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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Götz Mundle

Achtsamkeit in der Suchttherapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030623-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030624-0

epub:   ISBN 978-3-17-030625-7

mobi:   ISBN 978-3-17-030626-4

 

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

 

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

 

Track 1:  

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:  

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:  

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

 

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Die Thematik der Achtsamkeit ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Ansatzpunkt in verschiedenen Bereichen von Supervision, Coaching und Therapie geworden. Es handelt sich hierbei zum einen um einen fast inflationär gebrauchten Modebegriff, der manche oberflächliche Selbstverständlichkeit umfasst, andererseits aber um ein empirisch nachgewiesenes evaluiertes Konzept, das insbesondere im Suchtbereich sehr passend ist und eine gute nachgewiesene Wirkung hat.

Götz Mundle stellt in diesem Band genau jene theoriegeleitete, Empirie-gestützte, standardisierte, manualisierte und damit auch lern- und lehrbare Herangehensweise an die komplexe Thematik dar. Er entwickelt schrittweise Grundhaltungen, allgemeine Ansatzpunkte und spezifische Techniken, die für jeden im Suchtbereich therapeutisch und beraterisch Tätigen sehr hilfreich sein dürften.

Die Ausführungen beruhen dabei auf vieljähriger eigener Erfahrung im praktischen und klinischen Kontext und sind sehr gut in verschiedenen Kontexten anzuwenden.

Das Buch gibt durch den theoretischen Überblick über die Hintergründe von Achtsamkeit, den Aufbau einzelner achtsamkeitsbasierter Therapieansätze für Suchtpatienten und die praktischen Darstellungen der einzelnen Übungen erstmals im deutschsprachigen Raum einen ausführlicheren Ein- und Überblick zum Thema Achtsamkeit in der Suchttherapie. Den Lesern wünschen wir eine offene, achtsame und bereichernde Lektüre des Buches!

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

 

 

 

 

 

 

Zusatzmaterial*

Audiodateien der im Buch vorgestellten Übungen können mit nachfolgendem Passwort unter dem angegebenen Link kostenfrei heruntergeladen werden: http://downloads.kohlhammer.de/?isbn=978-3-17-030623-3 (Passwort: uJjrGjm)

 

 

