Einleitung

Wenn Sie auf dem Umschlag dieses Buches lesen Wie der Weizen uns vergiftet, denken Sie möglicherweise: »Schon wieder so ein Sensationstitel, Unsinn oder Quacksalberei.« Das hätte ich ebenfalls gedacht. Aber so überraschend Ihnen das auch erscheinen mag, Sie werden sehen, dass es sich anders verhält. Dieses Buch steht im Einklang mit meiner gewohnten Arbeitsweise: wissenschaftlich, gründlich und im Dienst der Gesundheit. Es stützt sich auf zahlreiche naturwissenschaftliche und medizinische Belege, Forschungsarbeiten aus der ganzen Welt, die in anerkannten medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Bei meinen Nachforschungen habe ich eine Überraschung nach der anderen erlebt, sodass meine kühnsten Vorstellungen übertroffen wurden. Wer hätte geglaubt, dass bestimmte Getreidesorten, insbesondere der Weizen, eine so finstere Kehrseite haben? Wer hätte geglaubt, dass ein so gängiges Lebensmittel wie der Weizen einem gentechnisch veränderten Organismus (GVO) näher steht als einer Wildpflanze?

Die Geschichte dieses Buches begann vor beinahe zehn Jahren. Meine Mutter litt am Reizdarmsyndrom (RDS), auch Irritables Darmsyndrom (IDS) genannt. Nach jeder Mahlzeit wurde sie von Bauchschmerzen geplagt, und jeden Abend hatte sie Unterleibskrämpfe. Der medizinische Befund lautete eindeutig: Stress sei die Ursache dieses rätselhaften Syndroms. Und meine Mutter gab zu: »Stimmt, immer, wenn ich gestresst bin, tut es noch mehr weh.« Aber warum verschwanden die Symptome dann nicht in längeren Ruhephasen? Warum ist bei dieser Krankheit, von der offenbar rund zwölf Prozent der Deutschen betroffen sind, keine der medikamentösen Stresstherapien (psychiatrisch oder nicht) wirksam? Schließlich sollte ich die Antwort finden.

In letzter Verzweiflung und nach einem Gespräch mit einer Freundin machte sich meine Mutter an die Lektüre eines polemischen Buches: L’Alimentation ou la troisième médecine (übersetzt: »Ernährung oder die dritte Medizin«) von Dr. Jean Seignalet, einem 2003 verstorbenen Immunologen. Dieses Buch ist in gewisser Weise ein Kuriosum: Dem Autor zufolge sind manche Eiweiße in der modernen Ernährung nicht an unser genetisches Erbe angepasst, verursachen Störungen im Darm und führen zu Krankheiten wie rheumatoide Arthritis (Rheuma), Spondylitis ankylosans, Lupus erythematodes (Schmetterlingsflechte), Sjögren-Syndrom, Morbus Basedow, Fibromyalgie (FMS), Spasmophilie, Chronisches Erschöpfungssyndrom, Schizophrenie, Akne, Neurodermitis und sogar Krebs. War das nicht ein wenig übertrieben? Meine Mutter, Apothekerin und ziemlich aufgeschlossen, beschloss dennoch, die Grundsätze dieser Diät zu befolgen, »um es auszuprobieren«. Nach einigen Wochen hatte sich ihr Zustand stark verbessert; ich brauchte allerdings noch ein paar Jahre, bis ich die Erklärung für die vollständige Heilung meiner Mutter fand. Angesichts einer solchen Veränderung war ich zuerst versucht, an einen großartigen Placeboeffekt zu glauben. Jedoch war ein neuer Aspekt ausschlaggebend: Seit 20 Jahren litt meine Mutter an einer doppelten Arthrose in der Hüfte und im Rücken mit Ischias (medizinischer Befund bestätigt durch Röntgenaufnahmen), die sich nicht günstig entwickelten. Man prophezeite ihr immer größere Schwierigkeiten beim Gehen. Dennoch, nach einigen Jahren mit dieser neuen Ernährung und einer radiologischen Routineuntersuchung, gab es keinen Zweifel: Beide Hüften waren wie neu, die Arthrose war verschwunden. Ich hätte dieses Wunder dem Vatikan melden können, doch später begriff ich durch den Austausch mit anderen Erkrankten, dass dies nichts mit einem Placeboeffekt zu tun hatte. In Wirklichkeit gibt es eine vollkommen wissenschaftliche, rationale Erklärung für dieses Wunder. Doch niemand weiß das oder spricht darüber. Inmitten der anerkannten Symbole, Institutionen und Lobbys hat diese Wahrheit keinen Platz, sie wird nicht akzeptiert.

