image1
Logo

Der Autor

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Jg. 1956, ist hauptamtlicher Dozent für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg.

Approbation als Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Zusatzausbildungen in Psychoanalyse (DGIP, DGPT), Personzentrierter Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (GwG), Gesprächspsychotherapie (GwG). Langjährige Tätigkeit als niedergelassener Psychotherapeut und als Geschäftsführer eines Jugendhilfeträgers (AKGG). Supervisor bzw. Dozent/Ausbilder bei verschiedenen Psychotherapie-Ausbildungsstätten.

Klaus Fröhlich-Gildhoff

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen

Ursachen, Erscheinungsformen und Antworten

3., erweiterte und aktualisierte Auflage

Mit Beiträgen von Thomas Hensel, Eva-Maria Sättele und Michel Fröhlich-Gildhoff

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032633-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032634-7

epub:   ISBN 978-3-17-032635-4

mobi:   ISBN 978-3-17-032636-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. Vorwort zur 3. Auflage
  3. 1 Einleitung
  4. 2 Begriffsbestimmung: Was ist »verhaltensauffällig«?
  5. 2.1 Definition(sversuche)
  6. 2.1.1 Normen
  7. 2.1.2 Kriterien für »Auffälligkeit« bzw. »Störung«
  8. 2.1.3 Seelische Erkrankung
  9. 2.1.4 Seelische Behinderung
  10. 2.1.5 Schlussfolgerung
  11. 2.2 Klassifikationssysteme
  12. 2.2.1 Kategoriale Klassifikation
  13. 2.2.2 Dimensionale Klassifikation
  14. 2.3 Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen; Epidemiologie
  15. 2.4 Die Bedeutung des Geschlechts
  16. Zusammenfassung
  17. Fragen zur Selbstüberprüfung
  18. Weiterführende Literatur zum Gesamtkapitel
  19. 3 Allgemeines Modell der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten
  20. 3.1 Allgemeine Überlegungen
  21. 3.2 Frühkindliche (Normal-)Entwicklung: Die Entstehung des Selbst als handlungsleitende Struktur
  22. 3.3 Integratives bio-psycho-soziales Modell zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten
  23. 3.3.1 Biologische Ursachen
  24. 3.3.2 Soziale Prozesse: Frühkindliche (Beziehungs-) Erfahrungen
  25. 3.3.3 Selbststruktur
  26. 3.3.4 Risiko- und Schutzfaktoren
  27. 3.3.5 Entwicklungsaufgaben
  28. Zusammenfassung
  29. Fragen zur Selbstüberprüfung
  30. Weiterführende Literatur
  31. 4 Diagnostik und Indikationsstellung
  32. 4.1 Was ist Diagnostik und wozu dient sie?
  33. 4.2 Grundprinzipien und Prozess
  34. 4.2.1 Grundprinzipien
  35. 4.2.2 Diagnostischer Prozess
  36. 4.3 Diagnostische Methoden
  37. 4.3.1 Erhebung der Anamnese
  38. 4.3.2 Soziale Situation/Diagnostik psychosozialer Bedingungen
  39. 4.3.3 Systematische Beobachtung
  40. 4.3.4 (Psychologische) Testverfahren
  41. 4.3.5 Weitere, körperbezogene Diagnostik
  42. 4.4 Integration der Daten
  43. Zusammenfassung
  44. Fragen zur Selbstüberprüfung
  45. Weiterführende Literatur
  46. 5 Spezifische Formen von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen
  47. 5.1 Internalisierende Auffälligkeiten
  48. 5.1.1 Depression
  49. Zusammenfassung
  50. Fragen zur Selbstüberprüfung
  51. Weiterführende Literatur
  52. 5.1.2 Angststörungen
  53. Zusammenfassung
  54. Fragen zur Selbstüberprüfung
  55. Weiterführende Literatur
  56. 5.1.3 Ess-Störungen
  57. Zusammenfassung
  58. Fragen zur Selbstüberprüfung
  59. Weiterführende Literatur
  60. 5.2 Externalisierende Auffälligkeiten
  61. 5.2.1 AD(H)S
  62. Zusammenfassung
  63. Fragen zur Selbstüberprüfung
  64. Weiterführende Literatur
  65. 5.2.2 Gewalt und Delinquenz
  66. Zusammenfassung
  67. Fragen zur Selbstüberprüfung
  68. Weiterführende Literatur
  69. 5.3 Komplexe Auffälligkeiten
  70. 5.3.1 Borderline-Persönlichkeitsentwicklungsstörung
  71. Zusammenfassung
  72. Fragen zur Selbstüberprüfung
  73. Weiterführende Literatur
  74. 5.3.2 Reaktionen auf schwere Belastungen (Traumafolgestörungen): Symptomatik – Störungsmodelle – Psychotherapie
  75. Thomas Hensel
  76. Zusammenfassung
  77. Fragen zur Selbstüberprüfung
  78. Weiterführende Literatur
  79. 5.3.3 Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit
  80. Zusammenfassung
  81. Fragen zur Selbstüberprüfung
  82. Weiterführende Literatur
  83. 5.3.4 Internet- und Computermissbrauch bzw. -abhängigkeit
  84. Klaus Fröhlich-Gildhoff und Michel Fröhlich-Gildhoff
  85. Weiterführende Literatur
  86. 6 Unterstützungs- und Begegnungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten
  87. 6.1 Frühe Hilfen
  88. 6.1.1 Frühförderung
  89. Eva-Maria Sättele
  90. Weiterführende Literatur
  91. 6.1.2 Unterstützungsangebote für Eltern und Säuglinge
  92. Zusammenfassung
  93. Fragen zur Selbstüberprüfung
  94. Weiterführende Literatur
  95. 6.2 Jugendhilfe, Hilfen zur Erziehung
  96. Zusammenfassung
  97. Fragen zur Selbstüberprüfung
  98. Weiterführende Literatur
  99. 6.3 Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen
  100. 6.3.1 Einführung: Traditionen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
  101. 6.3.2 Grundkonzept und Praxis der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
  102. Zusammenfassung
  103. Fragen zur Selbstüberprüfung
  104. Weiterführende Literatur
  105. 6.4 Kinder- und Jugendpsychiatrie
  106. Weiterführende Literatur
  107. 6.5 Der Blick über das Individuum hinaus: Die Zusammenarbeit mit Eltern und sonstigen Bezugspersonen
  108. 6.5.1 Begleitende Zusammenarbeit mit Bezugspersonen
  109. Weiterführende Literatur
  110. 6.5.2 Elternkurse
  111. Zusammenfassung
  112. Fragen zur Selbstüberprüfung
  113. Weiterführende Literatur
  114. 6.6 Prävention und Resilienzförderung
  115. 6.6.1 Präventionsprogramme, die auf eine allgemeine Entwicklungsförderung abzielen
  116. 6.6.2 Präventionsprogramme mit spezifischer Zielrichtung
  117. Zusammenfassung
  118. Fragen zur Selbstüberprüfung
  119. Weiterführende Literatur
  120. Literatur
  121. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Das vorliegende Buch versucht, einen Überblick über die wichtigsten Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter sowie die professionellen »Antworten« – also Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote – zu geben. In das Buch sind neben der theoretischen Reflexion der relevanten Literatur auch die praktischen Erfahrungen des Autors als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut ebenso eingeflossen, wie Erkenntnisse und Erfahrungen, die im Rahmen der Ausbildung von Studierenden an der Evangelischen Hochschule Freiburg und verschiedenen Universitäten gemacht wurden. Durch diese Erfahrungen ergaben sich Schwerpunktsetzungen und zum Teil die Strukturierungen dieses Buchs.

