Cover

Dieter Bindig / Shirley Michaela Seul

Der Verhörspezialist

Ein Kommissar verrät seine Strategien

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Dieter Bindig / Shirley Michaela Seul

Dieter Bindig, geboren 1963, ist seit über dreißig Jahren Polizeibeamter und arbeitet als Kriminalhauptkommissar im K1 – zuständig für Brand-, Sitten- und Tötungsdelikte. Sein Spezialgebiet sind Verhöre, hierfür wurde er in Zusatzausbildungen zu Vernehmungstaktiken und Menschenkenntnis besonders geschult. Dieter Bindig ist verheiratet und Vater von drei Töchtern. Er lebt in Fürstenfeldbruck.

Shirley Michaela Seul ist eine erfolgreiche Belletristik- und Sachbuchautorin. Sie lebt im Fünfseenland bei München.

http://www.shirleyseul.de

Über dieses Buch

Ihm macht so schnell keiner etwas vor: Dieter Bindig ist Kriminalhauptkommissar und seit über dreißig Jahren Verbrechern auf der Spur. Seine Aufgabe ist es, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Denn Dieter Bindig ist ausgebildeter Vernehmungsspezialist und erkennt, ob jemand die Wahrheit sagt oder wichtige Informationen verschweigt. In diesem Buch berichtet er von seinen spannendsten Fällen – von dreisten Tätern, vermeintlich verängstigten Opfern und davon, dass häufig nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Eine Anleitung vom Profi in Sachen Menschenkenntnis und ein spannender Einblick in die Verhörstrategien der Polizei.

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Julia Gschwilm

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Gettyimages/Peter Muller

ISBN 978-3-426-41833-8

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Für die Kollegen von -S- und -K-

Lüge auf den ersten Blick

Eigentlich wissen Sie schon alles. Sie wissen nur nicht, dass Sie es wissen.

Jeder Mensch lernt im täglichen Umgang, sein Gegenüber einzuschätzen. Der erste Kontakt, der erste Blick, die ersten Sekunden und Minuten entscheiden über Sympathie oder Antipathie. »Den mochte ich auf Anhieb«, stellen wir fest – oder eben: »Der war mir unsympathisch.« Und dabei bleibt es dann meistens. Die einmal getroffene Einordnung wird nicht mehr überprüft, und schon gar nicht revidiert.

Was aber, wenn wir uns getäuscht haben?

Wenn der Sympathieträger uns gar nicht so wohlgesinnt ist, wie wir annehmen, wenn der vermeintliche »Unsympath« ein selten netter Mensch ist … auf den zweiten Blick? Was entgeht uns, wenn wir auf diesen zweiten Blick verzichten – und wo fallen wir herein, weil wir den ersten Eindruck nicht überprüfen? Viele Menschen verwechseln Vorurteile mit Menschenkenntnis.

 

Wie schätzen wir andere ein?

Es geschieht unbewusst. Allein das Ergebnis ist uns bewusst: Anziehung oder Ablehnung. Aufgrund dieser Einteilung be-urteilen wir andere. Wer dazu beiträgt, dass andere Menschen ver-urteilt werden – womöglich zu einer Haftstrafe –, muss besonders vorsichtig sein mit seinen Einteilungen. Schon von Berufs wegen ist es seine Aufgabe, die Wahrheit zu finden. Hilfreich dabei: die bestmögliche Menschenkenntnis, um Lügen zu entlarven.

 

Gelegentlich werde ich gefragt: »Wie schaffen Sie es, Mördern und Kinderschändern gegenüberzusitzen und dabei sachlich zu bleiben?«

»Mit einer professionellen Haltung und meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Polizist«, fasse ich zusammen, wovon dieses Buch handelt.

