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Hans-Jörg Schmidt

Tschechien

Ein Länderporträt

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Hans-Jörg Schmidt

Tschechien

Ein Länderporträt

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Dank an Libuška †, an Annička und an zahllose
tschechische Freunde und Kollegen …

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

4. Auflage als E-Book, Oktober 2016

eISBN 978-3-86284-357-2

Inhalt

Einleitung

Von welchem Land sprechen wir hier eigentlich?

Was weiß der Durchschnittsdeutsche über die Tschechen?

Prag – Mutter aller Städte

Wie man sich die Stadt erobert

Prager Merkwürdigkeiten und der Fluch zu großer Fenster

Spuren der tschechisch-deutsch-jüdischen Symbiose

Tschechien ist mehr als Prag

Tschechisch-deutsche Geschichte

Berührung und Kampf

Die Erste Tschechoslowakische Republik

Die Zerschlagung der ČSR und die Diktatur der Gewalt

Heydrich auf der Prager Burg

Die Rache der Sieger

Die Dekrete des Präsidenten der Republik

Schwierige Aussöhnung

Die »guten« und die »schlechten« Deutschen

Der Prager Frühling und die Zeit der »Normalisierung«

Trabis, »samtene« Revolutionäre und Havel als Präsident

Das Verhältnis zur Slowakei

Tschechien nach der Samtenen Revolution 1989

Marktwirtschaft »ohne Adjektive«

Der VW-Škoda-Auto-Deal – Tschechiens größte Erfolgsstory

Die skeptischen Tschechen in der EU

Die politische Kultur

Die ungeliebten Roma

Wie sind die Tschechen angekommen in der neuen Zeit?

Die Tschechen, ihr Alltag und einige ihrer Marotten

Wie wohnen die Tschechen?

Wochenend- und Urlaubsfreuden

»Sie wachsen«

Das starke Geschlecht

Das »zweite Kind«

Der Tscheche im Kaufrausch

Gewöhnungsbedürftige Autofahrer

Service – noch immer ein Problem

Glanz und Elend der tschechischen Küche

Die Kneipe – das wahre Wohnzimmer der Tschechen

Rauchen, Kiffen und Crystal Meth

Vorschriften, an die sich niemand hält

Als Deutscher in Tschechien

Nachwort

Anhang

Informative Webseiten

Literaturverzeichnis

Basisdaten

Karte

Über den Autor

Einleitung

In den Revolutionstagen 1989 arbeitete ich im damaligen DDR-Rundfunk in der Ostberliner Nalepastraße. Mir bot sich die Chance, in die Osteuropa-Redaktion der Hauptabteilung Außenpolitik zu wechseln und Korrespondent in Prag zu werden. Ich ahnte nicht, dass ich gleich meinen ersten Arbeitstag in dieser Redaktion nie vergessen würde. Es war der 2. Januar 1990. Der gerade neu gewählte tschechoslowakische Präsident Václav Havel fuhr zu seiner ersten Auslandsreise von Prag nach Ostberlin und München, um den deutschen Nachbarn zu erklären, wie er sich das künftige Miteinander im Herzen Europas vorstellte. Ich durfte Havel in Ostberlin begleiten und von seiner ersten Pressekonferenz berichten. Abends informierte ich die Hörer über sein Treffen mit Richard von Weizsäcker an der Isar.

Havel war der personifizierte Grund gewesen, weshalb ich über das Angebot, nach Prag zu gehen, innerlich lauthals gejubelt hatte. Ich hatte im Fernsehen die Bilder von der tschechoslowakischen Samtenen Revolution im November/Dezember 1989 gesehen. Bilder, die wie diese Revolution so anders waren als die aus den anderen damaligen Ostblockstaaten. Der Prager Wenzelsplatz war Abend für Abend voll von Menschen. Einige der Sprechchöre verstand ich. Sie waren witzig. Die Menschen lachten, zeigten keinerlei Angst in ihren Gesichtern, läuteten mit ihren Schlüsselbunden in der Hand dem alten Regime das Sterbeglöckchen.

Und dann war da dieser Havel. Nicht eben groß von Statur, eher gedrungen, mit blitzenden Augen, einem herrlichen rotblonden Schnauzer und einer erstaunlich tiefen, festen Stimme. Wenn er den Mund aufmachte, elektrisierte er die Massen, die an seinen Lippen hingen, als spräche der Erlöser selbst zu ihnen. Diesem Mann, so träumte ich in den Novembertagen 1989, müsstest du mal gegenübersitzen können. Eine Stunde vielleicht. Und einfach nur zuhören, sich mitreißen lassen von seinen Ideen, die er nicht wie ein normaler Politiker aussprach, sondern wie ein Dichter, dem die Sprache wichtig ist. Als Ostdeutscher ging es mir da wie den Tschechen und Slowaken. Niemals zuvor hatten wir solche Formulierungen gehört. Zu denen waren die Politiker, die man aus der DDR und der ČSSR kannte, nicht fähig gewesen.

Um es vorwegzunehmen: Ich habe geschlagene sieben Jahre auf mein erstes Exklusiv-Gespräch mit Havel warten müssen. Er war ein gefragter Mann. Aber ich hatte schon im Sommer 1990, gleich bei meinem Eintreffen in Prag, in der Präsidialkanzlei vorsorglich meinen Wunsch nach einem Exklusiv-Treffen hinterlassen. 1994, als sich Tschechen und Slowaken schon getrennt hatten, beantragte ich ein Interview mit dem ersten slowakischen Präsidenten, Michal Kováč, in Bratislava. Nach zwei Tagen trafen wir uns. Problemlos. Was mich anstachelte, der Presseabteilung von Havel zu schreiben, wie schnell man ein Interview mit dem slowakischen Staatsoberhaupt bekomme. Vielleicht könnten sie mir nun auch mal einen Termin bei ihrem Präsidenten organisieren. Das war ein schwerer Fehler. Dass ich den Tschechen ausgerechnet die Slowaken als Beispiel vorgehalten hatte, kam gar nicht gut an. Man ließ mich noch drei weitere Jahre schmoren, bis ich endlich allein zu Havel vorgelassen wurde.