Das Werk steht an der Schnittstelle zwischen akademischer Ausbildung und der praktischen Arbeit mit (verhaltensauffälligen) Kindern und Jugendlichen. Es möchte die Tätigkeit von (angehenden) Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und (angehenden) Psychologen aber auch von Fachkräften in den verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit, der Sozialpädgaogik, der Jugendhilfe und der Heilpädagogik bereichern. Es wäre ohne die Unterstützung von Kollegen und Kolleginnen aus Wissenschaft und Praxis nicht möglich gewesen; für die wertvollen Rückmeldungen möchte ich mich bedanken.

Ein besonderer Dank geht an Michael Böse, Alexandra Ringler und Simone Beuter, die bei der Zusammenstellung und Fertigstellung des Buches äußerst hilfreich waren.

Ein Dank gilt auch dem Team des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung an der EH Freiburg und meiner Familie; diese haben mich bei der Fertigstellung unterstützt und mich vor allem in der Endphase ausgehalten. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner Kollegin Johanna Hartung, die mich letztlich zu dem Buch angeregt hat und Herrn Dr. Poensgen vom Kohlhammer Verlag, der die Realisierung möglich machte.

Ich freue mich über Anregungen und Verbesserungsvorschläge.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde nicht geschlechtsneutral formuliert. Die Bezeichnungen umfassen in der Regel beide Geschlechter.

 

Freiburg, im Sommer 2007

Klaus Fröhlich-Gildhoff

Vorwort zur 3. Auflage

 

 

Als Autor bin ich über die Resonanz erfreut, die dieses Buch in der Vergangenheit bekommen hat. Seit der Erstauflage sind mittlerweile sechs, seit der Zweitauflage vier Jahre vergangen und so stellte sich bei der erneuten Bearbeitung die Frage, wie ›tief‹ und ›umfassend‹ diese erfolgen sollte: Einerseits sind beispielsweise epidemiologische Daten neu erhoben bzw. aktualisiert (z. B. die KiGGS-Studie, Hölling et al. 2014) oder das DSM IV ist durch das DSM V ersetzt worden. Ebenso haben sich neue Diskurse ergeben – so rückt das Thema des übermäßigen Internetgebrauchs zunehmend in den Fokus der wissenschaftlichen wie praktischen Debatten – und es sind neue Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen aufgebaut worden, wie z. B. die Netzwerke der Frühen Hilfen. Andererseits haben sich Grundlagen, wie das zentrale bio-psycho-soziale Modell oder die Strukturierung der Kinder- und Jugendhilfe, nicht so schnell verändert, dass eine völlige Neubearbeitung dieses Buches nötig gewesen wäre. So wurde ein Kompromiss gewählt: An einigen Stellen erfolgte eine Aktualisierung der Daten und das ›Einpflegen‹ relevanter Erkenntnisse, zum Teil sind Ergänzungen vorgenommen worden.

Eine ausführliche Darstellung des Bereichs der Prävention hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt; ein systematischer Überblick zu Programmen und Maßnahmen im Bereich universeller, selektiver und indizierter Prävention findet sich in meiner Publikation zur Angewandten Entwicklungspsychologie des Kindesalters.

Ein besonderer Dank geht an die Studierenden, Praktikerinnen und Praktiker sowie Kolleginnen und Kollegen, insbesondere im Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg, die durch Anregungen und Kritik zu mancher Erweiterung wie Präzisierung beigetragen haben.

Ein herzlicher Dank geht auch an meine Frau Gaby Fröhlich-Gildhoff für ihre Unterstützung und Begleitung.

Ich freue mich auf Rückmeldungen zu diesem Buch – und hier sind mir die kritischen Hinweise besonders wertvoll.

 

Freiburg, im Frühjahr 2018

Klaus Fröhlich-Gildhoff

1          Einleitung

 

 

In diesem Buch wird versucht, das Thema Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen – und die entsprechenden professionellen Unterstützungsmöglichkeiten – aus einer integrierten, theorieschulenübergreifenden Perspektive zu betrachten. Dabei werden disziplinübergreifend Erkenntnisse zusammengeführt, im Sinne der sich weiterdifferenzierenden »Klinischen Entwicklungspsychologie« (vgl. z. B. Oerter et al. 1999, Röper et al. 2001), »Entwicklungspsychopathologie« (vgl. z. B. Resch et al. 2001) und »Entwicklungswissenschaft« (vgl. z. B. Petermann et al. 2004).

Ausgangspunkt ist zunächst eine Begriffsbestimmung des Gegenstandes »Verhaltensauffälligkeit« und eine Definition und Klassifikation; diese orientiert sich an den etablierten Systemen des ICD-10 (vgl. Dilling et al. 2002) und des DSM-5® (Falkal & Wittchen 2015).

Dann wird das allgemeine bio-psycho-soziale Modell zur Erklärung der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten entwickelt. Neben einer (entwicklungs-)psychologischen Perspektive, bei der die (frühen) Interaktionserfahrungen von Kindern im Fokus stehen, ist die Bedeutung von Risiko- und Schutzfaktoren für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Lebensanforderungen ein zentrales Thema. Dieses Modell setzt eigene Überlegungen und Konzepte des Autors (Fröhlich-Gildhoff & Hufnagel 1997, Hufnagel & Fröhlich-Gildhoff 2002, Fröhlich-Gildhoff 2006b, Fröhlich-Gildhoff 2013) konsequent fort.

