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Sucht: Risiken – Formen – Interventionen

Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie

 

Herausgegeben von

 

Oliver Bilke-Hentsch

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank

Michael Klein

Kai W. Müller
Klaus Wölfling

Pathologischer Mediengebrauch und Internetsucht

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023361-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031774-1

epub:    ISBN 978-3-17-031775-8

mobi:    ISBN 978-3-17-031776-5

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Geleitwort der Reihenherausgeber

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

 

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Der pathologische Medien- und Internetgebrauch, der mittlerweile durch epidemiologische Studien gesichert in 1-5% der Bevölkerung mit starkem Fokus Jugendalter und junges Erwachsenenalter vorkommt, war in seiner Bedeutung und Konzeptualisierung nicht unumstritten.

Nicht zuletzt durch die Arbeiten von Klaus Wölfling und Kai Müller konnte diese Thematik aber aus der klinisch empirischen Sicht sowie aus der wissenschaftlichen Optik in den letzten Jahren zusammen mit anderen Forschern und Kliniken, beispielsweise aus der Taskforce der DGPPN entwickelt werden. Auch die therapeutischen Ansätze, die sich zunächst an der Glücksspiel-Therapie orientierten, konnten erweitert und evaluiert werden. Mittlerweile können die Verhaltenssüchte wie die Internet- und Mediensucht als etablierte Gesundheitsthemen gelten, wobei die – teilweise ungünstigen – Wirkungen eines unkontrollierten Mediengebrauchs auch über das Suchtthema im engeren Sinne hinausweisen.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich

Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln

Michael Klein, Köln

 

Inhalt

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Epidemiologie
  4. 2.1 Epidemiologie der Internetsucht in der Allgemeinbevölkerung
  5. 2.2 Epidemiologie der Internetsucht unter Jugendlichen
  6. 2.3 Internetsucht – ein zeitstabiles Gesundheitsproblem? Ergebnisse aus Längsschnittstudien
  7. 3 Verhaltensspezifika
  8. 3.1 Das Liking-Wanting Modell bei Substanzabhängigkeit
  9. 3.2 Das Phasenmodell und seine Übertragbarkeit auf Internetsucht
  10. 3.2.1 Ein genauerer Blick auf exzessives Verhalten im Jugendalter
  11. 4 Neurobiologie
  12. 4.1 Neurobiologische Prozesse bei der Abhängigkeit – Ein kurzer Abriss
  13. 4.2 Neurobiologische Befunde zur Internetsucht
  14. 4.2.1 Effekte von Computerspielen auf neurobiologischer Ebene
  15. 4.2.2 Neurobiologische Befunde zur Internet- und Computerspielsucht
  16. 5 Verhaltenswirkungen
  17. 5.1 Computerspielsucht
  18. 5.2 Online-Sexsucht
  19. 5.3 Suchtartige Nutzung von sozialen Netzwerkseiten
  20. 5.4 Online-Kaufsucht
  21. 5.5 Online-Glücksspielsucht
  22. 6 Psychosoziale Aspekte
  23. 6.1 Negative Auswirkungen auf das Leistungsniveau
  24. 6.2 Negative finanzielle Auswirkungen
  25. 6.3 Negative Auswirkungen auf körperlicher Ebene
  26. 6.4 Negative Auswirkungen auf das Sozialverhalten und die soziale Einbindung
  27. 7 Ätiologie
  28. 7.1 Allgemeine Modelle zur Internetsucht
  29. 7.2 Spezifische Modelle zur Ätiologie der Internetsucht
  30. 7.2.1 Das Integrative Prozessmodell der Internetsucht
  31. 7.2.2 Das Modell der generalisierten Internetsucht nach Brand
  32. 7.3 Zur Wertschöpfung von Störungsmodellen
  33. 8 Diagnostik
  34. 8.1 Spezifische diagnostische Schwierigkeiten im Jugendalter
  35. 8.2 Diagnostische Kriterien der Internet Gaming Disorder
  36. 8.2.1 Ein klinischer Blick auf die diagnostischen Kriterien
  37. 8.3 Differentialdiagnose und psychiatrische Komorbiditäten bei Internetsucht
  38. 8.4 Standardisierte Verfahren zur Messung von Internet- und Computerspielsucht
  39. 8.4.1 Fragebogenverfahren
  40. 8.4.2 Interviewbasierte Diagnostik
  41. 9 Therapieplanung und Intervention
  42. 9.1 Therapieplanung
  43. 9.2 Psychotherapeutische Interventionsstrategien
  44. 9.3 Pharmakologische Therapieansätze
  45. 10 Synopse und Ausblick
  46. Literatur
  47. Stichwortverzeichnis
  48. Anhang: Checkliste zum Onlinesuchtverhalten (OSV-C)