Es blieb in den darauffolgenden Jahren nicht bei diesem einen Exklusiv-Interview. Als Prager Korrespondent der überregionalen Tageszeitung Die Welt war es sehr viel leichter, zu Havel vorzudringen als einer, der »nur« für Regionalblätter schrieb, auch wenn deren Auflage sehr viel größer war als die der meisten tschechischen Zeitungen. Aber schon nach dem ersten Interview war mein ursprünglicher Wunsch aus den Jahren 1989/90 erfüllt. Ich hätte nach Deutschland zurückkehren können. Aber ich hatte längst die tiefe Wahrheit des Spruchs von Franz Kafka verinnerlicht: »Dieses Mütterchen Prag hat Krallen. Es lässt einen nicht mehr los.« Und so blieb ich an der Moldau. Daraus sind 26 Jahre geworden.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass es sich bei dem vorliegenden um ein durchaus politisches Buch handelt, und das aus gutem Grund: Ich bin ein politischer Journalist. Und wichtiger noch: Die Tschechen sind ein sehr politisches Volk. Das hat mit ihrer wechselvollen Geschichte zu tun, in der sie ewig in fremde Einflussbereiche eingebunden waren. Lange waren sie Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, von 1939 bis 1945 litten sie unter der nationalsozialistischen Besatzung Böhmens und Mährens, von 1948 an waren sie mehr als 40 Jahre Bestandteil des Ostblocks. Eine Ausnahme bildete die Zeit der Selbstbestimmung in der Ersten Tschechoslowakischen Republik von 1918 bis 1938. Die Jahrhunderte währende Fremdbestimmung bis hin zur Bedrohung der eigenen nationalen Identität prägte Verhalten und Mentalität. Um als kleine Nation an der Kreuzung Europas kulturell überleben zu können, mussten sich die Tschechen als anpassungsfähig, findig und innerlich unabhängig erweisen und Obrigkeiten die Stirn bieten.

Besonders schwierig gestaltete sich lange Zeit das Verhältnis zu den großen deutschen Nachbarn. Man sollte sich an das Münchner Abkommen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei, an das Konzentrationslager Theresienstadt, an das dem Erdboden gleich gemachte Lidice, aber auch an den mit DDR-Hilfe zerschlagenen Prager Frühling 1968 erinnern, wenn man als Deutscher in Tschechien nicht gleich mit offenen Armen empfangen wird. Andererseits bot das alte Westdeutschland über Jahre tausenden Tschechen Zuflucht vor dem kommunistischen Regime in Prag. Und es waren die Deutschen aus der DDR, die 1989 über die Prager Botschaft den Weg in die Freiheit suchten und den Tschechen damit den letzten Anstoß für ihre eigene Revolution gaben. Vor allem aber haben Tschechen und Deutsche 800 Jahre gemeinsam auf einem Landstrich gelebt, häufig nebeneinander, aber auch miteinander. Havel hat das Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen einmal als »Inspiration, aber zugleich auch Schmerz« bezeichnet. Dieses Buch versucht zu erklären, was der Präsident mit diesen Worten im Sinn hatte, aber es bietet auch den Blick in den Alltag und auf die Marotten der Tschechen, die sie so liebenswert machen. Ich zehre beim Schreiben naturgemäß vor allem von meinen eigenen Begegnungen in dem Nachbarland, in dem ich nicht nur seit 1990 lebe und arbeite, sondern das mir auch zur zweiten Heimat geworden ist.

Prag, im Sommer 2016

Hans-Jörg Schmidt

Von welchem Land sprechen wir hier eigentlich?

Man hatte es schon nicht mehr für möglich gehalten: Seit Beginn der Eigenstaatlichkeit 1993 suchte die Tschechische Republik/Česká republika nach einem offiziellen Kürzel – und der Rest Europas amüsierte sich, dass sie keines fand. Kurz vor der Fertigstellung der vierten Auflage dieses Buches einigten sich die politischen Eliten des Landes bei einem Treffen auf der Prager Burg dann doch noch: Künftig soll das Nachbarland kurz und schmerzlos auf Deutsch Tschechien heißen. Das hatten wir doch schon, werden Sie jetzt sagen. Richtig. Angeblich war es das österreichische Fernsehen, das der Tschechischen Republik in der Nacht zum 1. Januar 1993 dieses Kürzel verpasste. Tschechien wurde auf Deutsch gelegentlich jedoch schon im 19. Jahrhundert benutzt, aber auch 1919 von dem damaligen deutschen Konsul in Prag, der sich zum Gesandten in der neuen Tschechoslowakei erklärt hatte, und der das neue Land in seinen Berichten nach Berlin als Tschechien bezeichnete. Die Österreicher haben diesen Begriff im Jahre 1993 nur neu belebt.