 

Auf den folgenden Seiten lade ich Sie ein, meinen Alltag als Kriminalhauptkommissar mit mir zu teilen. Gemeinsam werden wir einige Fälle erleben. Wir werden Vernehmungen von Verdächtigen und Zeugen durchführen, und ich werde Sie mit polizeipsychologischen Taktiken vertraut machen, die Sie auch in Ihrem Alltag erfolgreich anwenden können. Manche Vernehmungsprotokolle füllen mehrere Aktenordner – sie haben Stunden und Tage gedauert. Gute Lügner brauchen Kondition, und manche Sachverhalte sind sehr komplex. Sollten Sie zwischendurch mal Hunger haben, können Sie uns gern eine Pizza holen. Aber keine Sorge: Ich werde Sie nur mit den entscheidenden Fakten, den Höhepunkten der Polizeiarbeit »unterhalten«.

Die geschilderten Fälle sind nicht genau so passiert. Doch sie hätten genau so passieren können.

 

Sie benötigen Ihre Menschenkenntnis bislang hoffentlich nur, um Ihre Nachbarn, Kollegen, Kinder oder Partner besser einzuschätzen. Oder auch mal einen »Wildfremden«. Ein geschulter Polizeiblick ist eine Art Abkürzung – und bewahrt vor so manchem Fehlurteil. Gerne gewähre ich Ihnen Zugang zu den Gedanken, die ich auf meiner kopfeigenen Festplatte speichere. Das wird Ihre Aufmerksamkeit schulen; Sie können Ihre Umgebung aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachten und werden einige Überraschungen erleben!

Im Anschluss an die Vernehmungen werden wir die Aussagen gemeinsam auswerten. Das Protokollieren übernehme ich für Sie.

 

Bei der Polizei werden jüngeren Kollegen sogenannte Bärentreiber zugeteilt, wie die erfahrenen Kollegen im Polizeijargon heißen. Sie begleiten die jungen Kollegen über einen längeren Zeitraum in einer Art Feinabstimmung. Als Bärentreiber kann ich für Sie nicht fungieren. Aber Praktikanten haben wir auch bei der Polizei, intern werden sie Rollierer genannt. Im Rahmen ihrer Ausbildung lernen sie verschiedene Dienststellen kennen.

 

Die bayerische Kripo ist, ähnlich wie die Polizei in ganz Deutschland, in neun Kommissariate eingeteilt:

K1 Tötungsdelikte, Sittendelikte, Branddelikte

K2 Raubdelikte

K3 Wirtschaftsdelikte

K4 Betäubungsmitteldelikte

K5 Staatsschutz

K6 Besondere Aufgaben

K7 Spurensicherung

K8 Kriminaldauerdienst

K9 Schwerpunktaufgaben

Wir befinden uns in diesem Buch hauptsächlich im K1, wo ich heute tätig bin. Begonnen habe ich meine Laufbahn im Streifendienst. Ich habe in meinem Leben übrigens nur eine einzige Bewerbung geschrieben, denn ich wusste schon als kleiner Junge, was ich mal werden will, wenn ich groß bin. Groß ist die Liebe zu meinem Beruf bis heute geblieben. Polizist ist nach wie vor mein Traumberuf. Seit einigen Jahren bin ich auch als Ausbilder im Fach Vernehmungstaktiken/Vernehmungspsychologie tätig; hier spielt die Menschenkenntnis die Hauptrolle. Die ist einem nicht in die Wiege gelegt. Man kann sie lernen und immer besser werden.

 

Ich selbst bin als junger Beamter bei einer Fahrzeugkontrolle einmal nach allen Regeln der Kunst getäuscht worden. Das spornte mich an, herauszufinden: Woran erkenne ich, ob Menschen lügen? Wie kann ich sie von der Wahrheit überzeugen? Was sind ihre Motive, zu lügen? Und wie kann ich selbst dafür sorgen, dass ich mich nicht hinters Licht führen lasse – ohne andere Menschen vorzuverurteilen? So wurde ich zum Spezialisten. Einen Teil meines Wissens werde ich auf den folgenden Seiten an Sie weitergeben. Auf eine gute Zusammenarbeit!