Im Weiteren werden die häufigsten Formen von Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter dezidiert betrachtet:

Nach einer spezifischen Definition wird dann jeweils auf die Epidemiologie eingegangen; hier werden neben den Prävalenzraten auch Verläufe und Komorbiditäten referiert, sofern dazu Daten vorlagen. Die jeweiligen Beschreibungen der Ursachen orientieren sich an dem bio-psycho-sozialen Grundmodell.

Abschließend werden spezifische Therapie- bzw. Unterstützungsformen aufgezeigt. Hierbei bestand/besteht das logische Problem, dass diese Unterstützungsmöglichkeiten und -angebote in systematischer Weise erst im sechsten Kapitel des Buches in ihren Grundlagen aufgezeigt werden. In den jeweiligen Kapiteln zu den einzelnen Verhaltensauffälligkeiten wird auf Schwerpunkte in Richtung eines störungsspezifischen Vorgehens eingegangen; der Grundansatz ist dabei jedoch folgender: Grundlage des unterstützenden pädagogischen oder therapeutischen Handelns ist ein tragfähiges Beziehungsangebot – auf dieser Grundlage werden individuums- und störungsspezifische Begegnungsformen und Interventionen gestaltet.

Die Abschnitte über die einzelnen Formen von Verhaltensauffälligkeiten stehen dabei für sich und können daher isoliert betrachtet (gelesen) werden. Daher treten vereinzelt Überschneidungen – auch zu dem allgemeinen Modell – auf. Wichtige Querverweise sind angezeigt.

Im sechsten Kapitel werden dann systematisch die Antworten, die Unterstützungs- und Begegnungsmöglichkeiten bei Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen referiert. Zunächst wird ein Überblick über die frühen Hilfen (das allgemeine Modell der ›Frühen Hilfen‹, die [pädagogische] Frühförderung sowie Hilfen für Säuglinge und Eltern) gegeben. Dann wird der wichtige Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und besonders der der Hilfen zur Erziehung – von der Erziehungsberatung über die Heimerziehung bis zur Einzelbetreuung – vorgestellt.

Der ambulanten Psychotherapie ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei auch hier versucht wird, einen integrativen Ansatz psychotherapeutischen Handelns – im Sinne einer allgemeinen Psychotherapie für Kinder und Jugendliche – vorzustellen, der auf empirischen Erkenntnissen beruht. Ein Blick über das Individuum hinaus, die Betrachtung der Zusammenarbeit mit Eltern und anderen Bezugspersonen, schließt sich an.

Ein Überblick über Präventionsmöglichkeiten schließt dieses Kapitel ab.

Ein Buch wie das vorliegende kann nicht den Anspruch erheben, einen vollständigen Überblick über alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Thematik zusammenzutragen; es kann auch nicht auf alle Formen der Verhaltensauffälligkeiten eingehen. Es soll jedoch einen systematischen Ein- und vor allem Überblick geben. Dieser wird ergänzt durch weiterführende Literaturhinweise.

2          Begriffsbestimmung: Was ist »verhaltensauffällig«?

 

 

2.1       Definition(sversuche)

Dieses Buch hat »Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen« zum Gegenstand; sofort stellt sich die Frage, was denn »verhaltensauffällig« – im Gegensatz zu »verhaltensunauffällig« – ist. Genauso sind in diesem Zusammenhang andere Begriffe von Bedeutung: seelische Störung, seelische Erkrankung (vs. seelische Gesundheit), seelische Behinderung, Normalität und Abweichung etc. Um zu einem klareren Begriff von Auffälligkeit oder Störung eines Verhaltens zu kommen, sind zwei Bezugspunkte wichtig: Zum einen stellt sich grundsätzlich die Frage, ob es sich bei der Unterscheidung auffällig vs. unauffällig um ein Kontinuum mit zwei Polen handelt, also ob ein Verhalten je nach Ausprägungsgrad, zeitlichem Verlauf usw. mehr dem einen oder auch manchmal dem anderen Pol zuzuordnen ist oder nicht. Oder ob demgegenüber eine klare qualitative Unterscheidung zwischen unauffälligem Verhalten einerseits und auffälligem, gestörtem Verhalten andererseits zu treffen ist. Zum zweiten legt der Terminus »Auffälligkeit« nahe, dass der Bezugspunkt immer eine Norm ist.

2.1.1     Normen

Grundsätzlich lassen sich unterschiedliche Normen unterscheiden:

1.  Soziale Normen
Soziale Normen sind durch die jeweilige Bezugsgruppe von der Familie über die Schulklasse bis hin zur Gesellschaft definiert. Soziale Normen sind teilweise in feste Regeln oder auch Gesetze »gegossen«, andererseits können sie auch deutlich variieren. So wird es zu Beginn des ersten Schuljahres noch vielfach toleriert werden, wenn ein Kind im Laufe des Unterrichtes seinen Platz verlässt – dieses Verhalten wird noch als »normal« angesehen – hingegen sollte das Kind am Ende des ersten Schuljahres verinnerlicht haben, dass es »normal«, also der Norm entsprechend ist, dass während der Unterrichtszeit der Platz nicht mehr verlassen wird.

2.  Statistische Normen
Statistische Normen beschreiben die Auftretenshäufigkeit von bestimmten Verhaltensweisen oder Merkmalen. Voraussetzung dafür ist, dass diese Merkmale relativ klar klassifizierbar sind und entsprechend gemessen werden können. Dies ist bei physiologischen Merkmalen, wie z. B. der Körpergröße relativ einfach, wird jedoch bei psychischen Merkmalen oder Verhaltensweisen komplizierter – ein typisches, entsprechend definiertes Merkmal ist die Intelligenz. In der Regel werden bei der Erfassung dieser Merkmale – zur Bestimmung einer Norm – relativ große Populationen untersucht und es wird zumeist davon ausgegangen, dass die Verteilung dieser Merkmale dem Modell der Normalverteilung folgt.

Wesentliches Kennzeichen der Normalverteilung ist es, dass sich relativ einfach Prozentränge abhängig von der Standardabweichung festlegen lassen; davon ausgehend lassen sich dann auch Grenzen für Normalität bzw. Abweichung festlegen. So lässt sich beispielsweise festlegen, dass die oberen 2,5% der mit einem Intelligenztest untersuchten Menschen als hochbegabt gelten können: mehr als 97,5% der Vergleichsgruppe erzielen ein schlechteres Testergebnis (image Abb. 2.1).