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Das Konzept Achtsamkeit aus philosophischer Sicht
  4. Definition Achtsamkeit in der östlichen Philosophie
  5. Achtsamkeit als innere Wissenschaft
  6. Die »Vier Vergegenwärtigungen« der Achtsamkeit
  7. Bewusstes Ein- und Ausatmen
  8. Der traditionelle östliche Kontext von Achtsamkeit
  9. Der Achtfache Pfad als Weg zu Mitgefühl und Einsicht
  10. Weisheit
  11. Sittlichkeit
  12. Vertiefung
  13. Achtsamkeit im Westen
  14. Definition: Achtsamkeit im Westen
  15. Ethische Fragen von Achtsamkeit im modernen westlichen Kontext
  16. 3 Achtsamkeit in der Psychotherapie
  17. Definition von Achtsamkeit
  18. Achtsamkeit als Herausforderung für Therapeuten
  19. Achtsamkeit als Prävention für Therapeuten
  20. Achtsamkeit im historischen Kontext von Psychologie und Psychotherapie
  21. Achtsamkeit im aktuellen Kontext von Psychologie und Psychotherapie
  22. Aktuelle Ansätze achtsamkeitsbasierter Psychotherapie
  23. Grenzen von Achtsamkeit in der Psychotherapie
  24. 4 Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit – das MBRP-Programm
  25. Entwicklung des Verfahrens
  26. Das Rückfallmodell der achtsamkeitsbasierten Rückfallprävention
  27. Achtsamkeit als Basis der Rückfallprävention
  28. Das MBRP-Programm
  29. Anforderungen an Therapeuten
  30. Anforderungen an Patienten
  31. Indikationsbereiche von MBRP
  32. Gruppenstruktur
  33. Inquiry: Therapeutische Aufarbeitung von Achtsamkeitsübungen
  34. Sitzungsaufbau
  35. Spezifische Achtsamkeitsübungen von MBRP
  36. 5 Achtsamkeit in der Dialektisch Behavioralen Therapie DBT-S
  37. Grundprinzipien der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT)
  38. Die Dialektisch Behaviorale Therapie – Sucht (DBT-S)
  39. Suchtmittelkonsum aus Sicht der DBT-S
  40. Therapeutische Ziele
  41. Achtsamkeit in der DBT-S
  42. Skills Training
  43. Achtsamkeits-Skills in der DBT-S
  44. 6 Achtsamkeit und Selbstmitgefühl
  45. Die Evolution von Selbstmitgefühl
  46. Grundtypen der Emotionsregulation
  47. Aspekte von Selbstmitgefühl
  48. Wohlwollen und Güte
  49. Verbundenheit
  50. Achtsamkeit
  51. Die Übungspraxis von Selbstmitgefühl
  52. Drei Stufen der Übungspraxis von Selbstmitgefühl
  53. Stolpersteine der Übungspraxis
  54. Selbstmitgefühl und Selbstmitleid
  55. Unangenehme Emotionen in der Übungspraxis
  56. Selbstmitgefühl und Weisheit
  57. Selbstmitgefühl und Selbstwert
  58. Selbstmitgefühl und Fürsorge für andere
  59. Die eigenen Stärken annehmen
  60. 7 Forschungsstand zur Wirksamkeit von Achtsamkeit
  61. Wirksamkeit von Achtsamkeit in der Suchttherapie
  62. Achtsamkeit in der Raucherentwöhnung
  63. Die Wirksamkeit von DBT-S in der Suchttherapie
  64. Forschung zum Thema Selbstmitgefühl
  65. Zukünftige Forschung
  66. 8 Zusammenfassung und Ausblick
  67. 9 Anhang: Praktische Übungen für Patienten und Therapeuten
  68. Allgemeine Achtsamkeitsübungen
  69. Body Scan
  70. Atemübung
  71. Gedanken als Gedanken erkennen
  72. Gefühle bewusst wahrnehmen
  73. Suchtspezifische Achtsamkeitsübungen
  74. Suchtdruck standhalten (»Wellenreiten«)
  75. Innere Stabilität finden
  76. Suchtmittelverlangen im Alltag erkennen (»Nüchtern-Atmen«)
  77. Selbstmitgefühl-Übungen
  78. Liebevolle Güte
  79. »Sich selbst annehmen«
  80. »Sich selbst vergeben«
  81. Literatur
  82. Stichwortverzeichnis

 

 

 

 

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Einleitung

 

»Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegen unsere Freiheit und die Möglichkeit, unsere Antwort zu wählen. In unserer Antwort liegen unser Wachstum und unsere Freiheit«.

Viktor Frankl

So schnell und umfassend hat kaum ein anderes Thema in den letzten Jahren in der Psychotherapie und in der Gesellschaft Anklang gefunden wie das Konzept der Achtsamkeit. Nicht nur im Bereich der Psychologie und Psychotherapie, sondern auch in fast allen gesellschaftlichen Bereichen wird heute die Umsetzung von Achtsamkeitskonzepten diskutiert. Eine Fülle von Publikationen zum Thema Achtsamkeit beschreibt mögliche Anwendungsbereiche und Wirkprinzipien. Ein Wegbereiter für die Einführung von Achtsamkeit in die westliche Medizin und Psychologie war und ist die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) nach Kabat-Zinn (1990). Dieses Verfahren verbindet Methoden der buddhistischen Psychologie mit Methoden westlicher Psychologie. Mittlerweile wird Achtsamkeit nicht nur als Verfahren zur Stressreduktion eingesetzt, sondern findet bei fast allen körperlichen und psychischen Erkrankungen Anwendung. Die Integration von Achtsamkeit in der Psychotherapie reicht von der Vermittlung von spezifischen Achtsamkeits-Fertigkeiten im Rahmen einzelner Module bis hin zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen mit einer regelmäßigen täglichen Achtsamkeitspraxis von Patient und Therapeut.