 

 

 

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Einleitung

 

Die mediale Berichterstattung sowie der wissenschaftliche Diskurs sind voll von kontroversen Haltungen, teilweise auch mehr oder minder sachlich geführten Auseinandersetzungen über die verschiedenen Wirkungen der sogenannten neuen Medien auf die Gesellschaft und den individuellen Nutzer. Unzweifelhaft scheint dabei nur festzustehen, dass sich die Verbreitung und Ausdifferenzierung des Internets mit beispielloser Geschwindigkeit vollzogen hat und dabei bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zahlreiche Chancen, aber auch gesamtgesellschaftliche Herausforderungen bereithält.

Zu den Chancen zählen sicherlich die drastisch vereinfachte und weitgehend unbeschränkte Zugriffsmöglichkeit auf Informationen jedweder Art, die Leichtigkeit, mit der der Einzelne befähigt ist, aktiv Inhalte zu generieren und sich für diese eine Öffentlichkeit zu akquirieren, sowie die Möglichkeit, über soziale Netzwerke den Kontakt zu Freunden aufrechtzuerhalten, ganz unabhängig von der räumlichen Distanz.

Hingegen stellen sich Herausforderungen hinsichtlich der Verbreitung inhaltlich fragwürdiger Inhalte und – damit verbunden – Fragen des Jugendschutzes, der Überforderung durch die fortwährende Erreichbar- und Verfügbarkeit sowie die Auswirkung exzessiven Internetkonsums auf die (psychische) Gesundheit.

Diese Vor- und Nachteile der Vernetzung stellen lediglich eine kleine Auswahl dar, die sich problemlos auf etliche weitere Punkte ausdehnen ließe und deren Diskussion den Umfang mehrerer Lehrbücher sprengen würde. Selbst die Beschränkung lediglich auf gesundheitsrelevante Belange, die durch das Internet beeinflusst werden, wäre schon ein beachtliches Unterfangen. Die folgenden Seiten können – und wollen – somit keinesfalls den Anspruch erheben, unterschiedlichste Effekte der Internetnutzung aufzugreifen und zu diskutieren. Stattdessen wird der Fokus auf eine sehr spezielle Form negativer Auswirkungen der Internetnutzung gelegt, indem das neuartige Phänomen der Internetsucht beleuchtet wird.

Pathologischer Internetgebrauch, dysfunktionale Internetnutzung, exzessiver Konsum und Internetsucht sind nur eine kleine Auswahl an derzeit mehr oder weniger synonym gebrauchten Begrifflichkeiten für das seit etwa zehn Jahren dokumentierte Phänomen. Dieses Sammelsurium an unterschiedlichen Termini verdeutlicht eindrucksvoll, dass bei diesem Thema die Anzahl der offenen Fragen jene der konkreten Antworten bei Weitem übersteigt, obgleich positiv festzuhalten ist, dass mittlerweile immer mehr fundierte wissenschaftliche Studien aus unterschiedlichen Bereichen veröffentlicht wurden und werden und sich dadurch das Bild über dieses neue Störungsbild allmählich klärt.

Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass ganz grundsätzliche Punkte offenbleiben. Dies gilt etwa für die nosologische Verortung sowie die zugehörigen diagnostischen Kriterien. Eine weitere wesentliche Frage betrifft den Status internetsüchtigen Verhaltens als eigenständiges Störungsbild beziehungsweise als bloßer Ausdruck einer primär zu Grunde liegenden anderen psychischen Störung. In der Tat konnten verschiedentlich sehr hohe Raten an komorbiden Störungen, die mit Internetsucht einhergehen, dokumentiert werden (z. B. Bischof et al. 2013; Carli et al. 2012). Dies gilt jedoch auch für zahlreiche andere Störungen, insbesondere aus dem Bereich der Abhängigkeitserkrankungen (vgl. z. B. Bischof et al. 2013; Maier et al. 1997), sodass daraus nicht automatisch geschlossen werden sollte, dass Internetsucht lediglich ein untergeordnetes Symptom darstellt. Zudem wissen wir mittlerweile aus ersten – wenn auch wenigen – längsschnittlichen Erhebungen, dass Internetsucht keineswegs ausschließlich vor dem Hintergrund bereits bestehender psychischer Erkrankungen auftritt, sondern selbst die Entstehung komorbider Erkrankungen begünstigen kann (vgl. z. B. Gentile et al. 2011).

