Cover

Sarah Fischer / Shirley Michaela Seul

Heimatroulette

Durch 160 Länder zu mir selbst

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sarah Fischer / Shirley Michaela Seul

Sarah Fischer, geboren 1972, ist seit vielen Jahren begeisterte Wahlmünchnerin. Das Reisen hat sie mittlerweile zu ihrem Beruf gemacht: Sie arbeitet als Fotojournalistin und füllt mit ihren Vorträgen Hallen in ganz Deutschland. Einmal im Jahr verbringt sie so viel Zeit wie möglich in der Mongolei bei einer befreundeten Nomadenfamilie und ihrem geliebten Steppenpferd.

Shirley Michaela Seul, ist eine erfolgreiche Belletristik- und Sachbuchautorin. Sie lebt im Fünfseenland bei München.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Bildnachweis: Abb. 1 -13: Privatarchiv Sarah Fischer; Abb. 14: Emotion / Urban Zintel / Stephanie Fuessenich

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic ®, München

ISBN 978-3-426-41330-2

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Für meine Eltern

Brigitte und Andreas

Prolog

Ätsch, bätsch, das ist nicht deine Mama!«

Ich war vier Jahre alt, und wie jedes Kind wünschte ich mir, so zu sein wie alle. Dazuzugehören.

»Chinese, Chinese!«

Der dicke Junge aus dem Nachbarhaus war, wenn er Glück hatte, eine dicke Nudel. Wenn er Pech hatte: ein Fettsack. Er konnte abnehmen. Aber ich konnte mir die Haut nicht vom Körper schälen.

»Deine Mama sieht ganz anders aus als du, ätsch, bätsch!«

Meine Mama war die schönste Mama der Welt. Ihre Augen waren blau und ihre Haare blond. Meine Augen waren dunkel und meine Haare auch. Und dann war da noch etwas mit meinen Augen. Sie waren Schlitze. Niemand von den anderen Kindern hatte Schlitze, keine Mama und kein Papa meiner Spielkameraden. Die Schlitze gingen nicht weg. Egal, wie ich zog und bog. Meine Augen wurden nicht rund wie die der anderen.

»Hey, Schlitzi, kannst du überhaupt was sehen?«

»Deine Mama ist gar nicht deine Mama, ätsch, bätsch!«

»Mutti, bist du meine echte Mama?«, fragte ich zu Hause verunsichert nach.

»Wir haben dir doch mal die Geschichte erzählt von deinen zwei Mamas«, erinnerten meine Eltern mich. »Es gibt noch eine andere Mama, die sieht aus wie du«, erklärte meine Mutter – die einzige, die ich kannte. Die immer da gewesen war, von Anfang an.

»Ätsch, bätsch, ich hab zwei Mamas!«, sagte ich zu den anderen.

Aber war meine blonde Mama mit den blauen Augen die richtige?

»Ja. Vom Herzen bin ich ganz und gar deine Mama.«

 

Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Das genügte mir. Meine Eltern waren meine Eltern, auch wenn sie anders aussahen als ich. Das war mir meistens egal. Nur hin und wieder beklagte ich mich bei ihnen über die Gemeinheit mancher Spielkameraden. Mein Vater, der meine Entwicklung vom Säugling zum Teenager stolz und glücklich filmte, bewahrt in seinem Archiv einige solcher Szenen auf, in denen ich wütend bin, weil die Hänseleien kein Ende nehmen. Doch es gibt viel mehr »normale« Bilder.

Genau so sollte es sein: normal. Wer normal ist, fällt nicht auf, gehört dazu. Auf den ersten Blick war in unserer Familie alles normal. Mama, Papa, Kind. Die Mutter Hausfrau, der Vater Lehrer. Ihre Liebe, tief und innig, war niemals zerbrochen an dem Kinderwunsch, der sich nicht erfüllen wollte. Sich nicht erfüllen konnte, wie sie eines Tages erfuhren, zumindest nicht so, wie geplant. Ein, zwei Jahre lang bewiesen meine Eltern den entsprechenden Ämtern, dass sie fähig waren, ein Kind großzuziehen. Sie kehrten ihr Innerstes nach außen, wurden befragt, legten ihre Finanzen offen und Prüfungen ab. Und warteten.