Für Abhängigkeitserkrankungen wurde von Sarah Bowen und Alan Marlatt auf der Basis des MBSR-Programms von John Kabat-Zinn ein achtsamkeitsbasiertes Therapieprogramm entwickelt. Das 8-wöchige Behandlungsmanual »Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit (MBRP)« (Bowen et al. 2012) verbindet Behandlungselemente der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) (Kabat-Zinn 2001) und der achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie für depressive Patienten (MBCT) (Segal et al. 2008) mit Elementen der Suchttherapie, insbesondere der Motivationsbehandlung (Miller 1985) und Rückfallprävention (Marlatt und Gordon 1985). Die Achtsamkeitsübungen Nüchtern-Atmen und Wellenreiten wurden spezifisch für Suchtpatienten entwickelt. Achtsamkeit als zentrales Wirkprinzip findet auch in der von Marsha Linehan entwickelten Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT) Anwendung. Primär für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen entwickelt (Linehan 1993), wurde das DBT-Programm für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen um ein spezifisches Suchtmodul DBT-S erweitert (Linehan et al. 1999). Ein wohlwollender, tröstender und gütiger Umgang mit der eigenen Suchterkrankung wird durch die Praxis von Selbstmitgefühl ermöglicht (Germer 2012). Gerade Suchtpatienten schämen sich oft für ihre Erkrankung und sind von sich selbst enttäuscht. Die Wirkprinzipien von Selbstmitgefühl helfen Suchtpatienten, einen fürsorglichen und ermutigenden Umgang mit ihrer Erkrankung zu entwickeln.

Der Begriff Achtsamkeit (engl. Mindfulness) ist eine Übersetzung des buddhistischen Begriffes »sati« und bedeutet neben Sorgfalt und Umsicht auch Besinnung oder Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks. Kabat-Zinn beschreibt Achtsamkeit als »auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen«. Dies bedeutet, die Dinge so zu erfahren, wie wir sie wahrnehmen – ohne Interpretationen, Bewertungen oder Handlungen. Suchtpatienten erlernen durch das Prinzip Achtsamkeit, Craving und Suchtdruck als automatisierte, suchtspezifische Reaktionen zu erkennen, ohne den damit verbundenen Handlungsimpulsen, sprich Suchtmittelkonsum, folgen zu müssen. Im Zentrum dieses Ansatzes stehen Akzeptanz, Offenheit und Mitgefühl. Die Fähigkeit, Verlangen nach Suchtmitteln wahrzunehmen ohne handeln zu müssen, eröffnet Räume, die es ermöglichen, mit dysfunktionalen konditionierten oder habituellen Verhaltensweisen bewusst umzugehen ohne automatisiert zu folgen. Viktor Frankl formuliert dies wie folgt: »Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegen unsere Freiheit und die Möglichkeit, unsere Antwort zu wählen. In unserer Antwort liegen unser Wachstum und unsere Freiheit«. Anstatt Suchtimpulsen folgen zu müssen und das Gefühl zu haben, Suchtimpulsen hilflos ausgeliefert zu sein, ermöglichen achtsamkeitsbasierte Ansätze innezuhalten, Suchtmittelverlangen offen anzuschauen und aus dem Gefühl, Getriebener zu sein, in eine Beobachterposition zu wechseln. In dieser Beobachterposition wird ein achtsames Gewahrsein von Verlangen und den damit verbundenen Gedanken oder Gefühlen ermöglicht. Das bei Suchtdruck bestimmende Gefühl, »trinken zu müssen«, verändert sich idealerweise in die Fähigkeit oder, wie Frankl es formuliert, in die »Freiheit«, Craving wahrzunehmen, im eigenen »Bewusstseinsraum« zu halten und neue Handlungsoptionen auch ohne Suchtmittel erkennen zu können. Im Gegensatz zu Methoden der klassischen Verhaltenstherapie steht die Reduktion oder gar Verhinderung von Craving nicht im Vordergrund. Achtsamkeit entwickelt und fördert die Fähigkeit, Suchtmittelverlangen mit Neugier und Offenheit beobachten und annehmen zu können, ohne davon überrollt zu sein und dem inneren Handlungsimpuls, Suchtmittel zu konsumieren, folgen zu müssen. Ein bewusster Umgang mit Suchtdruck, Craving oder Verlangen wird ermöglicht, Achtsamkeit kann in diesem Kontext als Ausdruck und Förderung von »freiem Willen« beschrieben werden.