Phänomenologisch wird häufig kritisiert, dass der Begriff der Internetsucht irreführend beziehungsweise unpräzise ist. So ist es nicht das Internet selbst, welches ein exzessives bzw. pathologisches oder suchtartiges Verhalten auslöst, sondern vielmehr einzelne Onlineaktivitäten. Ferner muss zwischen Tätigkeiten unterschieden werden, die ausschließlich im Netz exzessiv ausgeführt werden und solchen, die auch außerhalb des virtuellen Raums in unkontrollierter Art und Weise zum Ausdruck kommen, wie etwa Kaufexzesse, die im individuellen Fall sowohl über das Internet als auch im physischen Raum stattfinden oder die Nutzung sowohl von Online- als auch Offline-Casinos (z. B. Pawlikowski et al. 2014; Starcevic 2013; Widyanto und Griffiths 2006; Wölfling und Müller 2010).

Ein wichtiger Schritt wurde mit der Veröffentlichung des DSM-5 (APA 2013) vollzogen. Auf Grundlage der sich rasant mehrenden Forschungsbeiträge zu diesem Thema wurde die Computerspielsucht (bzw. »Internet Gaming Disorder«) als erste Variante internetsüchtigen Verhaltens im Anhang aufgenommen. Hier werden Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten beschrieben, deren Stellenwert bzw. Charakter als klinische Entität noch nicht gesichert erscheint, so dass weitere Forschungsergebnisse zusammengetragen werden müssen, bevor über ihren weiteren Verbleib zu entscheiden ist. Auch wenn dieses Störungsbild demnach noch nicht mit letzter Gewissheit als Erkrankung anerkannt ist, ist ein entscheidender Vorteil in der Aufnahme in das DSM-5 darin zu sehen, dass nun verbindliche diagnostische Kriterien vorliegen, die schon jetzt eine bessere Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Studien erlauben. Die vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien sind jenen des Pathologischen Glücksspiels entlehnt, welches wiederum als substanzungebundene Abhängigkeitserkrankung (Verhaltenssucht) angesehen wird. Somit zeichnet sich eine Einordnung der Internet- und Computerspielsucht als weitere Verhaltenssucht ab. Diese Entscheidung dürfte nicht zuletzt den Ergebnissen neurowissenschaftlicher Studien geschuldet sein, welche auffällige Parallelen zwischen Internetsucht und anderen, substanzungebundenen Abhängigkeitserkrankungen nahelegen (nähere Darstellung Images Kap. 4).

Eine entsprechende Verschlüsselung im ICD-10 ist nicht vorhanden. Ersatzweise wird jedoch in einzelnen Fällen auf den Diagnoseschlüssel F63.8 (sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle) zurückgegriffen, wodurch jedoch nicht die phänomenologische Nähe zum Spektrum der Abhängigkeitserkrankungen berücksichtigt werden kann. Wie sich dieser Sachverhalt im für das Jahr 2018 erwarteten ICD-11 darstellen wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Angesichts von Prävalenzzahlen in Deutschland von bis zu 2% (z. B. Bischof et al. 2013; Müller, Glaesmer et al. 2014), dem mit einer Internetsucht verbundenen Leidensdruck für den Betroffenen selbst aber auch für sein soziales Umfeld, sowie der Tatsache, dass jugendliche Symptomträger massiv in ihrem Lebensweg behindert werden, wäre es zweifelsohne wünschenswert, auf einen entsprechenden Diagnoseschlüssel verweisen zu können, um das Beratungs- und Behandlungsangebot für Betroffene so auszugestalten, wie es die Situation erfordert.