In diesem Buch werden Sie wahrscheinlich viel Neues erfahren, wie ich selbst viel erfuhr, bevor ich es schrieb. Sie machen nähere Bekanntschaft mit Getreide, insbesondere Weizen, Sie erfahren, welchen Einfluss es auf die Gesundheit hat und wie bestimmte Ernährungsweisheiten, die von Forschungseinrichtungen oder der Industrie verbreitet werden, Ihre Gesundheit ruinieren können.

Was Sie hier lesen, ist aufrüttelnd und unbequem. Noch können Sie das Buch beiseitelegen und weiter in Unwissenheit leben … oder mit dem ersten Kapitel beginnen.

Teil 1

Die Vergangenheit kennen, um die Gegenwart zu verstehen

Kapitel 1

Eine Geschichte, die Bauchschmerzen verursacht

Dorians Geschichte beginnt im Sommer 1991. Damals beschlossen er und seine Frau, in Griechenland auf der Insel Korfu Urlaub zu machen. Korfu mit seiner dichten grünen Vegetation und seinen sonnigen Stränden, wo die Wassertemperatur im Sommer 25 Grad erreicht, wird auch die smaragdgrüne Insel genannt: ein Traumziel, um sich zu erholen und den Alltagsärger hinter sich zu lassen. Dorians Pläne waren ganz einfach: Sonne, Meer, Spaziergänge und leckeres Essen. Dabei hatte er die Rechnung ohne die Reisediarrhö gemacht. Diese auf Reisen sehr häufige Infektionskrankheit, gemeinhin »Magen-Darm-Entzündung« genannt, führt zu Durchfällen, Bauchkrämpfen, Übelkeit, Erbrechen, was einem den Urlaub verderben kann. Erst als Dorian wieder zu Hause war, gaben sich seine Verdauungsbeschwerden. Dennoch verschlechterte sich sein Gesundheitszustand von da an zusehends. In den folgenden 20 Jahren kamen nacheinander verschiedene Symptome hinzu: zunächst chronische Müdigkeit, wiederholte Verdauungsbeschwerden (Durchfälle), dann Magenverstimmungen und Sodbrennen, Übelkeit, Hautausschläge, trockene Haut, Gelenkschmerzen, nächtliche Muskelkrämpfe, affektive Störungen und eine leichte Depression, Schlafstörungen und eine unheilbare Interstitielle Zystitis (Blasenentzündung mit Schmerzen von Becken und Harnblase sowie häufigem Harndrang). Aufgrund der zahlreichen Symptome suchte Dorian seinen Arzt auf, doch dieser war völlig ratlos, hatten doch die ganzen Untersuchungen nichts Auffälliges ergeben: Vielleicht war es Stress?