3.  Funktionale Norm
Hiernach ist derjenige normal, der bestimmte vorgegebene Anforderungen oder Funktionen erfüllen kann.

4.  Ideale Norm
Danach ist derjenige normal, der insgesamt oder in bestimmten Merkmalen Kennzeichen von Vollkommenheit erfüllt; typische Beispiele hierfür sind Schönheitsideale.

5.  Subjektive Norm
Hiermit ist die individuelle, selbstgesetzte Normalität gemeint, die sich natürlich mit anderen Normen decken kann (vgl. zu den verschiedenen Normbegriffen z. B. Egger 1992).

Images

Abb. 2.1: Statistische Normalverteilung (aus: Bortz, J. (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler (6. Aufl.), S. 43. Berlin: Springer; © Springer-Verlag)

Aus diesen Betrachtungen wird deutlich, dass letztlich alle Normen Übereinkünfte zwischen Menschen sind, also sozialen und/oder gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Dies bedeutet zugleich, dass sich Normen zwischen sozialen Bezugsgruppen, zwischen Populationen, beispielsweise in unterschiedlichen Ländern, aber auch im historischen Kontext verändern (können).

Die Problematik von begrifflichen Zuschreibungen, wie Verhaltensstörung oder Verhaltensauffälligkeiten verdeutlicht Kriz (2004) an dem Beispiel, wenn gesagt wird »Hans hat eine Verhaltensstörung« – so kommt es zu einer »Verdinglichung«, zu einer starren, statischen Festschreibung. »Schon die Formulierung: ›Hans verhält sich gestört‹ lässt Fragen aufkommen wie: ›Wann?‹ und: ›In welchem Zusammenhang?‹. Und deren nähere Erörterung führt zu einem komplexen Gefüge aus unterschiedlichen Situationen, in denen manches von Hans’ Störungen verständlich wird (als ›natürliche Reaktion‹ auf das aktuelle Verhalten seiner Schwester) oder in anderem Licht erscheint (als ›Signal für mehr Aufmerksamkeit‹ oder als ›Ablenken vom sich anbahnenden Streit von seinen Eltern‹)« (ebd., 61 f).

Es wird also deutlich: Es ist schwierig, klare Kriterien für ein Abweichen von der Norm festzulegen und damit Verhaltensweisen als »auffällig« zu definieren. Daher sollen zwei Bezugssysteme hierfür beschrieben werden:

2.1.2     Kriterien für »Auffälligkeit« bzw. »Störung«

Anhand der gängigen Klassifikationssysteme psychischer Störungen (s. u.) stellen Petermann et al. (2002a) fest, dass »nicht nur psychische Symptome an sich von Bedeutung [sind] für die Bestimmung, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht, sondern auch

•  die Stärke und Anzahl der Symptome,

•  die mit den Symptomen einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen und Leistungsbeeinträchtigungen, die auch durch mögliche Ausgleichsprozesse nicht mehr verhindert werden können, sowie

•  die Dauer der Symptomatik, Verlaufskriterien, und deren Beeinträchtigungen« (ebd., S. 30 f).

Petermann verdeutlicht dies nochmals in einer entwicklungsorientierten Perspektive anhand eines Beispiels »für normales und negatives Sozialverhalten« (image Tab. 2.1):

Tab. 2.1: Beispiele für normales und negatives Sozialverhalten (aus: Petermann 2002a; mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlags)

Images

AltersstufeNormales VerhaltenProblematisches VerhaltenPsychische Störung

Harnach-Beck (2000) schlägt einen Katalog von Kriterien vor, anhand derer es möglich ist, einzuschätzen, »wie bedeutsam ein Abweichen von der Norm ist« (ebd., S. 89):

1.  Alter und Geschlecht
»Da Kinder Menschen sind, die sich noch in der Entwicklung befinden, ist es vor allem erforderlich, ihr Verhalten im Bezug zu ihrem Alter zu sehen« (ebd.). Neben der Altersnorm gibt es auch Normen für geschlechtsspezifisches Verhalten.

2.  Dauer des Verhaltens
»Ob ein Verhalten als abweichend zu betrachten ist, hängt ferner davon ab, wie überdauernd es ist. Kurze Zeiten von Verstimmung, ausgeprägten Ängsten, schlechten Träumen, Bauchschmerzen kennt jedes Kind. Werden daraus anhaltend unangenehme Zustände, so besteht ein Grund zum Eingreifen« (ebd., S. 90).

3.  Gegenwärtige Lebensumstände
Unter besonderer Belastung, wie Wohnortwechsel, Trennung der Eltern etc. sind vorübergehende Stressreaktionen zu erwartende Ereignisse, sie verschwinden im Allgemeinen in dem Maße, in dem das Kind und seine Familie lernen, mit der veränderten Situation besser umzugehen.

4.  Soziokulturelle Zugehörigkeit
Die Normvorstellungen differieren sowohl schichtspezifisch als auch hinsichtlich der Zugehörigkeit beispielsweise zu einer ethnischen Gruppe.

5.  Art und Vielfalt der Symptome
Einige Symptome – z. B. massiv aggressives Verhalten – sind eher auffällig und beeinträchtigen das Umfeld, andere – wie zum Beispiel das nächtliche Einnässen – können sich möglicherweise nur auf einen Lebensbereich beschränken und weniger dramatisch wirken. »Die Menge der von einem Kind hervorgebrachten Verhaltensweisen liefert ebenfalls Hinweise auf die Schwere der Beeinträchtigungen« (ebd.).

6.  Häufigkeit und Intensität von Symptomen; Situationsabhängigkeit
Hier ist zu fragen »wie viele Bereiche des täglichen Lebens wie stark betroffen [sind]« (ebd., S. 91). Es sind genau die Umstände zu betrachten, ob dieses Verhalten z. B. nur in der Schule oder auch in anderen Zusammenhängen auftritt.

7.  Veränderungen im Verhalten des Kindes
»Zu fragen ist, wie ungewöhnlich das beobachtete Verhalten für dieses Kind ist. Eine abrupte Verhaltensänderung, die nicht aus dem üblichen Entwicklungsverlauf zu erklären ist, sollte immer als Warnsignal gesehen werden« (ebd.).