Kurz vor Weihnachten 1972 dann der Anruf vom Kreisjugendamt Tuttlingen. »Wir haben zwar schon ein Kind für Sie vorgesehen, aber jetzt hat sich ein außerplanmäßiger Fall ereignet. Eine Frau hat sich bei uns gemeldet, die ihr Kind abgeben möchte. Es ist zehn Tage alt. Würden Sie prinzipiell auch ein ausländisches Kind nehmen?«

»Selbstverständlich!«

Sie fragten nicht, was Ausland bedeutete. Fragten nicht nach Hautfarbe oder Augenform. Waren überglücklich. »Unser schönstes Weihnachtsgeschenk im ganzen Leben«, wie sie sich später erinnerten.

Ich. Fünfzig Zentimeter und fünf Pfund. Drei Wochen, braune Augen, ein paar feine dunkle Härchen auf dem Kopf.

 

Name und Geburtsdatum der leiblichen Mutter bekannt.

Vater unbekannt.

Nationalität der Eltern unbekannt.

Das verlorene Gesicht

Irland, Frankreich, Polen, Spanien, Marokko, Portugal, Australien

Bis zu meinem 13. Lebensjahr hätte ich sehr viel dafür gegeben, so auszusehen wie die meisten um mich herum. Denn mein Aussehen machte mich zum Opfer gedankenloser und oft auch gemeiner Bemerkungen und Spottlieder. Es-ki-mo, Es-ki-mo! Ihr fre-hesst Schuh-soh-len!

War das so? Keine Ahnung. Mit meinen Eltern verreiste ich zwar viel, allerdings nicht zu den Eskimos, sondern nach Frankreich, Polen, Italien, Dänemark, Spanien und Irland. Und wir fuhren oft mit dem Fahrrad durch Deutschland.

 

Tsching-Tschang-Tschong war mein meistgehasster »Kosename«: Der traf mich mitten ins Herz. Ich wollte so sein wie alle anderen. Ich wollte dazugehören. Und konnte es nie, weil man mir auf den ersten Blick ansah, dass ich … anders war? Nein, das stimmte doch gar nicht. Ich war eine Deutsche! Ich sprach deutsch, aß deutsch, fühlte deutsch, so weit das möglich ist. Aber ich sah anders aus. Diesen Makel versuchte ich damit zu kaschieren, dass ich alles kategorisch ablehnte, was auch nur im Entferntesten im Verdacht stand, asiatisch zu sein. Asiatisch war unangenehm für mich. Schlecht. Ein Schimpfwort eben. Damit wollte ich nichts zu tun haben. Als einige Jahre später in meinen Cliquen asiatisches Essen angesagt war und man öfter mal zum Thailänder, Vietnamesen oder Chinesen ging, wollte ich nicht mit. »Lasst uns lieber woanders hingehen«, schlug ich vor, und konnte ich mich einmal nicht durchsetzen, bestellte ich beim Asiaten Pizza oder Spaghetti, und wenn das nicht auf der Speisekarte stand, etwas Neutrales wie Nudelsuppe. Bis heute schmeckt mir asiatisches Essen nicht. Ich liebe die bayerische Küche und bin mir sicher, dass das keine Protesthaltung ist, sondern reine Geschmackssache!

Als Kind wehrte ich mich nie gegen Bemerkungen über mein Aussehen, die für mich Angriffen gleichkamen. Ich schlug nicht zurück; ich wurde traurig. Zur Gegenwehr war ich wohl zu schüchtern. Meine Eltern erzählten mir, dass ich ein sehr ängstliches Kind war. Sobald etwas Neues auftauchte, sagte ich: »Lieber nicht.« Ob Karussell fahren oder an einen fremden Ort, ob reiten oder einen Hund streicheln: »Lieber nicht!«