Sein Arzt verwies ihn immerhin an Spezialisten: einen Gastroenterologen, einen Neurologen, einen Rheumatologen, einen Psychiater. Die Ärzte hatten alle keine Antwort darauf und begnügten sich damit, die Symptome mit Medikamenten versuchsweise zu verringern. Als Weihnachtsgeschenk bekam Dorian im Jahr 2006 eine Gallenkolik, gekrönt von einer Entfernung der Gallenblase, von der er sich Heilung versprach. Trotzdem waren die Verdauungsbeschwerden noch immer da, und Dorian fühlte sich immer schwächer. Im Frühsommer 2008, das heißt 17 Jahre nach seinem ersten Urlaub in Griechenland, fiel ihm eine einfache körperliche Anstrengung wie Bergaufgehen schwer. Dorian hatte Mühe, sich fortzubewegen, und verließ das Haus kaum noch; er ging nicht mehr zur Arbeit. Da er einen Großteil seiner Zeit im Internet verbrachte, tummelte er sich auch in medizinischen Foren, wo er sich mit anderen Erkrankten austauschte. Eines Tages schlug ihm jemand vor, er solle versuchen, bei seiner Ernährung das Gluten wegzulassen, ein Klebereiweiß im Weizen, aber auch in anderen Getreidearten wie Roggen oder Dinkel. Bei seinem Zustand hatte er nicht viel zu verlieren.

Das Resultat war unvorstellbar: Innerhalb einer knappen Woche waren alle Symptome stark zurückgegangen oder sogar verschwunden. Angesichts dieser radikalen Veränderung setzte Dorian seine Diät fort und erlebte, wie sich sein Gesundheitszustand von Tag zu Tag verbesserte, wobei noch keine Diagnose gestellt wurde. Das machte dann Dr. Kamran Rostami, Facharzt für Gastroenterologie, im Jahr 2012. Dorian litt an einer Glutensensitivität. Glutensensitivität (oder Glutenüberempfindlichkeit) ist eine häufig vorkommende Erkrankung, die weder durch eine Blut- noch durch eine Darmuntersuchung diagnostiziert werden kann. Die Erkrankung unterscheidet sich zwar von der Zöliakie, von der in diesem Buch ebenfalls die Rede sein wird, dennoch hatte sie einen Teil des Lebens dieses Mannes, eines hervorragenden Biochemikers 1, ruiniert.

Mindestens sechs Prozent der Bevölkerung sollen davon betroffen sein, manche Forscher gehen sogar von 35 Prozent aus.

Wie kann Weizen so viel Unheil anrichten?

Wie lässt sich erklären, dass ein so verbreitetes und auch so harmloses Getreide wie der Weizen die Ursache für so viele Beschwerden sein kann? Wir essen seit Jahrtausenden Weizen. Ist Weizen nicht die Grundlage unserer Ernährung? Wenn man bedenkt, dass 94 Prozent der Deutschen täglich Brot essen, dann stimmt das nachdenklich …

Ermutigen uns die Gesundheitsbehörden nicht dazu, anstelle von zu fetten und zu süßen Nahrungsmitteln mehr Getreideprodukte zu essen? In Deutschland werden die Ernährungsempfehlungen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) herausgegeben, in Österreich von der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung (ÖGE). In der Schweiz ist das die Aufgabe der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE bzw. SSN) und des Bundesamts für Gesundheit (BAG bzw. OFSP). All diese Fachleute vertreten ähnliche Auffassungen:

