im Walkie-Talkie.

»Sie ist auf dem Weg!«, ruft Tonje.

»Over«, fügt Gunnvald hinzu.

Einen Moment lang bleibt es still, dann ist zu hören: »Soll ich den Verkehr wieder fahren lassen? Over.«

»Auf keinen Fall! Over und aus«, ruft Gunnvald und drückt Tonje entschlossen auf den zweiten Rodel, der kürzer ist als der erste.

»Der ist besser«, verspricht Gunnvald. »Und du jetzt auch.«

Tonje kann sich gerade noch einprägen, wo die Bremse ist, da gibt Gunnvald ihr schon wieder einen heftigen Schubs.

Und das ist tatsächlich etwas anderes! Schnell hat Tonje alles unter Kontrolle. Der Rodel gehorcht ihr aufs Wort. An der Brücke bremst sie elegant mit dem Bein, genau wie Gunnvald es ihr erklärt hat, sodass sie nicht ins Schlingern kommt. Sally ist bis an die Straße herangekommen, und Tonje braust so dicht an ihr vorbei, dass ihre Röcke flattern.

»Pass auf, Sally. Das ist lebensgefährlich!«, ruft Tonje und beugt sich vor.

Auf den Misthaufen mit allen Tellerschlitten! Sie hat einen Düsenantrieb! Und hinein in den Märchenwald, wo sie von ein paar Schneebrocken getroffen wird, die sich nicht mehr am Baum haben halten können, aber Tonje brettert überall hindurch. Ganz von allein entsteht ein Rodellied.

»Oha, hier kommt ein Rodel angesaust.

Oha, hier kommt ein Rodel angebraust.«

Da kommt Hagens Wellnesscamping in Sicht und Tonje singt noch lauter:

»Oha, hier kommt ein Rodel in voller Fahrt.

Oha, hier kommt ein Rodel, Leute, seid parat.«

Sie kann Klaus Hagen zwischen der Rezeption und einer der Hütten erkennen.

»Leute, seid parat, Leute, Leute seid parat, ohaaaa«,

singt sie weiter und schießt vorbei. Bald kann sie Peter in der Ferne erkennen.

»Oha, hier kommt ein Rodel, der bremsen will.

Oha, ein Rodel, der sich in die Kurve legen will.«

Mit einem eleganten Schlenker, der die Schneekristalle in den letzten Sonnenstrahlen funkeln lässt, stoppt Tonje Glimmerdal einen Zentimeter vor den schwarzen Schutzschuhen, die Peter an den Füßen trägt.

»Guten Nachmittag«, sagt sie und steht auf.

Nachdem sie so lange in der gleichen Haltung gesessen hat, tun ihr die Beine weh. Peter zieht sie zur Schneewehe hinüber. Hinter ihm wartet eine ganze Reihe Autos. Die stehen schon seit der ersten Rodelfahrt da. Und das ist schon eine Weile her.

»Zum Glück sieht es so aus, als wären hier Straßenbauarbeiten«, sagt er und nickt zu seinem Bagger hin. »Die wollen nämlich hoch zu Hagens Wellnesscamping.«

»Ach ja, heute ist ja Freitag«, fällt es Tonje ein. Sie schaut genau in jedes einzelne Auto. Doch drinnen sitzen nur alte Ehepaare, die Langlaufski fahren wollen. Tonje seufzt. Da liegt das ganze Glimmerdal voll Schnee und Rodelbahnen, und nicht ein einziges Kind ist dabei, das für die Winterferien hierherkommt. Es ist eine Schande.

Als sie in Peters braunem Volvo wieder das Tal hinaufholpern, berichtet Tonje, dass Gunnvald glaubt, er könne einen Rennrodel bauen, der bis zum Meer fährt.

»Er hat schon einen mit richtig guten Kufen gebaut«, erklärt sie Peter, während sie die Schneewehen betrachtet und den Schnee, der am Fenster vorbeiweht. Dann bleibt ihr die Sprache weg, denn mitten im Weg steht Klaus Hagen – wie ein wütender Moschusochse.

Peter schaltet herunter und hält an. Die Kurbel des Seitenfensters ist kaputt, deshalb muss er die Tür öffnen. Klaus Hagen bekommt sie in den Bauch.

»Was höre ich da von Straßenbauarbeiten?«, zischt er. »Meine Gäste haben mir erzählt, sie haben eine Stunde lang warten müssen, bis sie endlich weiterfahren konnten.«

Peter räuspert sich.

»Soll ich dich bei der Polizei anzeigen, du Idiot?«, schreit Klaus Hagen.

Tonje beugt sich auf dem Beifahrersitz vor. »Man darf niemanden einen Idioten nennen«, sagt sie und wirft Klaus Hagen ihren bösesten Blick zu.

»Wenn es stimmt, dann darf man das!«, schreit Klaus Hagen. »Und das gilt noch viel mehr für dich, Trulte. Wenn ich dich noch einmal auf einem Rennrodel mitten auf der Straße sehen, dann rufe ich die Polizei.«

Bevor Tonje ihm erklären kann, dass sie nicht Trulte heißt, steckt Klaus Hagen seinen roten Kopf noch weiter ins Auto hinein.

»Es ist unmöglich, in diesem Tal ernsthaft Tourismus zu betreiben, solange du frei herumläufst! Weißt du das? Wenn ich dein Vater wäre, ich würde dich nicht aus dem Haus lassen!«

Tonje blinzelt verwundert. Was für schreckliche Dinge er sagt!

»Klaus Hagen, du bist ein …«

Peter zieht die Tür zu.

»Es ist nicht erlaubt, jemanden einen Idioten zu nennen«, sagt er lächelnd und gibt Gas, um in den Märchenwald zu kommen.

Kapitel 4

In dem Tonje sich nicht darum kümmert,
was Klaus Hagen sagt, und in dem
die Post vom Himmel regnet

Es ist wie verhext mit solchen Leuten wie Klaus Hagen, die einem immer alles kaputt machen müssen, was Spaß macht. Tonje ist ganz aufgebracht. Sie läuft auf Gunnvalds Hofplatz hin und her und wedelt mit den Armen.

»Und dann nennt er mich die ganze Zeit Trulte!«, ruft sie schließlich, damit Gunnvald endlich begreift, wie schlimm das Ganze ist.

»Wir sollten uns nicht die Bohne darum scheren, was dieser Holzkopf sagt«, erklärt Gunnvald einfach und lädt Peter als Dank für seine gute Arbeit zu einer Tasse Kaffee ein.