Für Tschechien gab es auch im Französischen oder im Spanischen ein Kürzel. Nur in der wichtigsten Fremdsprache, dem Englischen, sprach man immer ordentlich von Czech Republic. Damit soll nun Schluss sein. Bei der UNO wurde offiziell das englische Kürzel Czechia hinterlegt. Davon leiten sich die Begriffe in den anderen Sprachen ab. Dass sich die Begriffsfindung so lange hinzog, hatte mit den Widerständen aus den beiden kleineren Landesteilen Mähren und Schlesien zu tun. Der immer mal in Rede stehende Begriff Čechy war dort nicht akzeptiert, weil er auch für Böhmen steht, das zwar größte Land innerhalb der Tschechischen Republik, aber eben nicht das einzige. Die jetzige tschechische Form, Czechia – Česko, passte ihnen aber auch nicht, wobei da angeblich schon Rücksicht auf Mährer und Schlesier genommen wurde. Doch die sind da empfindlich, waren das schon zu tschechoslowakischen Zeiten. Damals hatten sie eine zweigeteilte Hymne, zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Teil gab es eine kleine Pause. »Die ist für Mähren«, spotteten seinerzeit die Böhmen.

Die Brünner, also die Menschen aus der mährischen Hauptstadt, rächen sich gern an den »hochnäsigen« Pragern mit Witzen in einem schwer verständlichen Brünner Dialekt wie diesem: An einem heißen Tag trinkt ein Prager Besucher aus einem Brunnen in Brünn. Ruft ein Brünner: »Trinken Sie das nicht, wir haben hier die Maul- und Klauenseuche!« »Wie bitte?«, fragt der Prager zurück. »Ach, der Herr kommt aus Prag. Also, ich sagte, seien Sie hübsch vorsichtig und trinken Sie langsam. Das Wasser ist sehr kalt. Sie holen sich sonst schnell eine Erkältung.«

Der große Aufruhr ist aber nicht mehr zu verspüren. In den tschechischen Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich Česko längst eingebürgert. Kein Tscheche sprach im Alltag von der Tschechischen Republik, wie ja auch kein Franzose von der Republik Frankreich, kein Däne vom Königreich Dänemark oder kein Deutscher von der Bundesrepublik Deutschland spricht.

Mit dem offiziellen Namen Tschechische Republik gab es wegen dessen Länge immer ein paar Probleme. Das bekamen vor allem die Sportler zu spüren. Als die Eishockeyspieler 1998 bei den Olympischen Spielen in Nagano Gold holten, kurvten sie plötzlich mit der Aufschrift Czech über das Eis. Diese Bezeichnung gibt es eigentlich überhaupt nicht.

Unvorteilhaft war der nach wie vor fehlende Kurzname bei internationalen Messen oder auch in der Geschäftswelt. Für Messestände, auf denen man auch nicht endlos Platz für Namen hatte, suchte man vergeblich nach einem Kürzel. »Die Ärmsten, die zur Messe nach Brno (Brünn) fuhren, riefen regelmäßig ratlos an unserer Fakultät der Brünner Masaryk-Universität wegen eines Kurznamens an«, erzählt der Sprachwissenschaftler Rudolf Šrámek.

Der alte Begriff »Tschechei« ist bei den Nachbarn nicht eben wohl gelitten. Er erinnert zu sehr an die von den Nazis geprägte Wortschöpfung »Rest-Tschechei«, nachdem sich die Slowakei 1939 unter dem Druck Adolf Hitlers von den Tschechen abgespalten hatte. Ob sich Czechia international durchsetzen wird, ist jedoch fraglich. Eine Prager Zeitung kommentierte die Entscheidung mit der süffisanten Bemerkung: »Am Ende ist es egal. Für die eine Hälfte der Welt werden wir weiter die Tschechoslowakei sein, die andere verwechselt uns wie bisher mit Tschetschenien.«

Was weiß der Durchschnittsdeutsche über die Tschechen?

Die Deutschen sind kinderlieb, halten sich für gemütlich, ekeln sich vor Maden, fahren unter keinen Umständen bei Rot über die Ampel und verstehen nichts von Kunst, lauteten jüngst einige interessante Ergebnisse einer Studie für ein Buch mit dem Titel Wie wir Deutschen ticken. Auf die Frage, was für Deutschland stehe, antworteten zwei Drittel der Befragten »Volkswagen« (das war noch vor dem Diesel-Skandal!). Auf die nächsten Plätze kamen Goethe und Angela Merkel. Die Tschechen verbinden mit den Deutschen vor allem drei Grundeigenschaften: Pünktlichkeit, Disziplin und Humorlosigkeit. Und was wissen die Deutschen über die Tschechen? Zweifellos ist die bekannteste Tschechin in Deutschland die Schauspielerin Libuše Šafránková, die als Aschenbrödel mit ihren drei Zaubernüssen zu Weihnachten auf allen Programmen des deutschen Fernsehens hoch und runter läuft. Den Film Jahr für Jahr zu sehen, gehört in vielen Familien längst zum weihnachtlichen Ritual. Nicht anders ist das bei den Tschechen, die den 1973 in Co-Produktion der ostdeutschen DEFA und den Prager Studios in Barrandov gedrehten Streifen zum »schönsten Märchenfilm aller Zeiten« gekürt haben.

Der berühmteste Tscheche ist vermutlich Schlagerstar Karel Gott, der auch in Deutschland eine große Fangemeinde hat. Als der Sänger von »Biene Maja« kürzlich an Krebs erkrankte, drückten ihm auch viele Deutsche für eine rasche und vollständige Genesung alle Daumen. Welche tschechischen Namen sagen den Deutschen noch etwas? Fußballfans dürften Petr Čech, Tomáš Rosický oder Jan Koller einfallen, anderen der einstige Zehnkampf-Weltrekordler Roman Šebrle, das Laufwunder Emil »Lokomotive« Zátopek, die einstige Turnkönigin Věra Čáslavská, die Tennislegenden Martina Navrátilová und Ivan Lendl. Die einstige »Sexgöttin« Dolly Buster stammt ebenfalls aus Tschechien. Kulturinteressierten fallen sicher noch mit dem Oscar prämierte Regisseure wie Jiří Menzel und Miloš Forman ein, die Komponisten Bedřich Smetana, Antonín Dvořák oder Leoš Janáček, Schriftsteller wie Bohumil Hrabal oder Pavel Kohout. Doch wer erinnert sich schon an den Lyriker Jaroslav Seifert, der den Literatur-Nobelpreis erhielt? Milan Kundera lebt und schreibt seit ewigen Zeiten in Paris in französischer Sprache und meidet seine tschechische Heimat. Und Franz Kafka wurde vor ein paar Jahren in einer Umfrage unter Lesern einer deutschen Tageszeitung zum wichtigsten »deutschen« Autor aller Zeiten gewählt. Bedenkt man, wie stiefmütterlich die Tschechen mit diesem deutsch-, aber auch tschechischsprachigen Prager Juwel eigentlich bis heute umgehen, eine geradezu folgerichtige Entwicklung.