Ein symbolträchtiges Lebensmittel

Getreide ist wahrscheinlich die erste Kulturpflanze in der Geschichte. Es wurde rasch zu einer Hauptenergiequelle für den Menschen. Ackerbau unterliegt jedoch Witterungsschwankungen, und seit jeher gingen Missernten mit Hungersnöten einher, die manchmal zu Kriegen führten. In der Hoffnung auf bessere Ernten haben Glaubensvorstellungen und Riten bei der menschlichen Ernährung stets eine wichtige Rolle gespielt. Man denke nur an Osiris in Ägypten oder Demeter, Göttin des Ackerbaus und der Ernte in der griechischen Mythologie, von der sich der Name des Biosiegels »Demeter« ableitet (dessen Normen etwas strenger sind als die des »Deutschen Biosiegels«). Getreide galt schon früh als Symbol des Lebens und der Erneuerung, noch stärker verkörpert vom Brot, einem von Menschenhand geschaffenen Lebensmittel, bei dem man ans Teilen, an die Fülle und die praktische Verwendbarkeit denkt. Im Christentum ist das Brot ein starkes Symbol, das zusammen mit Wein den Leib und das Blut Christi versinnbildlicht. Hostien sind nichts anderes als ungesäuertes Brot aus Weizenmehl. Diese Symbolik findet sich auch im Gebet »Vaterunser« wieder: »Unser tägliches Brot gib uns heute.« Nach dem Sündenfall nimmt die Formulierung der Strafe auch auf das Brot Bezug: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.« (1. Mose 3, 19) Auch die Redensart »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen« ist biblischen Ursprungs. Eine solche Symbolik des Getreides und des Brots findet man weder in Asien, wo der Reisanbau vorherrscht, noch in Amerika, wo traditionell Mais angebaut wird. Diese Geschichte hat uns zahlreiche Redensarten als Erbe hinterlassen: »seine Brötchen verdienen«, »weggehen wie warme Semmeln«, »das frisst kein Brot«, »es ist sein täglich Brot«, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch das Wort »Kompagnon«, das etymologisch auf spätlat. compāniōnem, Akk. von compānio, »Brot-, Speisegenosse, Kamerad«, zurückgeht, bezeichnet den, »der das Brot mit (einem) anderen gemeinsam hat«.

Das Brotsymbol findet sich auch im Judentum beim Passahfest: Während der acht Festtage, in denen der Auszug der Israeliten aus Ägypten und der Neubeginn des landwirtschaftlichen Jahreszyklus gefeiert wird, essen gläubige Juden ungesäuertes Brot (Matzen) und keinerlei Lebensmittel, die mit Hefe hergestellt sind. Dies soll an die biblische Überlieferung erinnern, nach der die Israeliten so eilig aus Ägypten ausziehen mussten, dass zum Säuern und Gärenlassen der Brote keine Zeit mehr blieb. Die zwölf ungesäuerten »Schaubrote«, die am Sabbat als Opfergabe in den Tempel gebracht wurden, durften nur von den Priestern gegessen werden. Heute wird für Sabbat ein geflochtenes Brot, die Challa, gebacken. Dagegen gibt es im Islam, in den buddhistischen Traditionen und den chinesischen Religionen keine Brotsymbolik.

Mit der Begründung, dass Getreideprodukte eine Nahrungsquelle »aus komplexen Kohlenhydraten« darstellen, »die sehr verdauungsfördernd und fettarm sind und langfristig Energie liefern«, werden sie von den Gesundheitsbehörden überall in Europa und Nordamerika zum gesunden Lebensmittel schlechthin erhoben. Über die vermeintlich gesunden Eigenschaften von Getreide könnte man viel sagen. Es wäre interessant, die Zusammenhänge zwischen dem Verzehr von Getreide und Übergewicht oder Diabetes näher zu betrachten (dazu sind zahlreiche Studien erschienen, und es wurde bereits einiges geschrieben2, 3), aber das ist nicht das Thema dieses Buches. Was uns heute interessiert, ist das Auftauchen »neuer« Beschwerden im Zusammenhang mit dem Verzehr von Weizen; gerade die neueren, überraschenden medizinischen Erkenntnisse möchte ich mit Ihnen teilen. Um sie jedoch zu verstehen, müssen wir zurückblicken. Der Platz, den Getreide heute in unserer Ernährung einnimmt, beruht auf einer Esstradition (lesen Sie dazu den Kasten), die sehr weit zurückreicht. Wobei alles relativ ist …

Kapitel 2

Ernährung in der Altsteinzeit

Um die aktuelle Situation zu verstehen, müssen wir ein wenig zurückschauen. Durch den Blick in die Vergangenheit können wir die Gegenwart besser begreifen, das Ganze im Kontext betrachten und sehen, wo die Probleme liegen. Woraus bestand die Nahrung unserer Vorfahren? Was aß der Mensch zu Beginn?