Im ersten Teil des Buches werden der philosophische Hintergrund des Begriffes Achtsamkeit und ein Überblick über den aktuellen Stand achtsamkeitsorientierter Ansätze in der Psychotherapie dargestellt. Als suchtspezifische achtsamkeitsbasierte Ansätze werden die »Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit – das MBRP Programm« und das Suchtmodul der DBT-S-Therapie ausführlicher beschrieben. Weiterhin erfolgt eine Einführung in die Wirkprinzipien von Selbstmitgefühl. Der zweite Teil des Buches beinhaltet Anleitungen für praktische Achtsamkeitsübungen aus den einzelnen Verfahren, sodass ein detaillierter Einblick in die praktische Umsetzung ermöglicht wird.

 

 

 

 

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Das Konzept Achtsamkeit aus philosophischer Sicht

 

Der Ursprung des Begriffes »Achtsamkeit« liegt im Buddhismus. In den Traditionen des Buddhismus ist »Achtsamkeit« eines der zentralsten Konzepte und hat in den letzten 2500 Jahren im asiatischen Raum kaum eine Veränderung erfahren. Im sogenannten Palikanon des Theravada-Buddhismus (Lehre der Ältesten) können die ältesten schriftlichen Hinweise auf den Begriff Achtsamkeit, sati, gefunden werden. Ausführliche Beschreibungen zu dem Begriff Achtsamkeit finden sich in den zwei Lehrreden des Buddha: »Die Rede von den Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit« Satipatthana Sutta (Analayo 2009; Nyanaponika 2000) und »Die Rede vom Bewussten Ein- und Ausatmen« Anapanasati Sutta (Rosenberg 2002).

Definition Achtsamkeit in der östlichen Philosophie

Gemäß der Theravada Tradition hat Achtsamkeit sati seinen Ursprung in dem Verb sarati, was »sich erinnern« bedeutet (Analayo 2009). Im Gegensatz zu unserem Verständnis von »sich erinnern« ist sati nicht als Erinnerung gemeint, sondern als Gewahrsein des Augenblicks, was Erinnerung ermöglicht. In diesem Verständnis ergänzen Gewahrsein im Augenblick und Erinnerung sich gegenseitig: »… verbindet sati das Bewusstsein im Augenblick mit der Erinnerung an das, was der Buddha gelehrt hatte.« Hierfür muss der Geist im Zustand von sati »in Bezug auf den gegenwärtigen Augenblick hellwach« sein. Im Gegensatz zu einem eng begrenzten Fokus wird in diesem Zusammenhang der Begriff der Weite des Bewusstseinszustandes benutzt. Sati wird außerdem auch als »reines Beobachten« beschrieben (Nyanaponika 2000). Bei einem »reinen« Beobachten versucht der Beobachter ausschließlich, das beobachtete Objekt wahrzunehmen und nicht mit ihm zu interagieren, d. h. ohne Anhaftungen oder Bewertungen. Sharon Salzberg definiert Achtsamkeit folgendermaßen: «Mindfulness is a quality of relationship to the object of awareness. Just having an experience, say hearing a sound, is not really being mindful. Knowing a sound without grasping, aversion, or delusion is being mindful (Shankman 2008).«

Achtsamkeit sati während der Meditation kann folglich als Zustand des Gewahrseins im Augenblick beschrieben werden, in dem der Geist mit einer gewissen Weite versucht gewahr zu sein ohne einzugreifen oder anzuhaften. Sati bezieht sich aber nicht nur auf einen ›passiven‹ meditativen Zustand. Rechte Achtsamkeit oder samma sati bedeutet auch, nach bestimmten ethischen Regeln und im Sinne bestimmter buddhistischer Prinzipien zu handeln. Daher muss sati mit sampajana (Wissensklarheit) und atapi (Sorgfalt) verbunden werden. Diese beiden weiteren Begriffe sind manchmal in sati impliziert, müssen aber berücksichtigt werden, um das Konzept der Achtsamkeit umfassend zu verstehen (Walach et al 2011).