Václav Havel ist bis heute unter den Deutschen der bekannteste tschechische Politiker. Er erlangte seine allgemeine Berühmtheit aber auch erst nach 1989. Freilich kannten die Tschechen Havel damals auch kaum besser als die Deutschen. Sie forderten zwar nach dem 17. November 1989, als die Revolution begann, sehr schnell in einem kollektiven Aufschrei, Havel solle »auf die Burg«, also Präsident werden. Ihr Wissen über Havel hielt sich aber in engen Grenzen, so sie nicht aus dem kleinen Kreis der Bürgerrechtler stammten. Kein Wunder, dass sogleich im Spätherbst des Umbruch-Jahres eine Biografie des neuen Staatsoberhauptes veröffentlicht wurde.

Die »kulinarischen« Kenntnisse über die Tschechen sind sicher etwas größer. Viele Deutsche mögen deren National-Beilage Knödel und Pilsner Bier, das aus der gleichnamigen westböhmischen Stadt seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat. Becherovka-Likör dürfte den meisten auch ein Begriff sein. Manches ist allerdings auch etwas irritierend für Deutsche. Als ich mich in einem Tschechisch-Crashkurs auf meinen Aufenthalt in Prag vorbereitete, gehörten gängige Speisekarten zu den wichtigsten Lernvorlagen. Schließlich wollte ich in meiner neuen Heimat weder verhungern noch verdursten. Als ich dort aber Gerichte wie smažený hermelín (Gebackener Hermelin) oder španělsky ptáček (Spanischer Vogel) fand, zweifelte ich ein wenig daran, es mit einem mitteleuropäischen Kulturvolk zu tun zu bekommen. In Prag wurde ich dann aber schnell aufgeklärt: Der hermelín ist mitnichten ein im heißen Fett dem Tode geweihtes Pelztier, sondern ein Camembert, und hinter dem spanisch daherkommenden Vogel verbirgt sich nichts anderes als eine Rindsroulade, wie sie auch jedes gutbürgerliche Restaurant in Deutschland anbietet. Typisch schwarzer tschechischer Humor verbindet sich mit solch einem Angebot wie smradlavý prsty ošklivého pepka (Stinkende Zehen der hässlichen Pepik). Da weidet man aber nicht etwa die übel riechenden Überbleibsel eines Obdachlosen aus. Der Name verheißt ausgebackene Quargeln aus Olmütz. In Deutschland würde man die Olmützer Quargeln schlichtweg Harzer Käse nennen. Glauben Sie es mir bitte: Das Ganze stinkt wirklich, aber es schmeckt köstlich, wenn Sie es original in Olomouc/Olmütz essen, der schönsten Barockstadt des Landes. Es wird Ihnen dort mit patriotischem Stolz in jeder Kneipe serviert.

Natürlich wabern auch reichlich Klischees über »die Tschechen« durch die Köpfe mancher Deutscher. Ein Westdeutscher, der vor 1989 einmal seinen Mercedes bei unseren Nachbarn zu Schrott fuhr, hat mit Sicherheit die Fingerfertigkeit tschechischer Monteure schätzen gelernt, die das teure Stück schnell wieder flott bekamen. Auch die Tschechen selbst sind von ihren »goldenen Händchen« zutiefst überzeugt und stützen damit ein bekanntes Klischee über sich. Das rührt noch aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, deren industriell entwickelter Teil die tschechischen Länder waren, in denen man die Werte schuf, »während man in Wien regierte und in Budapest tanzte«, wie es bis heute heißt. Wie ernst man das noch immer nimmt, zeigte mir ein Besuch im südböhmischen Atomkraftwerk Temelín, das von Beginn an den Zorn der Österreicher auf sich gezogen hatte. Die tschechischen Arbeiter dort sprachen den österreichischen Kritikern des AKW kurzerhand jede fachliche Befähigung ab. Die Österreicher hätten, ganz im Gegensatz zu den Tschechen, noch nie etwas von »richtiger Arbeit« verstanden und könnten unmöglich beurteilen, was da unter »goldenen tschechischen Händchen« für ein Schmuckstück des technologischen Fortschritts entstanden sei.

Es gibt auch Klischees über die Tschechen, die erst nach der Samtenen Revolution entstanden sind. An denen haben die in Prag akkreditierten Auslandskorrespondenten keinen geringen Anteil. Drei längere Berichte über dreist betrügende Taxifahrer in Prag reichten aus, damit das Thema in allen danach erschienenen Reiseführern Aufnahme fand. Da wurde dann freilich schnell ein vernichtendes Pauschalurteil über das komplette Gewerbe getroffen, das die Wahrheit etwas verzerrt. Natürlich sind auch in Prag die ehrlichen Taxi-Kutscher in der Mehrheit. Und mit etwas Glück, treffen Sie auch einen davon.