Der Mensch im eigentlichen Sinn (im Sinn der Evolution) erscheint mit der Trennung von den Menschenaffen, die sich vor ungefähr acht bis neun Millionen Jahren vollzogen hat. Das letzte Fossil, das diese Daten stützt, ist das 2001 im Tschad entdeckte sieben Millionen Jahre alte Typusexemplar von Sahelanthropus tchadensis. Die menschliche Ernährung hat sich weiterentwickelt und je nach Zeit und Raum verändert, aber sie hat innerhalb dieses langen Zeitraums eine Vielzahl gemeinsamer Merkmale beibehalten – bis zum Beginn des Ackerbaus vor etwa 10 000 Jahren.

Mit anderen Worten, gemessen an der Entwicklung der Menschheit, sind die in der Jungsteinzeit (vor 10 000 Jahren) aufgetretenen Veränderungen noch sehr frisch. Aus dieser Feststellung ergibt sich die Hypothese vieler Wissenschaftler: Der Mensch hatte keine Zeit, sich an die moderne Ernährung anzupassen, und eben diese neue Ernährungsweise ist vermutlich die Wurzel unserer modernen Krankheiten.

Diese Theorie wird erhärtet durch die Forschungsergebnisse von Anthropologen, die zeigen, dass die Jäger und Sammler des 19. und 20. Jahrhunderts (deren Lebensweise der unserer urgeschichtlichen Vorfahren gleicht) unsere »Zivilisationskrankheiten« nicht kennen, insbesondere Fettleibigkeit, Osteoporose, Diabetes, Bluthochdruck (arterielle Hypertonie), Schlaganfall und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenn man die Individuen in der jeweiligen Altersgruppe vergleicht. Auch Krebs kommt seltener vor. Zudem haben Interventionsstudien, die die Auswirkungen einer archaischen Steinzeiternährung auf Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck beobachteten, zu positiven Resultaten geführt. Auch wenn es schwierig sein mag, daraus eine endgültige Schlussfolgerung zu ziehen bzw. einen solchen Ernährungsstil zu pflegen, werden wir sehen, dass vielleicht schon einige Anpassungen genügen.

Laut Spezialisten wie Professor Staffan Lindeberg von der Universität Lund in Schweden bestand die Nahrung des Menschen der Altsteinzeit aus süßen Früchten, Beeren, Sprossen, Knospen, Blüten und jungen Blättern, Fleisch, Knochenmark, tierischen Innereien, Fischen und Krustentieren, Insekten, Larven, Eiern, Wurzeln, Pflanzenzwiebeln, Ölsaaten und Saatkörnern (außer Getreide)4. Laut Professor Lindeberg verzehrte der Mensch zu jener Zeit kein Getreide, keine Hülsenfrüchte, keine Milchprodukte, keine Zucker und kein raffiniertes Öl. In der Getreidefrage sind nicht alle Wissenschaftler dieser Meinung, und jüngste Untersuchungen lassen Zweifel aufkommen über den genauen Zeitpunkt, ab dem der Mensch begann, sich regelmäßig von Getreide zu ernähren. Im Jahr 2010 konnten amerikanische Anthropologen Getreiderückstände im Gebiss von Neandertalerskeletten nachweisen, die im Irak und in Belgien5 gefunden worden waren und nach der Radiocarbonmethode auf schätzungsweise 44 000 Jahre v. Chr. datiert wurden. Die analysierten Rückstände von Getreidekörnern ähneln einer sehr alten Gerstenart und geben über zwei Punkte Aufschluss: Zum einen enthülste der Neandertaler das Getreide vor dem Verzehr, zum anderen kochte er es bereits teilweise. Diese Entdeckung wurde im selben Jahr von einem Team aus italienischen, tschechischen und russischen Forschern bestätigt, die zeigen konnten, dass Mühlsteine bereits vor 30 000 Jahren in Europa verwendet wurden, um Getreidekörner vor dem Kochen grob zu zermahlen6. Es ist daher anzunehmen, dass in manchen Siedlungsgebieten schon vor mehr als 40 000 Jahren sporadisch Getreide gekocht und gegessen wurde. Das mag uns wie eine sehr lange Zeit vorkommen, aber wenn man die Zeitrechnung zum Vergleich auf ein Kalenderjahr überträgt, essen wir seit weniger als zwei Tagen Getreide.