Achtsamkeit als innere Wissenschaft

Wichtig für das Verständnis von Achtsamkeit sati ist, dass sie in der östlichen Philosophie eine Form der inneren Wissenschaft beschreibt, die nur auf der Basis von eigenen Erfahrungen aus der Ersten-Person-Perspektive erlangt werden kann. Moderne westliche Wissenschaft in den Bereichen Medizin und Psychologie hat einen empirischen wissenschaftlichen Ansatz, der sich auf objektive äußere Beobachtungen, Messinstrumente und wahrnehmbare Phänomene bezieht (Schmidt 2014). Im Gegensatz hierzu nutzt die innere Wissenschaft das »innere« Auge bzw. die achtsame Beobachtung der eigenen Innenwelt. In diesem Verständnis stellt Achtsamkeit ebenfalls eine Form empirischer Forschung dar, bei der durch eine nach innen gerichtete Achtsamkeit eigenes Erleben und Erfahrung subjektiv erforscht werden. Achtsamkeit ist in diesem Verständnis kein »objektives« statisches Konzept, sondern stellt eine subjektive Forschungsperspektive dar, die sich mit zunehmender Erfahrungspraxis verändert. Im Gegensatz hierzu versucht westlich geprägte Wissenschaft, subjektive Einflussfaktoren auszuschließen, und unterscheidet sich daher grundlegend vom östlich geprägten, subjektiven achtsamkeitsbasierten Forschungsverständnis (Schmidt 2014).

Die »Vier Vergegenwärtigungen« der Achtsamkeit

Das Thema Achtsamkeit wird in keinem anderen Text wie in der Rede über die »Vier Vergegenwärtigungen (Satipatthana)« so grundlegend beschrieben (Analayo 2009, Nyanaponika 2000). Die vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit sind alles Körperliche, Gefühlsregungen und Empfindungen, Geistesqualitäten sowie die Natürlichen Wahrheiten. Sie sind die Hauptquelle der Achtsamkeits- oder Einsichtspraxis Vipassana. Buddha führt aus: »Dies ist der Direkte und Eine Weg zur Läuterung der Lebewesen, zum Überwinden von Traurigkeit und Wehklagen, zum Verschwinden von Leiden, Angst und Unzufriedenheit, zum Erlangen der wahren Methode sowie zur Verwirklichung des Nirvana, nämlich die Vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit«. Der Ausdruck »Direkter und Eine Weg« (Ekayano Maggo) erscheint im Palikanon nur an dieser Stelle. Die Vergegenwärtigung der Achtsamkeit wird wie folgt definiert: »Bleibt fortwährend verankert in eingehender Betrachtung des Körperlichen im Körperlichen: Entschlossen, klar wissend und achtsam gegenwärtig, nachdem Verlangen und Bekümmern im Hinblick auf die Welt abgelegt worden sind.« Auch für Gefühlsregungen und Empfindungen, Geistesqualitäten sowie die Natürlichen Wahrheiten gelten diese Grundprinzipien. »Alles ist im konstanten Fluss, kein Grund, um darauf zu stehen, sondern frei von »Selbst« und »Mein«. Konsequent durchgeführt, ohne sich ablenken zu lassen, könne die Praxis auch in kurzer Zeit zur Befreiung führen, wie der Erwachte zum Abschluss der Rede ausführt.

»Eingehendes Betrachten des Körperlichen im Körperlichen« soll die Illusion von »Selbst« hier und »Objekt« dort auflösen. Durch das Gewahr werden aller Empfindungen und das Sehen ihrer fließenden Natur wird es möglich, innere Zwänge wie Gier, Hass, Neid, Eifersucht oder Stolz, die in ihrer Natur auf äußere Objekte fixiert sind, loszulassen. Betrachten, ohne zu reagieren und das Nicht-Selbst erkennen. »Die Achtsamkeit ist wie ein helles Licht, das auf einen Prozess geworfen wird, womit ihn die natürliche Weisheit sieht, wie er wirklich ist« (Dhammaviranatha).