Gern bedienen sich deutsche Medien auch des Bildes vom tschechischen Schwejk. Das Problem dabei: Diese Figur, die einem auch in grandiosen Verfilmungen mit Rudolf Hrušínský oder Heinz Rühmann ans Herz wachsen musste, lässt sich überaus verschieden deuten. Die von Jaroslav Hašek geschaffene Kunstfigur Schwejk für seinen Roman Der brave Soldat Schwejk (1921 – 1923) ist der kleine Mann von der Straße, der geschwätzig Loyalität vorgibt, den Deppen spielt und das leere Pathos der Monarchie und besonders deren Militärapparat auf die Schippe nimmt. Phrasen und Befehle gibt er der Lächerlichkeit preis, indem er sie tatsächlich ernst und wörtlich nimmt und sie bis ins Detail ausführt. Er ist Feigling und tapferer Mensch zugleich, wirklicher Idiot und doch auch augenzwinkernder, raffinierter Kämpfer.

In Hašeks Roman gibt es keine häufigere Geste als »Melde gehorsamst!«. Auch wenn der, der da meldet, in Wahrheit den Gehorsam verweigert; in jedem Fall meldet er, zur Freude seiner Vorgesetzten, die gar nicht begreifen, dass sie vorgeführt werden. Die von Schwejk meisterhaft beherrschte Abwehrtaktik des kleinen Mannes gegenüber der Obrigkeit hat die Monarchie überlebt. Auch der ČSR nach 1918 begegnete er mit Misstrauen und Skepsis. Und selbst nach 1989 verhielten sich viele Tschechen wie Schwejks. Die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Umstellungen liefen bei ihnen im Vergleich zu anderen Reformländern wie Polen und Ungarn viel härter ab. Man musste den Tschechen keine großen Anleitungen geben, wie sie sich zu ändern hatten. Sie machten am Ende doch, was sie wollten, ließen sich nicht verbiegen, hörten nur selten auf das, was die politische Elite ihnen vorbetete. Und sie sind damit nicht schlecht gefahren. Das ist vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen Tschechien und anderen Staaten aus dem ehemaligen sowjetischen Machtbereich. Der frühere EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat die Tschechen »das wohl skeptischste Volk Europas« genannt. Besser trifft wohl die Einschätzung des früheren Dissidenten, langjährigen Botschafters und Chefs des Internationalen PEN-Clubs, Jiří Grušas, der den Durchschnittstschechen einen »nörgelnden Optimisten« nannte. »Die Zustände sind zwar schlecht, er selbst aber ist gut – oder besser als diese.«

Zugegeben erregt eine Zeitungsüberschrift wie »Jetzt sind auch die Schwejks in der NATO« besondere Aufmerksamkeit beim Leser. Aber sie ist höchst ungerecht. Die tschechische Armee ist alles andere als ein Verein von »böhmischen Simulanten« und »Fußlahmen«. Im Gegenteil: Die im nordböhmischen Liberec (Reichenberg) stationierte Truppe zur Bekämpfung von atomaren, chemischen und biologischen Waffen beispielsweise gehört zum Besten, was die NATO zu bieten kann.

Prag – Mutter aller Städte

Wie man sich die Stadt erobert

Folgt man der Statistik, dann waren Sie, liebe Leser, auch schon in Prag. Fast jeder Deutsche hat die Moldaustadt schon besucht, sei es als Teilnehmer einer Schulfahrt, als Geschäftsreisender oder als normaler Tourist. Wenn Sie sich an Prag erinnern – welches Gefühl beschlich Sie seinerzeit? Viele meiner deutschen Freunde, die ich in all den Jahren zu mir gelotst habe, landeten in einem Gefühlschaos. Sie kamen sich ohne meine ortskundige Hilfe total verloren vor, aber andererseits sofort irgendwie seltsam heimisch.

Verloren wegen der hohen Sprachbarriere. Die Tschechen sind ein kleines Volk mit einer sehr schwierigen westslawischen Sprache. Die Grammatik ist für Ausländer die reine Strafe. Alles wird dekliniert, auch Namen. Aber anders als beispielsweise im Russischen, wo man sich relativ gut daran orientieren kann, dass eine Endung mit einem Konsonanten auf männliche Abstammung schließen lässt, eine auf »-a« weibliche und eine auf »-o« sächliche Deklination vorschreibt. Im Tschechischen gilt diese Regel nicht. Es gibt per se mehr Ausnahmen als Regeln.

Frauen bekommen an ihren Namen automatisch die Endung »- ová« angehängt. Angela Merkel beispielsweise heißt in Tschechien demzufolge Angela Merkelová. Man betont jedes Wort immer auf der ersten Silbe. Das bedeutet aber nicht, dass man diese erste Silbe länger ausspricht. Länger wird ausgesprochen, was mit einem Längenzeichen versehen ist, wie das á bei Merkelová. Die Kanzlerin wird also eigentlich Merkelovaa ausgesprochen, mit einem langgezogenen a am Ende. Die Betonung aber liegt auf Merk. Das e in Merk wird aber anders als im Deutschen nicht einen Tick länger gesprochen, sondern kurz. Als Merk, nicht Meerk. Verstanden? Prima!

Da nur zehn Millionen Tschechen Tschechisch sprechen (wenn man die Tschechen in Übersee und die benachbarten Slowaken vernachlässigt, die Tschechisch zumindest verstehen, meist auch noch sprechen), sollte man meinen, sie wüssten, dass Fremdsprachen für sie wichtig sind. Wissen sie zwar, aber sie sprechen sie kaum. Ältere Herrschaften können noch Deutsch, die jungen Leute lernen in der Schule zuerst Englisch und deutlich weniger Deutsch, weil ihnen das zu kompliziert ist. Das erschwert etwas die Kommunikation. Junge Leute aus unseren beiden Ländern haben damit aber kein Problem, sie wissen sich immer irgendwie zu helfen. Meist auf Englisch. Für mich ein etwas trauriger Zustand. Immerhin haben Tschechen und Deutsche 800 Jahre in einem Land gelebt und meist beide Sprachen beherrscht. Aber die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.