Im Unterschied zu diesen kategoriegeleiteten Perspektiven wird »in der Entwicklungswissenschaft (…) eine Störung (…) als Entwicklungsabweichung angesehen (…). Das Wechselspiel zwischen internalen und Umweltereignissen bestimmt, welcher Entwicklungspfad eingeschlagen wird. Störungen werden demnach nicht einfach als eine Abweichung nur zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben angesehen, sondern werden vielmehr als natürliche Folge spezifischer Entwicklungsphasen verstanden (…). Genauso, wie die normale Entwicklung ist die abweichende Entwicklung ein selbstorganisierendes Phänomen, dessen endgültiger Ausgang jedoch in einem bedeutenden Grad fehlorganisiert ist (Courchesne, Townsend & Chase 1995). Dadurch wird

•  die Ausbildung neuer Strukturen und Funktionen behindert,

•  das Formen anderer und später erscheinender Strukturen und Funktionen verzerrt,

•  die Konstruktion von sonst nicht auftretenden Strukturen und Funktionen ermöglicht und/oder

•  die Ausbildung und der Gebrauch vorher entstandener Strukturen und Funktionen begrenzt« (Petermann et al. 2004, S. 300 f).

So können bestimmte Verhaltens- oder Entwicklungsauffälligkeiten als »Extremvarianten der normalen Variabilität« (ebd.) betrachtet werden.

2.1.3     Seelische Erkrankung

In den verschiedenen Klassifikationssystemen (s. u.), aber auch in der durch Verordnungen oder Gesetze geregelten »Behandlung« wird es als nötig empfunden, seelische Störungen bzw. seelische Erkrankungen zu definieren. Während aufgrund des Entwicklungsaspektes und der Umgebungsabhängigkeit, aber auch der »dimensionalen Strukturen psychischer Störung im Kindesalter« (Petermann 2002a, S. 32) einige Autoren den Krankheitsbegriff für irreführend halten und eher an dem Begriff der »Störung« festhalten, werden beispielsweise in den Psychotherapierichtlinien des »Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen« (1998) seelische Erkrankungen wie folgt definiert: Seelische Erkrankungen werden als »krankhafte Störung der Wahrnehmung, des Verhaltens, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehung und der Körperfunktionen verstanden. Es gehört zum Wesen dieser Störungen, dass sie der willentlichen Steuerung durch den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind. Krankhafte Störungen können durch seelische oder körperliche Faktoren verursacht werden; sie werden in seelischen und körperlichen Symptomen und in krankhaften Verhaltensweisen erkennbar, denen aktuelle Krisen seelischen Geschehens, aber auch pathologische Veränderungen seelischer Strukturen zugrunde liegen können« (Schmidtchen 2001, S. 13).

In dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO ICD-10 (»Internationale Klassifikation psychischer Störungen«) wird auf den Störungsbegriff wie folgt eingegangen: »,Störung‹ ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastungen, mit Beeinträchtigungen von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen sollten nicht als psychische Störungen im hier definierten Sinne angesehen werden« (Dilling et al. 1993, S. 23).

2.1.4     Seelische Behinderung

Vom Begriff bzw. der Kategorie der »Auffälligkeit« und »psychischen Störung« muss noch derjenige der »seelischen Behinderung« unterschieden werden. Dieser Begriff hat im Rahmen der Sozialgesetzgebung (Bundessozialhilfegesetz, Wiedereingliederung SGB IX und Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII, § 35a) eine besondere Bedeutung:

Laut § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, »wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist«. Die zu erwartende seelische Behinderung muss nach entsprechender ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% eingeschätzt werden (Lempp 2004). Nach Lempp (1995) kann eine Behinderung auf drei Ebenen beschrieben werden:

1.  Auf einer objektiven Ebene wird versucht, das Ausmaß der Beeinträchtigung bei der Lebensbewältigung zu ermessen.

2.  Die zweite Ebene betrifft das Ausmaß einer möglichen Beziehungsstörung, die durch eine Behinderung zwischen dem betroffenen Menschen und seinen Mitmenschen auftreten könnte.

3.  Die subjektive Seite einer Behinderung, also wie weit sich ein Betroffener selbst als behindert empfindet, stellt eine dritte Ebene dar.

»Der Begriff der seelischen Behinderung kann nicht scharf abgegrenzt werden. Grundsätzlich können alle psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter zu einer seelischen Behinderung führen. Der Schwerpunkt liegt dabei aber nicht auf der Erkrankung, sondern auf der krankheitsbedingten Beeinträchtigung der Eingliederung in die Gesellschaft und der langen Dauer der Erkrankung« (Hahn & Herpertz-Dahlmann o. J.; vgl. auch: Lempp 2004, Fegert et al. 2004).

2.1.5     Schlussfolgerung

Letztlich bedeuten diese Betrachtungen, dass offensichtlich der Begriff der »Auffälligkeit« oder »Störung« nicht punktgenau definiert werden kann. Es handelt sich eher um eine (oder mehrere) Dimension(en), die einer Entwicklungsdynamik unterliegen. Die Definition dessen, was normal oder abweichend ist, ist immer an soziale Prozesse gebunden Oftmals stellt das »auffällige« Verhalten eine besondere Herausforderung für die soziale Umwelt dar (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2012). Bei der Betrachtung einer (potentiellen) Auffälligkeit sind die Symptome im Kontext zu betrachten, in ihrem jeweiligen Verlauf und in den Auswirkungen (Leiden!) auf das Individuum und/oder dessen Umwelt. Zusammengefasst: »,Psychische Störung‹ ist ein psychologisches Konstrukt für ein komplexes Phänomen, das in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen verwendet wird. Daher ist dieses Konstrukt auch nicht unabhängig von sozialen Bewertungen und Konventionen, sondern wird modifiziert durch den jeweiligen medizinischen, juristischen, politischen und allgemein-gesellschaftlichen Kontext« (Bastine 1998, S. 175).

Dennoch ist es sinnvoll, Symptome und Auffälligkeiten – bei Beachtung der genannten Einschränkungen und Probleme – unter Diagnose-Begriffen zusammenzufassen: so sind individuumsübergreifende Betrachtungen der Störungen oder Auffälligkeiten möglich, die zu allgemeineren Ursachen/Erklärungszusammenhängen, zur Identifikation von Risiko- und Schutzfaktoren, aber auch zu spezifischen Therapie- oder Unterstützungsmöglichkeiten führen. Diese Erkenntnisse können dann beim individuellen Vorliegen eines Problems (erste) Orientierung bieten.