Bewusstes Ein- und Ausatmen

Neben der Rede über die vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit ist die Rede vom Bewussten Ein- und Ausatmen eine weitere zentrale Quelle der Achtsamkeits- bzw. Einsichtspraxis Vipassana im Palikanon (Rosenberg 2002). Das Bewusste Ein- und Ausatmen stellt in dieser Rede einen natürlichen Befreiungsweg dar. Da die Atmung offensichtlich eine unfixierbare Flussnatur besitzt, stellt sie ein leicht zugängliches Tor für die innere Befreiung im Alltag dar. Alleine eine kontinuierliche Bewusstheit des Ein- und Ausatmens ermöglicht die Realisierung der »Vier Vergegenwärtigungen der Achtsamkeit«, d. h. des Körperlichen, der Empfindungen und Gefühlsregungen, der Geistesqualitäten sowie der Natürlichen Wahrheiten. Daher steht das Bewusste Ein- und Ausatmen bei vielen Meditationspraktiken im Mittelpunkt. Der Ankerpunkt für die bewusste Wahrnehmung des Atems kann der Atemfluss an den Nasenlöchern sein, die Bewegung des sich hebenden und senkenden Brust- und Bauchraumes oder die im ganzen Körper empfundene Atemerfahrung sein.

Der traditionelle östliche Kontext von Achtsamkeit

Das Herzstück der buddhistischen Lehre sind die Vier Edlen Wahrheiten (Lama 1993). Diese beschreiben Leiden, Entstehung von Leiden, Beendigung von Leiden und den »Edlen Achtfachen Pfad«, der zur Beendigung von Leiden führt, wenn man den ethischen Anweisungen und der Praxis des » Edlen Achtfachen Pfades« folgt. Der achtfache Pfad ist die Basis für einen spirituellen Weg, der zu persönlicher Transformation und Befreiung von Leiden führt (Das 1999). Die Praxis von Achtsamkeit ist nur ein Teil des achtfachen Pfades. In diesem Verständnis steht Achtsamkeit also nicht für sich alleine, sondern ist eingebettet in einen umfassenden Kontext meditativer Übungen und ethischen Verhaltensanweisungen (von Allmen 2007).

Der Achtfache Pfad als Weg zu Mitgefühl und Einsicht

Weisheit

1. Rechte Anschauung, Erkenntnis:

Rechte Anschauung und Erkenntnis beinhaltet die Einsicht in die wahren Ursachen von Leiden, d. h. in die vier edlen Wahrheiten vom Leiden, der Leidensentstehung, der Leidenserlöschung und des zur Leidenserlöschung führenden Achtfachen Edlen Pfades.

2. Rechte Absicht:

Rechte Absicht bezieht sich auf die Motivation und den Entschluss, nicht schädigen zu wollen, sondern Zuwendung zu geben und mitfühlend zu sein.

Sittlichkeit

3. Rechte Rede:

Rechte Rede beschreibt die Verbalisierung von gütigen anstelle von verletzenden Inhalten in interpersonellen Beziehungen.

4. Rechtes Handeln:

Rechtes Handeln fördert heilendes Verhalten und Tugenden und vermeidet zerstörerisches Handeln wie z. B. Töten oder Stehlen

5. Rechter Lebenserwerb:

Rechter Lebensunterhalt bezieht sich auf eine Berufswahl, die anderen Lebewesen keinen Schaden zufügt

Vertiefung

6. Rechtes Streben:

Rechtes Streben beschreibt ernsthafte Bemühungen und die Hingabe, eigene negative Emotionen, wie z. B. Begierde, Hass, Neid oder Ungeduld zu zügeln

7. Rechte Achtsamkeit:

Rechte Achtsamkeit bezieht sich auf die Grundhaltung bei Achtsamkeitsübungen, offen, nicht-kontrollierend und nicht-bewertend alle Phänomene während einer Achtsamkeitsübung mitfühlend wahrnehmen zu können.

8. Rechtes Sichversenken:

Rechtes Sichversenken bezeichnet die Fähigkeit während Achtsamkeitsübungen, den unruhigen und abschweifenden Geist zu »kontrollieren« und sich auf eine Sache, z. B. den Atem, zu konzentrieren.