Auch himmelblaue Augen können lügen

Als Polizeihauptwachtmeister war ich erst seit einigen Wochen auf dieser Inspektion im westlichen Speckgürtel Münchens im Einsatz. Mit meinem Bärentreiber Stefan hatte ich Glück gehabt. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, und ich hatte schon viel von diesem erfahrenen Kollegen gelernt, auch wenn er nur zehn Jahre älter war als ich. In zehn Jahren Schichtdienst auf der Straße erfährt jeder Polizist eine Menge – über sich selbst und andere. Stefan gab mir sein Wissen gerne weiter. Als Neuling amüsierte ich mich noch prächtig über die Wirkung unseres Streifenwagens auf das Verkehrsgeschehen. Es kam mir vor, als könnte ich die Gedanken der Verkehrsteilnehmer lesen. Zuerst einmal bremste unser Erscheinen das Tempo. Sobald man uns entdeckte, leuchteten die Bremslichter auf, sogar wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht erreicht worden war. Ein gewisses Unwohlsein waberte aus den Fahrerkabinen. Mir gefiel das. Einige Monate später würde es mich nerven, denn wenn man zügig vorankommen will, wird man nicht gern ausgebremst von Autofahrern, die alles richtig machen wollen und dabei den Verkehrsfluss blockieren. Auch man selbst steht unter strenger Beobachtung. Falls ein Beamter im Polizeiauto beim Abbiegen nicht blinkt, werden die Gedanken der dahinter Fahrenden förmlich sichtbar: Was bedeutet das? Zwei Möglichkeiten der Reaktion sind typisch. Die einen blinken umso dringlicher, gerade, dass sie das Warnblinklicht nicht einschalten, um zu zeigen, dass sie die besseren Verkehrspolizisten sind, die anderen unterlassen es voller Genugtuung: Wenn die Polizei sich das erlaubt, kann ich das auch!

 

Fast alle Verkehrsteilnehmer verwandeln sich durch das Auftauchen eines Streifenwagens in Fahrlehrer und überprüfen Tacho, Abstand und Situation im Rückspiegel. In meinem privaten Wagen benehme ich mich genauso, wenn ich Kollegen in Uniform hinter mir entdecke. Diejenigen, die anders reagieren, fallen auf. Hier gibt es wieder zwei Möglichkeiten: Entweder sie haben den Streifenwagen nicht gesehen, oder sie wollen zeigen, dass sie unabhängig sind. Dem können wir ganz schnell einen Riegel vorschieben: Mit der roten Kelle. Wenn die Leute wüssten, wie viele Zivilfahrzeuge darüber hinaus noch unterwegs sind, würden sie staunen. Aber sie fallen ja nicht auf, fließen gut getarnt und angepasst im Verkehr mit und halten sich an die Regeln, bremsen bei Rot und blinken beim Abbiegen, meistens. Von außen sieht keiner das Blaulicht unterm Sitz.

 

Der Wagen, den Stefan an diesem Vormittag für uns zur Kontrolle aussuchte, war ein unauffälliger Verkehrsteilnehmer: ein roter VW Polo. Das Auto und die Uhrzeit sprachen für eine Hausfrau. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass Polizisten Hausfrauen lieben, aber Tatsache ist, dass eine Hausfrau im Normalfall keine Waffe unter der Zeitung auf dem Beifahrersitz versteckt hält. Will sagen: Eine Hausfrauenkontrolle ist angenehm. Noch wussten wir nicht, wer in dem roten Polo saß, ein Mercedes nahm uns die Sicht.

Fahren ohne Auftrag wird Präventionsstreife genannt. Früher alltäglich, kommt es heute nur noch selten vor. Die Verkehrsdichte ist höher, es gibt im Verhältnis dazu weniger Personal und mehr Einsätze aufgrund von Ruhestörung, Streitigkeiten, Randalierern, Betrunkenen, Verkehrsunfällen, Unterstützung für Krankeneinsätze mit Hubschrauberlandungen, Alarmen und Fehlalarmen und vielem mehr. Es ist einiges geboten auf der Straße, und wer Streife fährt, hat ein abwechslungsreiches Berufsleben.

 

Hätte es an diesem Tag doch bloß geregnet! Dann hätten wir wahrscheinlich keine Kontrolle durchgeführt oder sie sehr kurz gehalten. … Aber dann wäre mir auch eine entscheidende Erfahrung entgangen!