In der Diagnostik und Klassifikation psychischer Störungen lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, die auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen basieren:

1.  »In der kategorialen Diagnostik werden psychische Störungen als diskrete, klar voneinander und von psychischer Normalität abgrenzbare und unterscheidbare Störungseinheiten beschrieben. Diesem kategorialen Ansatz sind die beiden wichtigsten klassischen klinischen Klassifikationssysteme, die internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (…) und das diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen (DSM) (…) verpflichtet.

2.  Durch eine dimensionale Diagnostik werden psychische Merkmale einer Person entlang eines Kontinuums erfasst und beschrieben, sie (…) beschreiben psychische Auffälligkeiten anhand von empirisch gewonnenen Dimensionen« (Döpfner et al. 2000a, S. 7).

Auf diese Klassifikationssysteme soll im Folgenden dezidierter eingegangen werden.1

2.2       Klassifikationssysteme

2.2.1     Kategoriale Klassifikation

International haben sich zwei Systeme zur Klassifikation psychischer Störungen durchgesetzt: Zum einen das System der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD)« der Weltgesundheitsorganisation WHO, das in seiner zehnten Version vorliegt (ICD-10, deutsch: Dilling et al. 2002)2. Zum anderen das »Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen« (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), das aktualisiert in seiner fünften Version vorliegt (DSM-5, American Psychiatric Association 2013; deutsche Ausgabe: Falkal & Wittchen 2015). Diese Systeme basieren auf der breiten klinischen Erfahrung einer Vielzahl von Fachleuten und auf dezidierteren statistischen Analysen. Die Diagnosesysteme haben sich im Laufe ihrer Revisionen zunehmend aneinander angeglichen; eine Gegenüberstellung der einzelnen Diagnosekategorien für den Bereich Kinder und Jugendliche findet sich bei Petermann et al. (2002a, S. 35 ff) bzw. Döpfner et al. (2000a, S. 11 ff).

In diesen Klassifikationssystemen werden lediglich Symptome zusammengefasst, so dass einzelne Störungsbilder beschrieben werden bzw. zu beschreiben versucht werden. Diese Klassifikationssysteme machen keine Aussagen über Ursachen der jeweiligen Störungen und mögliche Therapien. Eine konsequente Weiterführung dieses Systems sind die »Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter« der »Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie« (2003). Hier werden die unterschiedlichen Störungsbilder – bezogen auf die ICD-Klassifikation – hinsichtlich der Symptome, des Schweregrads, der störungsspezifischen Diagnostik und Differenzialdiagnostik, einer multidimensionalen oder -axialen Bewertung sowie der Interventionen beschrieben.

Das System des ICD im deutschen Raum ist weiter verbreitet und stellt zudem die Grundlage der Klassifikationen im deutschen Gesundheitssystem dar.

Im Kapitel F der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen –ICD-10« sind klinisch-diagnostische Leitlinien spezifisch für psychische Störungen kategorisiert und klassifiziert (Dilling et al. 2002). Die psychischen Störungen sind nach folgenden Gesichtspunkten geordnet:

F0 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen

F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

F3 Affektive Störungen

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren

F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F7 Intelligenzminderungen

F8 Entwicklungsstörungen

F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

»Die Abschnitte F80–F89 (Entwicklungsstörungen) und F90–F98 (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) enthalten nur für die Kindheit und Jugend spezifische Störungen. Viele Störungen aus anderen Abschnitten können bei Personen jeden Alters auftreten und sind, wenn nötig, auch auf Kinder und Jugendliche zu verwenden. Beispiele sind Essstörungen (F50), Schlafstörungen (F 51) und Geschlechtsidentitätsstörungen (F64). Einige phobische Störungen im Kindesalter werfen spezielle klassifikatorische Probleme auf (…)« (Dilling et al. 2002, S. 24). Aus diesem Grund sind in der folgenden tabellarischen Übersicht nicht nur die spezifischen Störungen des Kindes- und Jugendalters nach Kapitel F8 und F9 aufgeführt, sondern auch diejenigen, die für das Kindes- und Jugendalter Bedeutung haben.

Es sind nur die häufigsten Störungen bzw. Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter aufgeführt (image Tab. 2.2). Bestimmte, im Kindes- und Jugendalter oftmals nicht eindeutig klar zu diagnostizierende Störungen wie z. B. Schizophrenie, sind aus diesem Grunde nicht aufgeführt. Es gibt allerdings klare Beschreibungen hierzu im System des ICD-10. Ebenso sind die Persönlichkeitsstörungen (F60, F61) in der Tabelle nicht aufgeführt, weil »die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der Adoleszenz aufgrund der noch vorhandenen Entwicklungspotentiale zurückhaltend gestellt werden sollte« (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychiatrie 2003, S. 141); auf die Symptomatik der Borderlinestörungen wird später eingegangen (image Kap. 5.3.1). Ebenfalls sind die verschiedenen Formen der Intelligenzminderungen (Kapitel F7 im ICD-10) nicht aufgeführt, weil diese nicht unbedingt oder direkt mit Verhaltensauffälligkeiten einhergehen (müssen).

Die aufgeführten Inhalte sind aus dem ICD-10 (Dilling et al. 2002) zusammengestellt (image Tab. 2.2). Auf eine entsprechende Zitation wird verzichtet. An einigen Stellen sind Ergänzungen aus den »Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter« der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2003) vorgenommen. Diese sind gesondert vermerkt.

Tab. 2.2: Einteilung der seelischen Störungen nach dem System des ICD-10

Images

Images

Images

Kodierung nach ICD -10Bezeichnung

Sowohl für ICD-10 als auch DSM-5wurden sogenannte Klassifikationen auf mehreren »Achsen« oder Bereichen (»multiaxiale Klassifikation«) beschrieben und es wurden Diagnosebögen entwickelt, um eine entsprechende diagnostische Einordnung bzw. Kategorisierung vornehmen zu können. Nach Remschmidt et al. (2000) lassen sich folgende Achsen beschreiben (image Tab. 2.3):

Tab. 2.3: Multiaxiale Klassifikation

Images

AchseBeschreibung

2.2.2     Dimensionale Klassifikation

Aus der Kritik am kategorialen System und der zum Teil mangelnden Reliabilität von Diagnosen (vgl. Döpfner et al. 2000a, S. 17 f) besonders bei wenig homogenen diagnostischen Klassen wurde aufgrund von breiten Fragebogen- bzw. Befundsystemen mittels Faktorenanalysen ein Modell entwickelt, das der Dimensionalität von psychischen Auffälligkeiten gerechter wird. Dabei hat sich international das von Achenbach (1991, 1997) entwickelte Diagnosesystem durchgesetzt. Dieses System beschreibt die Dimensionen psychischer Störungen wie in Tabelle 2.4 dargestellt (image Tab. 2.4).