Trotzdem werden auch die älteren Semester unter den Deutschen die Tschechen und die Prager als sehr hilfsbereit empfinden. Wenn es mit der Sprache nicht klappt, dann nutzt man Hände und Füße. Niemand hier erwartet von Ihnen als einem Deutschen, dass Sie des Tschechischen mächtig sind. Aber die Tschechen freuen sich ein Loch in den Bauch, wenn Sie wenigstens ein paar Worte Tschechisch radebrechen. Die Einheimischen wissen selbst, wie schwer ihre Sprache ist. Die Abiturergebnisse in der Muttersprache werden von Jahr zu Jahr schlechter, längst sind die Sprachwissenschaftler deshalb alarmiert. Wenn Sie ein paar Brocken Tschechisch sprechen, laufen Sie allerdings Gefahr, dass Ihr Gegenüber Sie vor lauter Anerkennung und Freude mit einem ganzen tschechischen Wortschwall überfällt. Bis er merkt, dass Sie in Wahrheit nur Bahnhof verstehen. Am Ende lachen Sie beide und fallen sich – so Sie sich sonst verstehen – bei einem Bier in die Arme.

Keiner weiß so richtig zu sagen, woher die eingangs erwähnte sofortige Vertrautheit mit der Moldaustadt herrührt, selbst wenn man noch nie in Prag war. Es gibt aber einige Indizien: Im Prag findet man vieles, was man aus Deutschland kennt – Baustile etwa. Hier gibt es alles, was man auch aus Deutschland kennt, selbst Fachwerk. Und einiges mehr: etwa den Kubismus-Stil, der so typisch nur an der Moldau zu finden ist. Bei all dem sind die Prager Traditionalisten. Als in einen Bombenkrater am Jugendstil-Moldauufer (direkt neben dem Haus von Havel) nach der »Wende« ein modernes Gebäude errichtet wurde, das »Tanzende Haus«, das an Ginger und Fred erinnert, waren viele Prager außer sich. Das passe dort unmöglich hin, verschandle die Umgebung. Die Aufwallung der Gefühle legt sich aber immer sehr schnell. Heute mögen die Prager dieses Ensemble über alle Maßen. Sie würden auch gern öfter in die oberste Etage des Hauses fahren – in ein tolles französisches Restaurant. Leider entspricht die Preisstufe dort nicht ganz dem tschechischen Durchschnittseinkommen, wenngleich das Essen exzellent ist.

Ein Stück Vertrautheit verströmen die Bierkneipen und Weinstuben, namentlich wegen ihrer Gemütlichkeit. Ganz sicher spielt dabei die Musik, die überall ertönt, eine Rolle. In tschechischen Familien wird noch erhöhter Wert darauf gelegt, dass man ein Instrument erlernt. Musikschulen müssen sich nicht über mangelnde Nachfragen beschweren. Touristen besuchen gern Konzerte, weil hierbei die Sprachbarriere wegfällt. Es gibt Tausende von Ensembles, die sich auf diese Weise nebenher ein bisschen Geld verdienen. Unter den Musikern sind selbst Mitglieder des musikalischen »Nationalheiligtums«, der Tschechischen Philharmonie, zu finden, die von ihrem Gehalt auch mehr schlecht als recht leben können. Neben den tschechischen Nationalkomponisten spielt man vor allem Mozart, der im einstigen Deutschen Theater, dem heutigen Ständetheater, seinen »Don Giovanni« uraufführte. Seinerzeit pfiffen die Prager die Arien von Mozart wie Gassenhauer. »Meine Prager verstehen mich«, lobte Mozart denn auch dieses spezielle Publikum.

Der große Hit in Tschechien sind seit einigen Jahren Musical-Aufführungen. Dabei gehen nicht nur die Klassiker über die Bühnen, die man aus anderen Metropolen der Welt kennt. In Tschechien werden auch gern literarische Stoffe zu Musicals umgewandelt, die dafür auf den ersten Blick kaum geeignet erscheinen. Beim Andrang des Publikums kann sich das Autorenteam damit eine goldene Nase verdienen. Kein Wunder, dass zu den Interpreten auch die oberste Liga der auch sonst gefeierten einheimischen Schlagerstars gehört. Auch ein Opernbesuch lohnt sich für Auswärtige, die des Tschechischen nicht mächtig sind, werden die Werke doch immer in der Originalsprache aufgeführt. Bei tschechischen Opern gibt es englische und deutsche Untertitel. Wer einmal eine Aufführung des Nationaltheaters von Dvořáks »Rusalka« erlebt hat, wird das nie vergessen. Und auch die etwas kitschige und angestaubte »Verkaufte Braut« von Smetana muss man einmal in Prag oder Brünn gesehen haben. Allein schon wegen der Orchester, die alle den typisch tschechischen, vergleichsweise weichen Klang pflegen.

Vermutlich haben Sie vor Ihrem ersten Prag-Besuch einen Stadtführer gekauft. Das war rausgeschmissenes Geld. Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen. Lassen Sie ihn im Koffer und lesen Sie, zurück in Deutschland, wo Sie überall gewesen sind. Ein Buch in der Hand beim Gang durch die Stadt, selbst ein Stadtplan, stört nur. Schon deshalb, weil Sie den Blick nicht auf den Plan richten können, sondern abwechselnd nach unten und nach oben sehen müssen. Nach unten wegen des gewöhnungsbedürftigen, absatzmordenden Pflasters, nach oben, weil fast jedes Haus, an dem Sie vorbei schlendern, ein eigenes Markenzeichen hat.