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Abb. 2.1: Der Achtfache Pfad, mit der Zuordnung in die drei Bereiche Weisheit, Sittlichkeit (Verhalten), Vertiefung (Meditation)

Zum besseren Verständnis erfolgt eine kurze Erläuterung des Aspektes »Rechten Handelns«. Sāmma kammanta oder rechte Handlung als Teil des achtfachen Pfades beinhaltet Verhaltensregeln des Alltags, die das Töten oder Verletzen von Lebewesen verbieten. Bestimmtes Sexualverhalten, z. B. Ehebruch oder der Genuss von Rauschmitteln, etwa Alkohol, sind ebenfalls untersagt. In diesem Sinne stellt der achtfache Pfad eine gesamtgesellschaftliche Sittlichkeits(Verhaltens-)ordnung dar, in der Achtsamkeit »nur« ein Teil ist. Die Achtsamkeitspraxis ist außerdem nicht nur in die Handlungen des »Edlen Achtfachen Pfades« eingebunden, sondern hat auch eine enge Verbindung mit den vier sogenannten bramaviharas oder göttlichen Verweilzuständen »liebende Güte« (metta), »Mitgefühl« (karuna), »Mitfreude« (mudita) und »Gleichmut« (uppekha), auch wenn diese nicht direkt im Achtfachen Pfad aufgeführt werden.

Diese Schriften und Ausführungen verdeutlichen, dass die Praxis der Achtsamkeit im ursprünglichen buddhistischen Kontext Teil eines umfassenden persönlichen Transformationsprozesses ist, dessen höchstes Ziel die »Befreiung« von Leiden ist. Die Achtsamkeitspraxis selbst ist also nicht nur eine einzelne für sich stehende Meditationstechnik ist, um eine Zeit der Stille oder Selbstexploration zu erfahren, sondern Teil eines umfassenderen spirituellen Weges (von Allmen 2007).

In diesem Verständnis gibt es Überschneidungen mit der heutigen Einbettung von Achtsamkeit in suchttherapeutische Konzepte. Achtsamkeit ist immer Teil eines suchttherapeutischen Gesamtkonzepts, welches neben der Übung der Achtsamkeit viele weitere suchttherapeutische Aspekte umfasst. Rechte Anschauung und Erkenntnis können in heutigen suchttherapeutischen Konzepten mit adäquatem Krankheitsverständnis übersetzt werden; rechte Gesinnung und Absicht umfassen Aspekte von Motivation. Rechtes Handeln, rechte Rede und rechte Lebensführung entsprechen klassischen verhaltenstherapeutischen und sozialtherapeutischen Aspekten moderner Suchttherapie. Die Bereiche Vertiefung und Meditation entsprechen am ehesten dem modernen Verständnis von Achtsamkeit und Meditation in der Suchttherapie.

Achtsamkeit im Westen

Im gesamtgesellschaftlichen Kontext ist Achtsamkeit heute integraler Bestandteil unseres Alltagslebens und stellt einen unspezifischen Sammelbegriff dar, dessen Definition je nach Situation und Person unterschiedlich verstanden wird (Buchheld und Walach 2004, Schmidt 2011, Zimmermann et al. 2012). Achtsamkeit kann eine formale Meditationspraxis bezeichnen, die ritualisiert durchgeführt wird. Beispiele sind die Atemmeditation, Gehmeditation, Yoga Praxis oder Vipassana Meditation. Der Begriff Achtsamkeit kann auch eine Grundhaltung beschreiben, in der wir bestimmte Handlungen durchführen. In der Psychotherapie wird diese Form der Achtsamkeit als informelle Achtsamkeit im Alltag beschrieben. Weiterhin kann mit dem Begriff Achtsamkeit das Theoriekonzept von Achtsamkeit im Buddhismus gemeint sein, genauso wie ein psychologisches Konzept in der westlichen Psychotherapie (Bishop et al. 2004, Langer 1989, Walach 2003). Im alltäglichen Sprachgebrauch wird »achtsam« als Begriff noch vielfältiger gebraucht. Die Bedeutung von achtsam beschreibt am ehesten wach, aufmerksam, mit allen Sinnen präsent sein.