Tab. 2.4: Dimensionen psychischer Störungen nach Achenbach (1991a; b; c; d) (aus: Petermann, 2002a; mit freundlicher Genehmigung des Hogrefe Verlags)

Images

Images

Die Klassifikationssysteme haben, wie schon beschrieben, eine Bedeutung für die individuumsübergreifende Betrachtung der »Cluster« von Symptomen und damit für eine überindividuelle Ursachenforschung sowie eine hypothesengeleitete, störungsspezifische Interventionsplanung.

2.3       Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen; Epidemiologie

Ziel epidemiologischer Studien ist es, die Häufigkeit des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen und ihre Verteilung innerhalb bestimmter Bezugsgruppen zu untersuchen. Dabei lassen sich zwei wesentliche Maße unterscheiden:

1.  »Die Prävalenz gibt die Anzahl aller an einer bestimmten Krankheit oder psychischen Störungen leidenden Personen in einer Population zum Untersuchungszeitpunkt wieder (Punktprävalenz). Bezugspunkt für die Prävalenz stellt die Gesamtanzahl aller Personen aus der betreffenden Population dar« (Petermann et al. 2004, S. 311).

2.  Die Inzidenz hingegen »gibt die Anzahl neu aufgetretener Fälle einer bestimmten Erkrankung oder psychischen Störung pro 10 000 (…) Personen pro Jahr wieder. Bezugspunkt für die Inzidenz ist nicht die gesamte Population, sondern diejenigen, die eine bestimmte Störung überhaupt noch entwickeln können« (ebd.).

Aufgrund unterschiedlicher Untersuchungsmethoden, befragter Bevölkerungsgruppen, verschiedener Instrumente, etc. ergeben sich große Unterschiede bezüglich der Angaben zur Auftretenshäufigkeit der seelischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Petermann et al. (2004) sprechen von »methodischen Inkonsistenzen epidemiologischer Studien« (ebd., S. 12) und führen neben unterschiedlichen Erhebungstechniken, Stichprobenzusammenstellungen, Stichprobengrößen, Erfassungszeiträumen, Studiendesigns und Diagnosekriterien (z. B. ICD vs. DSM), unterschiedlichen Cut-off-Werten etc. auch die unterschiedlichen Informationsquellen an.

In einer Übersicht stellen Plück et al. (2000) fest, dass die Übereinstimmung zwischen Eltern- und Selbsturteil der Kinder/Jugendlichen gering ist. Die Korrelationen der Eltern-Einschätzung nach der »Child Behavior Check List« (CBCL, vgl. Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Check List 1998a) mit der Selbsteinschätzung nach dem »Youth Self Report« (YSR, vgl. Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Check List 1998b) beträgt für internalisierende wie externalisierende Auffälligkeiten maximal r=.40. »Bei Studien auf der Basis von Eltern- und Kinder-Interviews sind die Beziehungen zwischen Eltern- und Selbsturteil tendenziell sogar noch geringer. Korrelationen über r=.40 wurden lediglich bei Gesamtwerten festgestellt. Damit liegt die gemeinsame Varianz bei maximal 16%. Nach Achenbach (1991) beschreiben sich Jugendliche im Vergleich zu den Einschätzungen der Eltern auf allen Skalen der Child Behavior Check List als auffälliger« (ebd., S. 134).

Borg-Laufs (1997, S. 26) stellte unterschiedliche Studienergebnisse zusammen, die zeigten, dass bezüglich der Einschätzung der »Störung des Sozialverhaltens« bzw. des »aggressiv dissozialen Verhaltens« »nur schwache Übereinstimmungen von (verschiedenen) Fremdeinschätzungen miteinander als auch mit Selbsteinschätzungen bestehen« (ebd.; Korrelationen von bestenfalls r=.33; vgl. auch Fröhlich-Gildhoff 2006a). Die Angaben zur Prävalenz der Störung des Sozialverhaltens bzw. aggressiv-dissozialen Verhaltens schwanken demzufolge zwischen 4,2 und 14,5% (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2006b).

Unter Beachtung dieser Problematiken fassten Ihle & Esser (2002) »die Ergebnisse aus einer Reihe von nationalen und internationalen epidemiologischen Studien zusammen. Ihren Überblicken zufolge lässt sich ein Median der berichteten Prävalenzraten psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter von 18% angeben, mit einem Range von 6,8–37,4% (ca. drei Viertel der berichteten Prävalenzen lagen zwischen 15 und 22%). Zu den häufigsten Störungen (jeweils die durchschnittliche Prävalenz) zählen Angststörungen (10,4%), gefolgt von dissozialen (7,5%), depressiven (4,4%) und hyperkinetischen Störungen (4,4%). Internalisierende Störungen traten jedoch seltener bei Kindern auf, die jünger als 13 Jahre alt sind. Interessant ist darüber hinaus, dass bis zum Alter von 13 Jahren höhere Gesamtprävalenzraten bei Jungen gefunden werden, mit dem Einsetzen der Pubertät gleichen sich die Störungsraten für Jungen und Mädchen an oder Mädchen sind im Jugendalter insgesamt häufiger von psychischen Störungen betroffen« (Petermann et al. 2004, S. 312).

Barkmann (2004) führte ein epidemiologisches Screening zur Untersuchung der Prävalenz psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland durch. Die Daten der repräsentativen Stichproben von 1950 Familien mit Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen vier und 18 Jahren – auch unter Einsatz der Child Behavior Check List und des Youth-Self-Reports – bestätigen die vorherigen Zahlen. Je nach Definition wurden zwischen 10 und 18% der Untersuchten als »klinisch auffällig im Sinne eines Diagnostik- und/oder Behandlungsbedarfs« (Barkmann 2004, S. 20) angesehen. Zudem sei eine Zunahme psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen für die vergangenen Jahrzehnte nicht ableitbar.