Es ist mir selbst ein Rätsel, wie ich mich aus dieser Ängstlichkeit heraus zu einer solchen Abenteurerin entpuppen konnte, die mittlerweile 160 Länder bereist und dort nicht in First-class-Hotels, sondern zum Teil sehr karg gelebt hat. Mich zieht es zu den Einheimischen. Ich will wissen, wer die Menschen sind und wie sie leben. Unterwegs habe ich eine Reihe auch gefährlicher Situationen gemeistert. Auf der Überfahrt von Italien nach Sri Lanka geriet unser Schiff in die Ausläufer eines Taifuns; wir schöpften Wasser aus dem Rumpf, um nicht abzusaufen. In Madagaskar verdurstete ich fast, wie es sich dem deutschen Liedgut entsprechend gehört. Auf den Philippinen geriet ich zu Füßen des Vulkans Pinatubo in Treibsand und wurde in letzter Sekunde gerettet. Ich arbeitete auf Trawlern und in Fischfabriken, als Erntehelferin und in einem Männerwohnheim. Oft hatte ich Hunger und Durst. Ich lernte, damit umzugehen. Ich glaube, dass man sich selbst erst in Extremsituationen wirklich kennenlernt. Da gibt es einiges zu entdecken. Und vor allem: Menschen!

Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich nicht Länder gesammelt, sondern Menschen. Wie den 79-jährigen Obdachlosen, mit dem ich durch Alaska reiste. Er sprach acht Sprachen fließend und lebte »normalerweise« unter einer Brücke in San Francisco. Oder den Yanomami-Indianer, mit dem ich in einem selbstgebauten Einbaum von Brasilien nach Peru paddelte. Heute erkläre ich mir den Umschwung von der Scheuen zur Abenteurerin damit, dass meine Neugier eines Tages größer war als meine Angst.

 

Trotz meiner Schüchternheit fand ich als Kind schnell Freunde. Wenn ich nicht gerade auf meine Schlitzaugen angesprochen wurde, war ich ziemlich fidel. Meine Eltern zeigten mir und ließen mich spüren, wie glücklich sie mit mir waren. An Liebe mangelte es mir nie.

Und an Jungs auf einmal auch nicht. Ab meinem 14. Lebensjahr erkannte ich, dass es auch Vorteile brachte, anders auszusehen. Bei den Jungs stand ich hoch im Kurs. Die fanden genau das toll an mir, was all die Jahre zuvor den Spott hervorgelockt hatte. Sarah ist anders. Die sieht interessant aus. Und der schöne Bronzeton ihrer Haut! Auch deutsche Eigenschaften konnte ich vorweisen. Im damaligen Boris-Becker-Steffi-Graf-Hype, wo man mit gepfefferten Aufschlägen punktete, spielte ich im Tennisclub der Schule vorne mit. Modisch war ich stets up to date. Ich kreierte meinen eigenen Style und galt in meiner Klasse als Trendsetterin. Selbstverständlich hatte ich mir eine Schminktechnik angeeignet, die meine Augen runder und größer erscheinen ließ.

Tsching-Tschang-Tschong schlägt ein Ass

Daniel ging in die Parallelklasse und verbrachte seine Freizeit wie ich zum größten Teil auf dem Tennisplatz. Er spielte nicht nur göttlich, er sah auch so aus. Ich hatte mich schon von weitem in diesen großen, blonden, blauäugigen Jungen verliebt, und es wurde immer schlimmer, was ich mir natürlich nicht anmerken ließ. Ich malte seinen Namen in meine Hefte, träumte nachts von ihm, und tagsüber stellte ich mir vor, was wäre, wenn.

Daniels Vater war ein bekannter Schriftsteller, das machte ihn noch interessanter. Im Gegensatz zu mir wurde Daniel sehr frei erzogen. Meine Eltern waren streng. Punkt 22 Uhr musste ich zu Hause sein. War ich auch. Aber ich hatte mir die knarzenden Problemzonen auf unserer Holztreppe eingeprägt und konnte so das Haus unbemerkt verlassen, ohne diese »Alarmanlage« zu aktivieren.

 

Eines Samstagabends in der Rollerdisco, von der mich mein Vater meistens um 21.50 Uhr abholte, fragte Daniel mich: »Willst du mit mir gehen?«

»Ja«, sagte ich cool. Mehr hätte ich gar nicht herausgebracht, schließlich war ich einer Ohnmacht nahe.

»Okay«, sagte er.

Wir besiegelten unsere Verbindung mit einem schnellen, verlegenen Kuss. In einem Hauch von Waschmittel, sauber und frisch, der Daniel meistens umgab, schwebte ich auf Wolke sieben. Tief füllte ich meine Lungen mit diesem berauschenden Duft. Später erfuhr ich, dass Daniel überzeugt davon war, ich hätte sein Herz schlagen hören, so aufgeregt war er.