In Prag kann man sich nicht wirklich verlaufen, jedenfalls nicht im Zentrum. Dort führen alle Wege entweder zum Wenzelsplatz oder zur Moldau.

Kluge Fremde ächzen gleich zu Beginn ihres Prag-Besuchs die Stufen der Schlosstreppe auf der barocken Kleinseite zur Burg hinauf. Von dort haben Sie quasi ein Luftbild der Stadt und können sich perfekt orientieren. Sie werden mehr als hundert Kirchtürme zählen, zahlreiche Brücken über die Moldau, historische Gebäude ohne Ende und dazu das »Ah« und »Oh« ihrer Nachbarn hören, die wie Sie von diesem traumhaften Panorama überwältigt sind. Alles, was Ihnen da unters Auge kommt, können Sie nicht besuchen. Dafür bräuchten Sie Monate. Tauchen Sie in den nächsten Tagen einfach ein in die Stadt. Und was Sie diesmal nicht gesehen haben, sparen Sie sich einfach für den nächsten Besuch auf. Der Blick von der Burg auf die Dächer, die Gärten unterhalb des Hradschin – wie das Burgareal auf Tschechisch heißt – und auf die Moldau, die im Schein von Sonne oder Mond golden oder silbern glänzt, auf die verwinkelten Gassen und schiefen Plätze im alt-neuen Gaslaternenschein wird Sie nur schwer einschlafen lassen. Und Sie werden dankbar sein, dass der Krieg Prag weitgehend verschonte, sieht man von einigen verirrten Bombern ab, die im Februar 1945 Prag mit Dresden verwechselten und auch ein paar Gebäude in der Moldaustadt zerstörten. Prag wird Ihnen zu Teilen mittelalterlich erscheinen. Vor allem dann, wenn Sie in einem Anflug von Wahnsinn und Unkenntnis der Gegebenheiten versuchen sollten, die Stadt per Auto zu erkunden. Die Gassen nämlich sind eng, der Stau ist allgegenwärtig, ein Parkplatz teuer, wenn Sie denn überhaupt einen finden. Sollte Ihnen die Rezeption Ihres Hotels nicht dringend von der Nutzung des Autos abgehalten haben, strafen Sie sie spätestens nach dieser Erfahrung mit einem nur knappen Trinkgeld ab.

Prag erobert man sich zu Fuß oder unter Zuhilfenahme des perfekt funktionierenden und preiswerten öffentlichen Personennahverkehrs: Metro, Tram oder Bus. Wenn Ihnen am ersten Tag Ihres Prag-Besuches die Füße vor Schmerz abzufallen drohen, denken Sie an all das Schöne, was Sie erlebt haben und nehmen Sie an der Hotel-Bar noch einen goldenen Schlaftrunk in Form eines Biers. Sie werden schlummern wie ein Baby. Und frisch und munter gegen 5 Uhr mit den singenden Amseln aufstehen und sich zur Karlsbrücke aufmachen, noch bevor der Berufsverkehr einsetzt. Haben Sie die Karlsbrücke für sich allein gehabt, könnten Sie eigentlich ruhig noch einmal ins Hotelbett schlüpfen. Der nächste Programmpunkt steht erst um 11 Uhr an. Dann beginnt die astronomische Uhr am Altstädter Rathaus ihr allstündliches Spiel. Falls sie nicht mehr schlafen konnten, sondern sich lieber schon an einem ausgiebigen Frühstück gelabt haben sollten, dann haben sie vor 11 Uhr noch Zeit, durch das frühere Judenviertel Josefov, die Josefsstadt, zu lustwandeln. Der Alte Jüdische Friedhof ist ein Muss, ebenso die Synagogen, die in der Josefsstadt noch immer stehen. Namentlich die Pinkassynagoge wird Sie erschauern lassen. Ein Totenfries dort mit mehr als 77 000 Namen erinnert an die Juden aus Böhmen und Mähren, die in der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung umgebracht wurden. Das Jüdische Museum wurde von den Nazis als »Institut für Rassenstudien« missbraucht, in dem der Untergang der jüdischen »Rasse« dokumentiert werden sollte. Die Nazis haben ihr Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil – die Stadt verfügt mit dem Jüdischen Museum nunmehr über einen großartigen Schatz jüdischen Lebens. Und in Prag gibt es wieder eine aktive jüdische Gemeinde – trotz des Ausrottungsversuchs von Einst.

Prager Merkwürdigkeiten und der Fluch zu großer Fenster

Stein gewordene Geschichte prägt Prag, wohin man schaut. Paläste, durch die noch der Atem vergangener Zeiten zu wehen scheint. Beeindruckend die architektonischen Zeugnisse aus der Zeit Karls IV., des Luxemburgers, der in Prag geboren und gestorben ist, 1355 in Rom zum deutschen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gekrönt worden war. Zu den Ländern der böhmischen Krone gehörten seinerzeit auch Luxemburg und Brabant, Brandenburg mit Berlin, die Ober- und die Niederlausitz und Schlesien, Dresden und Kattowitz. Fast bis an die polnische Ostseeküste reichte der Staat »Majestas Carolina«. Karl IV. ist unlängst zum »größten Tschechen aller Zeiten« gewählt worden. 2016 wird sein 700. Geburtstag begangen. Die Zeitungen widmeten seinem Leben ganze Serien von Artikeln und stellten dabei immer die für Tschechen wichtige Frage, ob Karl IV. nun eigentlich mehr Tscheche oder Deutscher war. Im Grunde war er ein richtiger Europäer, der fünf Sprachen perfekt beherrschte, Tschechisch sogar zweimal lernte. Tschechien und Bayern widmeten dem Monarchen eine gemeinsame Ausstellung, zu deren feierlicher Eröffnung zu Pfingsten auch der bayerische Regierungschef Horst Seehofer an die Moldau kam.