In der breitesten Studie innerhalb Deutschlands, dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch Instituts, wurden Eltern in der Basiserhebung (Hölling et al. 2007) und einer Wiederholungs«welle« (Hölling et. al. 2014, Klasen et al. 2016) mithilfe des Screeninginstruments »Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ, Goodman 2005) unter anderem zu dem Verhalten ihrer Kinder befragt. Dabei wurden Auffälligkeiten in vier Problembereichen (Emotionale Probleme, Hyperaktivitätsprobleme, Verhaltensprobleme, Probleme mit Gleichaltrigen) sowie ein Bereich psychischer Stärken (Prosoziales Verhalten) erfasst. »Insgesamt 20,2% der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren ließen sich in der KiGGS Welle 1 [2009–2012] mit dem SDQ-Symptomfragebogen einer Risikogruppe für psychische Auffälligkeiten (grenzwertig auffällig oder auffällig im SDQ-Gesamtproblemwert, deutsche Normierung) zuordnen; in der KiGGS-Basiserhebung [2003–2006] waren dies 20,0%). Damit ließ sich insgesamt keine bedeutsame Veränderung über die Zeit in der Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten nachweisen. Auch in der Stratifizierung nach Geschlecht, Altersgruppen und Sozialstatus zeigten sich in Bezug auf die Risikogruppe keine statistisch signifikanten Prävalenzunterschiede zwischen der KiGGS-Basiserhebung und KiGGS Welle 1« (Hölling et al. 2014, S. 809). Jungen werden häufiger als Mädchen von den Eltern als grenzwertig oder auffällig beurteilt. »Der Gesamtproblemwert [war] bei Jungen stärker ausgeprägt […] als bei Mädchen, ebenso wie Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitätsprobleme sowie Peer-Probleme. Bei Mädchen waren emotionale Probleme stärker ausgeprägt als bei Jungen. Darüber hinaus zeigten Jungen ein geringer ausgeprägtes prosoziales Verhalten« (ebd. S. 812).

Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status werden dabei häufiger als grenzwertig bzw. auffällig eingeschätzt; dies deckt sich mit internationalen Studien (z. B. Rothbart & Bates 2006). Bei der Betrachtung der Störungsspezifik ergaben sich zum ersten Erhebungszeitpunkt folgende Raten: Depression 5,4%, Angst 10,0%, ADHS 2,2%, Störungen des Sozialverhaltens 7,6% (überwiegend aggressives und dissoziales Verhalten). Zum zweiten Zeitpunkt war »ein leicht zunehmender Trend bei emotionalen Problemen und Verhaltensproblemen zu verzeichnen sowie ein abnehmender Trend bei Peer-Problemen und eine Zunahme bei prosozialem Verhalten. Keine Veränderung zwischen den Erhebungszeiträumen gab es bei der Hyperaktivitätsskala« (Hölling et al. 2014, S. 812).

Bei der Längsschnittbetrachtung in der detaillierten »BELLA_Studie« wurde deutlich, dass 10% bis 11% der Kinder und Jugendlichen zu allen vier Messzeitpunkten psychische Auffälligkeiten zeigten; ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die bei der Basiserhebung psychische Probleme aufwiesen, waren sechs Jahre später auch noch psychisch auffällig (Klasen et al. 2016).

Ein weiteres Problem bei epidemiologischen Studien gerade bei Kindern und Jugendlichen betrifft die Komorbidität, also das gleichzeitige Auftreten von mehreren unterschiedlichen Symptomen bzw. Symptomklassen. »Das Auftreten komorbider Störungen (stellt) jedoch oftmals eher die Regel, als die Ausnahme dar« (Petermann et al. 2004, S. 317). Hierdurch lassen sich Angaben über einzelne Störungsbilder nur schwer präzisieren; oftmals ist auch nicht klar, welches die erste oder »schwerere« Störung ist – auch hierdurch erklären sich große Schwankungsbreiten bei den epidemiologischen Studien. (Auf die einzelnen Komorbiditätsraten wird in den jeweiligen Kapiteln gesondert eingegangen.)

2.4       Die Bedeutung des Geschlechts

Lange Zeit ist in der Forschung, z. T. in der Klinischen Psychologie überhaupt, die Frage von Geschlechtsunterschieden bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Verhaltensauffälligkeiten und seelischen Erkrankungen nicht systematisch genug reflektiert worden (vgl. Franke & Kämmerer 2001). So bestehen unterschiedliche Gesundheitsrisiken für Frauen und Männer, differierende Geschlechterverhältnisse bei der Prävalenz seelischer Erkrankungen ebenso wie »geschlechtstypische« Entwicklungsverläufe bei seelischen Störungen.

»Analysiert man die einzelnen Diagnosekriterien in den Klassifikationssystemen genauer, so zeigt sich, dass sie geschlechtsbezogene, implizite Vorannahmen enthalten, insofern als Geschlechtsstereotype darin in einem nicht unerheblichen Ausmaß auftauchen. Das beginnt bereits bei Störungszuschreibungen in der Kindheit. So konnte immer wieder belegt werden (u. a. Helfferich 1994, Kolip 1997)« (Kämmerer 2001, S. 61): Bis zum Schuleintritt finden sich geringe Unterschiede hinsichtlich »des Temperaments, des Aktivitätsniveaus oder der interpersonalen Probleme etc.« (ebd.). Bei Jungen werden dann höhere Prävalenzen vor der Pubertät, insbesondere im Bereich der expansiven Störungen festgestellt. Mädchen hingegen weisen ein höhers Maß an – insbesonders internalisierenden – Auffälligkeiten ab der Adoleszenz auf. »Das expansivere Störungsverhalten der Jungen (ist) – ebenfalls geschlechterstereotyp – eher auffällig und wird als abweichend und behandlungsbedürftig etikettiert. Das eher stille, unauffällige Verhalten der Mädchen wird stattdessen ignoriert und in der Kindheit als nicht behandlungsbedürftig angesehen« (ebd.). Auch Faltermaier (2005) kommt in seiner Zusammenstellung von Studien zur geschlechtsspezifischen Verarbeitung von Stressituationen und Belastungen zu gleichen Schlussfolgerungen.

In Studien zur unterschiedlichen Einschätzung der (auffälligen) Verhaltensweisen von Jungen und Mädchen – mit Differenzen auf der Ebene der Selbst- als auch der Fremdeinschätzung (!) – bestätigen sich diese Ergebnisse: »Insgesamt