Man weiß außerdem, dass die Eiweißzufuhr relativ hoch war, nämlich bei 15 bis 35 Prozent der gesamten aufgenommenen Kalorien lag. Die Fett- und Kohlenhydratzufuhr musste in den verschiedenen Jahreszeiten und Regionen je nach dem Pflanzenangebot beträchtlich schwanken. Die Gesamtkalorienzufuhr (die gesamte durch die Nahrung aufgenommene Energie) war vermutlich niedrig bis mäßig. Diese Ernährung war insgesamt also sehr weit entfernt von unserer modernen Ernährung, die kalorienreich und ballaststoffarm ist, reich an Getreideprodukten und demnach an Kohlenhydraten, mäßig reich an Eiweiß (durchschnittliche Zufuhr: 16,9 Prozent) und oft reich an minderwertigen Fetten. Zwei Unterschiede sind fundamental: In der Altsteinzeit gab es kein Getreide und keine Milchprodukte.

Getreide: Der Ursprung des Ackerbaus

Als Getreide werden die Pflanzen der Familie der Süßgräser (Poaceae oder Gramineae) bezeichnet, die wegen ihrer Körnerfrüchte kultiviert werden. Zu dieser Familie gehören Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel, Kamut, Reis, Hirse, Mais und Teff. Dagegen handelt es sich bei Buchweizen (Fagopyrum, aus der Familie der Knöterichgewächse [Polygonaceae]) und Quinoa (Chenopodium quinoa, aus der Familie der Fuchsschwanzgewächse [Amaranthaceae]) nicht um Getreide, sondern um Pseudogetreide, deren Früchte ähnlich wie Getreidearten verwendet werden. Nicht alle Süßgräser sind Getreide, so sind Bambus und Zuckerrohr Süßgräser, aber kein Getreide. Die Süßgräser sollen sich bereits in der Kreidezeit, dem letzten Abschnitt des Erdmittelalters (Mesozoikum), also vor etwa 107 bis 129 Millionen Jahren, entwickelt haben11.

Als Wissenschaftler am Nationalen Institut für Agronomieforschung (INRA) in Frankreich die Genduplikationen innerhalb des Getreide­genoms analysierten, erarbeiteten sie ein Modell, nach dem sich für die Getreidearten mit fünf Chromosomen ein gemeinsamer Vorfahr identifizieren lässt. Dieses Modell wird in der Grafik auf S. 27 dargestellt.

Man kann sehen, dass vor etwa 60 Millionen Jahren ein zwischenzeitlicher Vorfahr aufgetaucht ist. Dieser Vorfahr hatte anscheinend zwölf Chromosomen, und demnach ist sein nächster aktueller Vertreter der Reis (ebenfalls zwölf Chromosomen), weshalb einige Forscher ihn als den »Stein von Rosette« des Getreides bezeichneten.

Getreide wurde zum ersten Mal vor ungefähr 12 000 bis 10 000 Jahren von den Menschen des Natufien domestiziert, das heißt kultiviert. Das Natufien ist eine Kultur des Epipaläolithikums im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds, an der östlichen Mittelmeerküste und ihrem Hinterland (heute Israel, Syrien, Jordanien, Irak). Im Vorderen Orient also finden sich die ersten Spuren des Neolithikums, das heißt von Sesshaftwerdung und Ackerbau mit dem Anbau von Getreide. Dieser Aspekt ist noch nicht allgemein anerkannt, dennoch kann es als sicher gelten, dass die Bevölkerung des Natufien die erste war, die reichlich Wildgetreide verzehrte12.