Fallvignette 1: Patient mit Computerspielsucht

» Ich sitze eigentlich nur noch vor dem Rechner und spiele, oft auch buchstäblich rund um die Uhr und sogar darüber hinaus. Ich bin mittlerweile nicht nur lustlos, ich bin auch ziemlich ›lebenslos‹.« Mit diesem Eindruck stellt sich ein 26-jähriger Student der Biologie in einer auf Internetsucht spezialisierten Ambulanz vor. Der junge Mann wirkt äußerlich jünger, als man es bei seinem biologischen Lebensalter erwarten würde, er ist schlank, trägt legere Freizeitkleidung und zerschlissene Turnschuhe. Auf Fragen antwortet er prompt, jedoch fällt auf, dass seine klar und eloquent artikulierten Antworten mit eher monoton wirkender Stimme vorgebracht werden. Den Blickkontakt vermeidet er zwar nicht, jedoch wirkt er bisweilen in sich gekehrt und richtet den Blick sehr häufig auf den Boden zwischen seinen Füßen.

» Ich habe mich schon als Jugendlicher sehr für Computerspiele aller Art begeistert. Das war bestimmt schon ein Versäumnis meinen Eltern. Bei denen konnte ich eigentlich immer alles durchsetzen, auch dass ich schon mit zwölf oder so eine eigene Spielkonsole und bald darauf einen eigenen Gamer-PC bekommen habe.« In der weiteren Ausführung schildert der Patient, dass er zwar schon als Jugendlicher zu Spielexzessen geneigt habe, dass er aber dennoch immer genügend Struktur erlebt habe, um nicht die Kontrolle über das Verhalten zu verlieren. Er habe immer Freunde gehabt, sei später auch Teil einer größeren Clique gewesen und habe mit großer Begeisterung in einem Jugendverein Fußball, später auch Bogenschießen betrieben. Abgesehen von den schon damals durchweg hohen Spielzeiten von durchschnittlich etwa vier Stunden pro Tag sei die Jugend des Patienten unauffällig verlaufen. Erst im Alter von 17 Jahren, als die Computerspielzeiten zunehmend exzessiv wurden und sich der Patient aus anderen Lebensbereichen (Freundeskreis, Sport) allmählich zurückzuziehen begann, sei ein akuter Handlungsbedarf erwachsen. In der Schule sei es zusätzlich zu einem massiven Leistungsabfall gekommen, der Patient habe hohe Fehlzeiten im Unterricht aufgewiesen und hierdurch sei das Abitur akut in Gefahr gewesen, was einen massiven Konflikt mit den Eltern zur Folge gehabt habe. Nach Absprache mit der Schulleitung wurde sich darauf geeinigt, das Schuljahr zu wiederholen, um das Abitur doch noch zu absolvieren. Als Auflage wurde mit dem Patienten besprochen, sich wegen der exzessiven Computerspielnutzung in psychosoziale Beratung zu begeben. Unter dem Druck der Eltern sowie des zuständigen Sozialarbeiters an der Schule habe der Patient eingewilligt, ein Erstgespräch zur Abklärung einer vermuteten Computerspielsucht wahrzunehmen. » Ich hab‘ es aber eigentlich nicht eingesehen. Meine Freunde haben ja auch immer alle gespielt, auf die Schule, mit Abi und so, hatte ich damals einfach keine Lust. Ich bin da nur hin, um wieder meine Ruhe zu haben – das war, wenn ich mir das heute angucke, wohl nicht so schlau.« Nach dem Erstgespräch wurde eine Empfehlung für die Teilnahme an einem ambulanten Beratungsprogramm wegen exzessiver Computerspielnutzung ausgesprochen, welches der Patient jedoch nach drei Sitzungen abgebrochen habe. Dennoch sei es ihm in der Folge unter der Mithilfe seiner Eltern gelungen, die Computerspielzeiten zumindest zu reduzieren und das Abitur zu absolvieren.