Bereits in den 1950er Jahren gab es in den USA ein großes Interesse an dem Thema Achtsamkeit. Das Buch »The Heart of Buddhist Meditation« war ein vielfach übersetzter Bestseller. In dem Buch beschreibt der deutsche Theravada-Mönchsgelehrte Nyanaponika Thera seine Erfahrungen mit einem Training in der Vipassanameditation und gibt eine allgemeine Einführung in das Thema Achtsamkeit (Nyanaponika 2014). Ab den 1970er Jahren gab es ein großes Interesse an dem Thema Achtsamkeit nicht nur in der Literatur, sondern auch in der praktischen Umsetzung. Die Gründung von Gesellschaften und Instituten, z. B. der Insight Meditation Society (IMS) ermöglichten auch im Westen an Meditationsretreats teilzunehmen und mit der Tradition unterschiedlicher Meditationsverfahren, z. B. der Vipassanameditation, des Theravada-Buddhismus oder auch des Zen-Buddhismus in Kontakt zu kommen (Nattier 1995).

Heute ist das von Jon Kabat-Zinn entwickelte Mindfulness-Based Stress Reduction Programm (MBSR) das am weitesten verbreitete Achtsamkeitskonzept (Kabat-Zinn 1990, 2001). Dieses auf der Tradition der Vipassana Meditation beruhende Programm hat Achtsamkeit und Meditation nicht nur in der westlichen Gesellschaft, sondern insbesondere im westlichen Medizinsystem und in der Psychotherapie aufgrund seiner hohen Akzeptanz und wissenschaftlich nachgewiesenen Wirksamkeit große Anerkennung verschafft. Die Weiterentwicklungen Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) für depressive Patienten (Segal et al. 2012) sowie Mindfulnes-Based Relapse Prevention (MBRP) (Bowen et al. 2011) für Suchtpatienten sowie andere Psychotherapieprogramme, bei denen Achtsamkeit ein zentraler Bestandteil der Therapie ist, wie z. B. die Dialektisch Behaviorale Therapie DBT (Linehan 1993) oder die Akzeptanz und Commitment Therapie ACT (Hayes et al. 1999), finden heute breite Anwendung und Anerkennung.

Definition: Achtsamkeit im Westen

Achtsamkeit als eine erfahrungsbezogene Grundhaltung im Alltag kann am besten mit einer Umschreibung von Jon Kabat-Zinn erfasst werden. Er definiert Achtsamkeit in diesem Sinne «(…) as moment-to-moment, non-judgemental awareness, cultivated by paying attention in a specific way, that is, in the present moment, and as non-reactively and as non-judgmentally and openheartedly as possible« (Kabat-Zinn 2005), was sich im Kern als nicht wertendes Gewahrsein im gegenwärtigen Moment übersetzen lässt. Verbunden mit dieser besonderen Art der Aufmerksamkeit sind unterschiedliche Qualitäten wie Nicht-Werten, Geduld, Anfängergeist, Vertrauen, Akzeptanz und Loslassen. Shapiro und Schwartz (1999) erweitern diese Liste und ergänzen sie mit den Qualitäten: Sanftmut, Großzügigkeit, Empathie, Dankbarkeit und liebende Güte.

Ethische Fragen von Achtsamkeit im modernen westlichen Kontext

Achtsamkeit in unserer westlichen Kultur wird heute aus unterschiedlichsten Gründen praktiziert, die meistens nicht mehr der ursprünglichen buddhistisch-spirituellen Wurzel entsprechen. Im Regelfall wird versucht, die Essenz von Achtsamkeit buddhistischer Meditationsformen ohne einen »religiösen« Überbau bzw. ohne buddhistische Philosophie in unsere Alltagswelt zu übernehmen. Die mit einer Achtsamkeitspraxis verbundenen Motive und Wünsche sind vielfältig, je nach Kontext. Einige Beispiele sind hier aufgeführt (Schmidt 2011):

•  Entschleunigung und Entspannung

•  Verbesserung der Lebensqualität

•  Stressbewältigung und Verbesserung der Arbeitsqualität

•  Wunsch nach Selbsterfahrung und vertiefter Innenschau