Das ist noch eine recht kurze Zeit, wenn man bedenkt, dass der Mensch vor acht bis neun Millionen Jahren erschienen ist. Der Mensch ging schrittweise vom Stadium des Jägers und Sammlers zu dem des Ackerbauern und Viehzüchters über. Um den Vergleich mit dem Kalenderjahr nochmals aufzugreifen: Danach hätte der Getreideanbau am letzten Tag, das heißt am 31. Dezember gegen 13 Uhr, begonnen und so 364 Tage mit anderen Ernährungsgewohnheiten beendet. Das Aufkommen des Ackerbaus stellt einen Wendepunkt für die Menschheit dar, denn durch diese neue Lebensweise konnte der Mensch anderen Tätigkeiten als der Jagd nachgehen. Dieser Wandel steht also am Beginn der Kultur und der Entfaltung des Menschen, wie man ihn heute kennt, der sich ganz selbstverständlich seiner geistigen Arbeit widmet und sich bei der Jagd auf Stechmücken im Sommer beschränkt.

Ich werde mich hier nicht darüber auslassen, dass in der Altsteinzeit keine Milchprodukte in der menschlichen Nahrung vorkamen. Sie wurden nach und nach, mit der Ausbreitung des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit, noch später als das Getreide integriert. Ich möchte dennoch einige wichtige Punkte erwähnen: Im genetischen Programm der Menschen wurde die Laktase, ein Enzym, das für die Verdauung der Laktose (Milchzucker in der Milch von Säugetieren) notwendig ist, während der Stillzeit produziert und bildete sich bei der Entwöhnung, das heißt etwa drei Jahre nach der Geburt, zurück. Der paläolithische Mensch war also nicht in der Lage, im Alter von über drei Jahren Milch zu verdauen, was kein Problem war, denn als es noch keine Viehzucht gab, trank der Mensch keine Milch von Tieren. Der massenhafte Konsum von Milchprodukten, wie er für die westlichen Länder charakteristisch ist, stellt ebenfalls eine neue Etappe in der menschlichen Ernährung dar. Übrigens wird bei der Mehrheit der Menschen auf der Welt, insbesondere bei Afrikanern und Asiaten, Laktase im Erwachsenenalter noch immer nur in geringer Menge oder gar nicht produziert, was sich in Verdauungsbeschwerden nach dem Verzehr von Milch, Quark oder Sahne äußert. Im Gegensatz dazu haben die Bevölkerungen, die aus Nordeuropa oder dem Kaukasus stammen, eine Mutation durchlaufen, die durch umweltbedingte genetische Selektion zu einer dauerhaften Produktion von Laktase geführt hat: Ihr regelmäßiger Milchkonsum hat den Organismus dazu gebracht, weiterhin Laktase zu produzieren13. Doch selbst wenn die Bewohner der nördlichen Hemisphäre aufgrund der anhaltenden Laktaseproduktion auch im Erwachsenenalter Milch trinken können, sind sie trotzdem nicht vor Problemen gefeit, die mit der Aufnahme von Milcheiweiß zusammenhängen (lesen Sie dazu den Kasten auf S. 29).

Dass ein Produkt, das auf den ersten Blick ganz gewöhnlich und alltäglich erscheint, gefährlich ist, könnte von einer fehlenden Anpassung im genetischen Sinn herrühren, da ja Milchprodukte erst seit kurzer Zeit Bestandteil der menschlichen Ernährung sind. Der Wissenschaftsjournalist Thierry Souccar hat sich dieses Themas in Lait, mensonges et propagande (übersetzt: »Milch, Lügen und Propaganda«) angenommen. Das Buch hat in den französischsprachigen Ländern viel Staub aufgewirbelt und dem Autor den Zorn der Milchindustrie und zahlreicher Ärzte eingebracht. Ich empfehle das Buch wärmstens.