Mein erster Freund war sehr begehrt bei den Mädchen. Er sah nicht nur super aus, er zog sich auch cool an, meistens steckte er in Surferklamotten und Diesel-Jeans. Dass er kein Surfer war, störte niemanden. Hauptsache, das Outfit passte. Ich wechselte meinen Style, kehrte den Wavern mit ihren schwarzen Klamotten und spitzen Schuhen den Rücken und orientierte mich nun eher sportlich. Auch die Frisur änderte ich und verzichtete auf meine steif gesprühten Haare.

Meine Eltern fanden Daniel so sympathisch, dass sie mir erlaubten, in den Sommerferien allein mit ihm nach Korsika zu reisen, obwohl ich erst 15 war. Vielleicht leisteten Daniels antiautoritäre Eltern hier ein wenig Entwicklungshilfe; unsere Eltern bezahlten letztlich gemeinsam die Miete für das schöne Ferienhaus, in dem wir vier Wochen lang wie ein Königspaar in Frankreich residierten. Klar schmusten wir viel, und wir fläzten am Strand und schlugen uns die Bäuche voll mit Fastfood und Baguette und Melonen. Zum Kochen hatten wir keine Zeit. Wir waren wie besessen von Monopoly und spielten eine Runde nach der anderen. Das mache ich heute noch gern!

In Daniels Gegenwart fühlte ich mich rundum wundervoll. Er stärkte mein Selbstbewusstsein und ließ mich ständig spüren und hören und wissen, dass ich die Tollste und Schönste für ihn war. Das sog ich tief in mich ein. Die letzten Reste der Bedrückung aus meiner Kindheit wichen. Ich musste mich nicht schämen, weil ich anders war. Mit mir stimmte alles. Ich war richtig, genau so, wie ich war. Ich verlor viele Ängste in dieser Liebe und bin heute noch unendlich dankbar, ein solches Glück erlebt zu haben mit meinem ersten Freund. Ich glaube, dass erste Beziehungen eine prägende Wirkung auf spätere haben. Da Daniel mich so sehr wertschätzte, bestätigte und anerkannte, konnte ich auch einen Charakterzug entwickeln, von dem ich heute glaube, dass er einfach zu mir gehört: Ich bin zuweilen dominant. Wenn ich weiß, was ich will, sage ich das auch. Ich ordne mich nicht gern unter. Daniel hatte damit kein Problem. Ich gab die Richtung vor, er passte sich an. Deshalb fiel ich aus allen Wolken, als Daniel sich überraschend von mir trennte. Doch es war nicht ganz so schlimm, wie befürchtet, denn in der Zwischenzeit war ich 17 Jahre alt, und mein Austauschschülerjahr in Australien stand bevor. Außerdem hatte ich eine beste Freundin. Gegen Liebeskummer gibt es kein wirkungsvolleres Heilmittel als eine beste Freundin, mit der man um ihn trauern und ihn verfluchen kann, alles gleichzeitig. Und natürlich die Welt entdecken!

Die Mädchen und der Teppichhändler

Vielleicht waren meine Eltern noch immer beeindruckt von Daniels Erziehungsberechtigten, die ihrem Sohn überhaupt keine Vorschriften machten: Sie erlaubten mir Interrail, da war ich 16. Vielleicht waren sie auch einfach klug genug zu begreifen, dass sie mich nicht würden halten können, und so ließen sie mich ziehen und zitterten heimlich um mich, wie sie mir im Nachhinein anvertrauten. Für ihren Mut und das Vertrauen in mich bin ich ihnen sehr dankbar. Hätten sie an mir gezweifelt, wäre ich schwächer und ängstlich geworden. Ihr Vertrauen schenkte mir Kraft … die ich damals nicht zu brauchen glaubte. Die Eltern meiner besten Freundin Birke gestatteten Interrail unter der Bedingung, dass wir nach Skandinavien reisten. Dort wähnten sie uns sicher, vor allem Birke, eine echte Blondine mit zartem Teint und strahlend blauen Augen. Doch der Norden interessierte uns nicht. Wir wollten in den Süden. Nach Marokko. Von dort rief Birke ihre Eltern an. Die waren außer sich, weil wir Norden mit Süden verwechselt hatten, und beruhigten sich auch nicht, als Birke von den total süßen Jungs erzählte, die wir unterwegs kennengelernt hatten und die uns als Leibgarde dienten, damit wir nicht geklaut und in einen Teppich gerollt wurden. Was wir witzig fanden, war gar nicht so ungefährlich, wie wir eines Tages in einem Teppichgeschäft zu spüren bekamen, als wir in unsere einzige gefährliche Situation auf der Reise gerieten. Der Händler bestand darauf, dass wir einen Teppich kauften, versperrte sogar die Tür seines Ladens und bedrohte uns. Ich rettete uns, indem ich Birke an der Hand durch eine Hintertür nach draußen zog.