Karl IV. verdankt Prag, zeit seines Lebens mit rund 50 000 Einwohnern eine der bedeutendsten Städte des Kontinents, unter anderem die erste mitteleuropäische Universität. Das wichtigste Prager Denkmal, das seinen Namen trägt, ist die Karlsbrücke, an deren Altstädter Ende ein prächtiges Denkmal für den Luxemburger steht. Von dort oben staunt er über die Massen von Touristen, die von der Brücke über der Moldau täglich angezogen werden. Die beliebteste der vielen Statuen auf der Brücke ist die des Heiligen Nepomuk. Die haben in den letzten Jahren vor allem vermehrt Japaner, Chinesen und Russen für sich entdeckt, die zum Heiraten nach Prag kommen und dann zu dieser Statue pilgern, um Nepomuk mit ihren frisch beringten Händen zu berühren, was Glück bringen soll. Aber auch »normale« Touristen stehen Schlange, ohne recht zu erahnen, welch trauriges Schicksal den einstigen Generalvikar Johannes von Pomuk ereilte, dem die Statue gewidmet ist. Der wurde nämlich auf Geheiß des cholerischen Königs Václav IV. mit einem Sack über dem Kopf von der Brücke in die Moldau geworfen, angeblich, weil er das süße Beichtgeheimnis der etwas leichtlebigen, sprich untreuen Königin Sophie nicht preisgeben mochte. Diese Geschichte ist zwar bewegend, aber leider nur erdacht. In Wahrheit musste der Nichtschwimmer kläglich ertrinken, weil er gegen den Willen des weltlichen Herrschers einen neuen Abt in sein Amt eingeführt hatte. Die andere Geschichte ist gewiss hübscher. Wer könnte besser Schutzpatron für Verliebte sein als ein Geistlicher, der für die unstillbare Liebe so viel Verständnis aufgebracht hat. Und wer bei seinem Gang über die Brücke zufällig gerade nicht in einen anderen Menschen verliebt ist, der verliebt sich mit Sicherheit in den Anblick, den er von der Karlův most, wie die Moldau-Querung im Original heißt, auf die Burg, die Kleinseite oder die Altstadt hat. Die nach Karl benannte Universität zieht seit 1989 auch zunehmend deutsche Studenten an; sie ist zu einer guten Adresse geworden. Karl IV. war zudem Namenspate für den größten innerstädtischen Park, ein Schnittpunkt auch für die meisten Straßenbahnlinien. Im Sommer wird der Park zu einer einzigen Liegefläche. Vor allem Studenten machen es sich hier gemütlich, garantiert ausgestattet mit einem Becher Bier, einem Laptop und dem unvermeidlichen Smartphone.

600 Jahre zurück liegt ein anderes, schauriges Jubiläum – die Verbrennung des tschechischen Priesters Jan Hus auf dem Scheiterhaufen in Konstanz am Bodensee. Mitten in der Prager Altstadt findet sich die Bethlehems-Kapelle, in der Hus seit 1400 wirkte. Er förderte die tschechische Sprache, predigte auf Tschechisch und wurde zum Begründer der tschechischen Nationalkirche. Sein scharfes Auftreten gegen den Ablasshandel erregte das Missfallen von Papst Johannes XXIII., der ihn zunächst exkommunizierte und 1415 zu einem Konzil nach Konstanz holte. Als Hus dort nicht widerrief, wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Und das, obwohl ihm der deutsche König Sigismund schriftlich freies Geleit zugesichert hatte. Die Kunde von Hus’ Tod sorgte zu Hause für Aufruhr. Er gipfelte darin, dass Jahre später die Prager eine etwas eigentümliche Spezialität für sich erkoren – die Fensterstürze.

Als Erstes erwischte es 1419 die Ratsherren im unmittelbar am Karlsplatz gelegenen Rathaus der Prager Neustadt, was die Hussitenkriege auslöste, die das Land verheerten. 1618 erlagen zwei kaiserliche Statthalter der körperlichen Übermacht mehrerer Ständevertreter und der Schwerkraft; sie plumpsten aus einem Fenster der Prager Burg, blieben zwar unverletzt, eröffneten mit ihrem Sturz aber den Dreißigjährigen Krieg. »Ein Fenster ist für einen echten Prager immer ein allzu verführerisches Argument«, frotzelte der englische Humorist Jerome K. Jerome. »Ich glaube, Prag hätte sich die Hälfte aller Leiden ersparen können, wenn es kleinere Fenster gehabt hätte.«

Ich habe daraus gelernt. Meine Prager Wohnung ist ebenerdig, hat nur zwei große Fenster, die man wie Türen zu Terrasse und Garten öffnen kann. Meine tschechische, mit sudetendeutschen Wurzeln behaftete Katze – Schmidts Katze Mourinka –, von der später in diesem Buch noch die Rede sein wird, geht dort ungestört ein und aus und muss nicht fürchten, dass ich sie aus dem Fenster stürze.

Zurück in die Geschichte: Wallenstein fällt einem beim Stichwort Dreißigjähriger Krieg natürlich ein, der grandiose Heerführer, der dem Kaiser in Wien treu diente, dann aber dessen Misstrauen erregte, des Hochverrats geziehen und im westböhmischen Eger gemeuchelt wurde. Das Wallenstein-Palais liegt direkt unterhalb der Prager Burg und der pittoresken Burggärten, die mit finanzieller Hilfe des kunstsinnigen britischen Thronfolgers Prinz Charles wieder instand gesetzt worden sind.