Getreide, Kochen und Evolution

Eine Schlüsselfrage in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit war die Suche nach einer Ernährung, die mehr Kalorien und weniger »Anti­nährstoffe« enthielt. Sobald wir Menschen über eine reichhaltigere und kalorienreichere Nahrung verfügten, konnten wir uns anderen Aktivitäten wie den Wissenschaften oder der Kunst widmen. In manchen Pflanzen sind Antinährstoffe in mehr oder weniger großen Mengen enthalten, welche der Abwehr von Fressfeinden dienen. Sie wirken, indem sie die Aufnahme bestimmter Nährstoffe wie Mineralien blockieren. Ein allzu regelmäßiger Verzehr solcher antinutritiven Substanzen führt schließlich zu einer Mangelernährung. Getreide und Hülsenfrüchte sind eine wesentliche Quelle von Phytinsäure, Trypsininhibitoren und Lektinen, drei für den Menschen bedeutenden Antinährstoffen, die die Aufnahme von Kalzium, Zink, Eisen und Proteinen im Körper hemmen. Indessen ist Kochen eine Möglichkeit, die Wirkung der antinutritiven Substanzen erheblich zu verringern7, 8, 9. Daher war das Kochen von Nahrung ein wichtiger Schritt in unserer Entwicklung, da wir so auch kalorien­reichere Pflanzen verwerten konnten10. Für die Forschung besteht inzwischen kein Zweifel mehr, dass das Kochen unseren Ernährungszustand verbesserte und somit eine wichtige Rolle bei der Entwicklung unseres Gehirns spielte.


Milch, ein Risikofaktor für Autoimmunerkrankungen

Outi Vaarala ist Professorin für Pädiatrische Immunologie und Leiterin der Abteilung für Immunreaktionen am Nationalen Gesundheitsinstitut in Helsinki, Finnland. Sie hat im März 2012 eine aufsehenerregende Studie publiziert: 1113 finnische Kinder, die eine genetische Veranlagung zu Diabetes mellitus Typ 1 zeigten, bekamen nach dem Zufalls­prinzip und im Doppelblindversuch (weder die Eltern noch die Ärzte wussten, wer das eine oder das andere Präparat erhielt) in den ersten sechs Lebensmonaten folgende Säuglingsanfangsnahrung:

Molkenprotein ist ein Protein, das etwa 20 Prozent der Gesamtproteinmenge in der Milch ausmacht, die übrigen 80 Prozent bestehen aus Kasein. Bei der Hydrolyse werden die Proteinketten in kleinste Fragmente aufgespalten, als ob sie vorverdaut wären. Diese Technik hat mehrere Vorteile, vor allem lässt sich damit das Allergierisiko verringern. Forscher hatten bereits gezeigt, dass ein Präparat aus hydrolysiertem Kasein, verglichen mit intaktem Kasein, das Risiko einer Autoimmunreaktion minderte14. Der Gesundheitszustand der Kinder wurde mit drei Monaten, sechs Monaten, einem Jahr, zwei Jahren und drei Jahren evaluiert und das Vorhandensein von Autoantikörpern gegen das Insulin oder andere Proteine, die eine dem Typ-1-Diabetes zugrunde liegende Immunreaktion ankündigten, gemessen. Resultate: Im Vergleich zu dem klassischen Präparat aus Kuhmilch verringerte der Einsatz von Molkenprotein-Hydrolysat das Risiko einer Autoimmunreaktion um 25 Prozent und der Einsatz von Molkenprotein ohne Rinderinsulin um 61 Prozent. Nach zahlreichen anderen Beobachtungen aus den letzten 20 Jahren hat diese Studie bestätigt, dass Milchproteine bei der natürlichen Immunabwehr eine Rolle spielen und eine Gefahr für die Gesundheit darstellen können.