Während der Interrail-Zeit erlebte ich mich als selbstbewusste junge Frau und erkannte, wie wichtig Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen sind. Im Ausland spielte mein fremdartiges Aussehen auf einmal keine Rolle mehr. Aber die Ziele fielen mir nicht in den Schoß, ich musste aktiv werden, um sie zu erreichen. Hin und wieder trafen wir unselbständige Backpacker, die wochenlang am gleichen Ort herumhingen, weil sie nichts auf die Reihe kriegten. So waren Birke und ich nicht. »Dreamteam« lobten wir uns. An Daniel dachte ich nur selten. Es gab ja ständig und überall so viel Neues. Und außerdem hatte ich von Jungs erst mal genug. Die Marokkaner nahmen Birke und mich nicht ernst. Sie reagierten kaum, wenn wir etwas zu ihnen sagten. Gut, dass wir unsere Leibgarde beauftragen konnten, den Marokkanern mitzuteilen, was wir wollten. Die zwei Jungs gaben unsere Wünsche weiter, und von männlich zu männlich klappte die Kommunikation.

Auch wenn mich das Verhalten von Männern Frauen gegenüber irritierte und mich die Rolle der Frauen in Marokko oftmals wütend und traurig machte, fühlte ich mich sehr wohl in diesem ersten islamischen Land, das ich bereiste. Alles war so anders … exotisch. Und wie es da schmeckte! Das warme Fladenbrot mit Sesam, Auberginenmus, der aromatische Pfefferminztee und überhaupt: die Vielfalt der Gewürze. Nie zuvor hatte ich Safran gesehen. Hier wurde er in Säcken auf dem Markt gehandelt. Ich liebte es, über die Souks zu streifen, und war beeindruckt von den Cannabisplantagen im Atlas- und Rifgebirge, wo wir zwei Wochen verbrachten. Tausendundeine Nacht war kein Märchen! Sogar Kamele liefen durch die Städte, und auf dem Land waren sie prächtig geschmückt; stolze Berber führten sie an bunten Leinen.

 

Leider wurden wir gegen Ende der Reise krank. Ein heftiger Durchfall packte uns, vielleicht, weil wir unsere Spaghetti mit Meerwasser gekocht hatten. Wie immer kannten wir kein Maß: Zu zweit verdrückten wir innerhalb einer Stunde eine ganze Schachtel Kohletabletten. Je mehr, desto schneller hilft es, dachten wir. Denkste! In unserer Not griffen wir zu Immodium, und dann ging gar nichts mehr. Nach einigen Tagen konnten wir uns die Verstopfung an unseren gelblich verfärbten Augen ablesen. Birke und ich lachten uns schief und krumm und fanden uns insgesamt total cool. Und stolz waren wir obendrein. Wir waren nicht in Europa geblieben, wir hatten uns nach Afrika gewagt! Und bei mir stand schon der nächste Kontinent auf dem Programm.

Au-pair in Australien

Eigentlich wollte ich 1990 wie meine Freundin Claudia nach Puerto Rico, um Spanisch zu lernen. Doch in diesem Jahr nahm die Vermittlungsagentur, bei der ich mich angemeldet hatte, Puerto Rico aus dem Programm. Meine Enttäuschung war groß, bis meine Eltern mir Australien schmackhaft machten. Hier konnte ich bei ihrer Freundin Deborah in Sydney wohnen, was meine Mutter und meinen Vater in Sicherheit wog. Rückblickend glaube ich, dass sie während und auch noch eine Weile nach meiner Pubertät wenig zu lachen hatten. Ich war launisch, ungerecht und manchmal richtig gemein zu ihnen. Wie in den meisten Adoptivfamilien fiel auch bei uns der unschöne Satz: »Ihr habt mir nichts zu sagen, ihr seid nicht meine Eltern.«

Meine klugen Eltern überhörten so etwas geflissentlich.