» Über die Zusage des Studienplatzes habe ich mich eigentlich gefreut und auch darauf, auszuziehen und was Eigenes zu machen, eben selbständig zu sein. Ein halbes Jahr hat das auch ganz gut geklappt – und dann kam mir das Computerspielen wieder in die Quere.« Nach Aufnahme des Erststudiums (Chemie) und dem Bezug einer eigenen Einzimmerwohnung in einer anderen Stadt gelang es dem Patienten nicht, sich an die veränderten Lebensumstände anzupassen. Die Hochschulabläufe erschienen dem Patienten intransparent, Gefühle der Überforderung entstanden, vertiefte Kontakte zu Kommilitonen konnten nicht geknüpft werden und auch der zuvor gefasste Plan, sich passende Angebote aus dem Hochschulprogramm herauszusuchen, wurde nicht umgesetzt. » Mir war alles zu viel. Ich saß dann nach dem Uni-Tag in meiner Wohnung und wusste nichts mit mir anzufangen. Am Anfang hatte ich meine Accounts für Online-Spiele ja alle deaktiviert, aber die lassen sich ja immer wieder herstellen und mein großer Fehler war, dass ich dann genau das gemacht habe.« In der Folge seien die täglichen Spielzeiten wieder rasch auf ein exzessives Maß angestiegen. Der Patient habe sich ausschließlich zwischen seiner Wohnung und dem Campus bewegt, die wenigen neugeknüpften Sozialkontakte habe er schleifen lassen und keine Anstalten mehr unternommen, im neuen Umfeld Fuß zu fassen. In der Universität besuchte er nur noch Seminare mit Anwesenheitspflicht, in der Annahme, den übrigen Stoff eigenständig zu Hause aufarbeiten zu können. Die Lehrbücher und Skripte hätten sich jedoch ungelesen in einer Ecke seines unfertig eingerichteten Apartments gestapelt. Nach dem Nichtbestehen einiger Klausuren entschloss sich der Patient, das Semester abzuschreiben und die Besuche an der Universität vorläufig ganz einzustellen. Seinen Eltern gegenüber gab er an, dass er gut vorankomme und alle Scheine des ersten Semesters erhalten habe. Finanziell wurde er von den Eltern durch monatliche Überweisungen versorgt und da er nicht viel Geld brauchte, genügte ihm dies, um über die Runden zu kommen. Das vorzeitig beendete Semester und die momentane Freiheit von allen Pflichten rechtfertigten für den Patienten, dass das Computerspielen nun nochmals intensiver wurde. » Ich sagte mir, dass ich sowieso nichts anderes zu tun hätte und dann ebenso gut etwas machen könnte, das mir Spaß macht. Das Problem ist, dass ich irgendwann gemerkt habe, dass das Spielen eigentlich nur noch selten Spaß macht – es war eher die Erinnerung daran, dass es mal schön war, die mich bei der Stange hielt – und Frust darüber, dass ich keinen Schritt weitergekommen war, meine Eltern belog und eigentlich nichts aus mir machte.«

Im zweiten Semester brach der Patient das Studium ab und schrieb sich stattdessen für Biologie ein. In der Zeit bis zum Beginn des neuen Semesters veränderte sich nicht viel, die Spielzeiten beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf bis zu zwölf Stunden pro Tag. Er spielte bis tief in die Nacht hinein, schlief oft bis in die Nachmittagsstunden und verließ sein Apartment nur für Einkäufe. Zu Beginn des neuen Semesters gelang es dem Patienten, sich – auch nach einem klärenden Gespräch mit seinen Eltern über die veränderte Situation – wieder zu einer geregelten Tagesstruktur » zu zwingen«. Er besuchte alle Lehrveranstaltungen, verspürte Motivation für das Studium und hatte insgesamt das Gefühl, dass er nun besser angekommen war. » Mit den Kommilitonen lief es trotzdem nicht wirklich rund. Ich war zwar schon immer eher etwas zurückhaltend, aber nun habe ich mich regelrecht sozial eingerostet gefühlt. Das hat es nicht gerade leichter gemacht.« Einen Rückschlag in seinen Bemühungen erlebte der Patient, als er die Anmeldefrist für ein Praxisseminar versäumt hatte, wodurch er für einige weiterführende Seminare des Folgesemesters nicht zugelassen wurde. Als Reaktion hierauf wurden die zuvor reduzierten Computerspielzeiten erneut exzessiver und es erfolgte ein neuerlicher sozialer Rückzug. Der Entschluss, sich in der psychosozialen Beratungsstelle der Universität vorzustellen, wurde gefasst, nachdem der Patient bemerkt hatte, dass er sich zunehmend weniger auf studienrelevante Inhalte konzentrieren kann, Lernpausen immer mehr ausdehnt und mit längeren Spielrunden füllt sowie gedanklich nicht mehr vom Spiel abschalten kann.