 

Deborah war zehn Jahre älter als ich und wohnte in einer Künstler- und Schwulen-WG. Cool! Jeden Abend Party! Und was da für Leute auftauchten! So was hatte ich in Freiburg noch nicht gesehen.

Deborahs Lover war ein Rastafari, mit ihm besuchte sie unzählige Reggae-Konzerte, und klar musste ich da mit. Sie trug schließlich die Verantwortung. Deborah gab sich wirklich Mühe, jeden Tag kontrollierte sie meine Hausaufgaben, doch sie konnte es nicht verhindern, dass ich auch mal kiffte, denn das machten nun mal alle in ihrem Umfeld. Und natürlich wollte ich mit auf die Partys – und schlief dann in der Schule regelmäßig ein. Aber Unterricht interessierte mich ohnehin nicht, ich wollte einfach nur feiern. Und am liebsten wäre ich durch ganz Australien gereist, wenn ich schon mal da war.

»So geht das nicht weiter«, meldete sich der Schuldirektor eines Tages bei Deborah, und leider sah sie das genauso. Ich musste mich fügen und zog als Au-pair zu einer Familie in Deborahs Nähe. Dort fühlte ich mich schrecklich allein.

 

In Australien herrschte zu dieser Zeit eine feindliche Stimmung gegen Asiaten, da gutsituierte asiatische Eltern ihre Kinder zu Studium und Ausbildung dorthin schickten. Nicht alle kehrten zurück nach Asien, und diejenigen, die blieben, schnappten den Australiern, wie manche meinten, die guten Jobs weg, denn sie waren diszipliniert, motiviert und lernten rund um die Uhr. In meiner Klasse gab es ein halbes Dutzend Asiaten, die diesem Bild entsprachen. Mit ihnen wollte ich nichts zu tun haben. Ich war Deutsche. Ich machte gern Party. Doch ich sah eben nicht deutsch aus und wurde mit den anderen Asiaten in einen Wok geworfen. Da half es mir nichts, mich in der Schule von ihnen fernzuhalten. Ich sah aus wie eine Asiatin, also musste ich eine sein. Bestimmt hatte ich reiche Eltern und würde nach dem Abitur in Australien bleiben und den Einheimischen etwas wegnehmen. Das ist so. Das liegt in meiner Mentalität. Weil ich Asiatin bin.

 

Was ist das eigentlich, eine Mentalität? Was fällt mir zur deutschen Mentalität ein? Pünktlich, ordentlich, zuverlässig, strebsam. Bin ich das? Und was hat es mit den innerdeutschen Unterschieden auf sich? Die bodenständigen Oberbayern, gastfreundlichen Saarländer, freundlichen Badener, zupackenden Brandenburger, coolen Berliner, die liberalen Hamburger, treuen Westfalen, humorvollen Sauerländer, lockeren Rheinländer.

Passen die alle in ihre Schublade?

Asiaten sind unterwürfig. Das Schlimmste, was einem Asiaten passieren kann: sein Gesicht zu verlieren. Zeige nie deine Emotionen. Sei nett zu jedermann.

Bin ich nicht. Also bin ich keine Asiatin? Und wenn ich so aussehe? Und mich nicht unterwürfig benehme? Das ist aber eine komische Asiatin! Die verliert ihr Gesicht. Und es macht ihr noch nicht mal was aus!

 

Nach drei Monaten durfte ich endlich zurück zu Deborah, und die Party ging weiter. Das australische Abi schaffte ich trotzdem, was im Übrigen kein Kunststück ist und mir nicht wirklich weiterhalf, weil ich im Anschluss noch das deutsche bestehen musste. Cool fand ich es, die australische Drivers License schon mit 17 zu machen. Zu dieser Zeit gab es den Führerschein in Deutschland erst mit 18.

 

Drei Jahre später, mit 20, fanden Daniel und ich wieder zusammen. Was als freundschaftlicher Urlaub in Dänemark begann, mündete zum zweiten Mal in eine Liebesgeschichte. Diesmal dauerte sie jedoch nur ein Jahr. Aufgewärmtes schmeckt halt nicht. Und außerdem hatte ich Großes vor. Eine viertel Weltumsegelung!

Unter falscher Flagge