Als wir die Fahrerin in dem roten Polo deutlich erkennen konnten, wechselten Stefan und ich gut gelaunt einen Blick. Eine Frau, noch dazu eine hübsche. Bingo! An einer Frau konnte ich gut lernen – dies war schließlich erst meine dritte Kontrolle, die ich mit Stefans Beistand allein durchführen würde. Deshalb war diese Anhaltung für mich auch relativ aufregend. Bei einer Kontrolle spricht man vorher ab, wer kontrolliert und wer sichert. Der Kollege, der sichert, bleibt im Hintergrund. Man weiß ja nie, mit wem man es zu tun hat, man sucht sich meistens ein Auto, keine Person aus. Gut, ein roter Polo am Vormittag sprach für eine Hausfrau und Mutter auf dem Weg zum Einkaufen. Doch darauf kann man sich nicht verlassen. Es könnte auch ein bewaffneter übernervöser Drogenkurier am Steuer sitzen.

 

Nachdem wir dem Polo eine Weile gefolgt waren bis wir uns einer geeigneten Stelle zum Anhalten näherten, überholte ich ihn. Stefan kurbelte das Fenster runter und hielt die Kelle raus. Halt! Polizei! Nach der üblichen Schrecksekunde wurde der Pkw langsamer, blinkte und zuckelte in die Bushaltestelle, wo wir die Kontrolle durchzuführen gedachten. Man braucht einen sicheren Platz für solche Aktionen. Manche Kontrollierten steigen sofort aus dem Wagen, achten, weil sie aufgeregt sind, nicht auf den Verkehr – und könnten von anderen Fahrzeugen erfasst und überfahren werden. Deshalb denken die Kollegen, die ein Fahrzeug anhalten, stets für die Fahrer mit. In jedem Revier gibt es bewährte Anhaltestellen, die sich für eine Kontrolle gut eignen. Aber die muss man erst mal ansteuern. Das bedeutet, dass man dem Fahrzeug eine Weile folgt. Da steigt die Nervosität, nicht nur bei denjenigen, die den Streifenwagen im Rückspiegel entdecken. Auch bei den Kollegen. Die Anhaltesituation ist immer gefährlich. Man weiß nicht, wie der Fahrer/die Fahrerin reagieren wird. Hält er/sie an? Oder drückt er/sie aufs Gaspedal? Nicht jede Hausfrau wird ihrem harmlosen Ruf gerecht.

 

An der Busstation parkte der Polo hinter dem Polizeiwagen. Ich setzte meine Mütze auf, stieg aus und ging zur Fahrerseite des Pkw. Die Frau kurbelte die Fensterscheibe runter, während Stefan sich an der Beifahrerseite positionierte und das Verhalten der Dame beobachtete.

»Grüß Gott, Polizei. Allgemeine Verkehrskontrolle. Bitte Ihren Führerschein und Fahrzeugschein«, bat ich.

Die Frau griff zu ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz. Brenzlige Situation. Erhöhte Aufmerksamkeit. Ich wechselte einen Blick mit Stefan. Er signalisierte mir: alles okay. Ein großer Beutel. Frauenhandtaschen. Man kennt das. Sie suchte. Und suchte. Und suchte. Und fand nichts. Was mich nicht wunderte. Aber das durfte natürlich nicht sein. Führerschein und Fahrzeugschein hat die Fahrerin auf Verlangen vorzuzeigen. Die Frau war Mitte dreißig, sehr attraktiv und gepflegt, modisch gekleidet. Das Risiko, dass sie plötzlich einen Derringer aus dem Strumpfband ziehen würde, ging gegen null. Ein Vorurteil? Ja, ein Vorurteil. Sie erfüllte nicht das Klischee der Rauschgiftsüchtigen, der Verbrecherin. Ihr Äußeres ließ sie harmlos erscheinen. Eine riskante Einschätzung? Durchaus. Aber so ist es nun mal. Auf den ersten Blick fiel sie aus meiner Zielgruppe Straftäter. Die Situation entspannte sich für mich.

 

Endlich fingerte Frau Manzinger, so hieß die Dame, den Fahrzeugschein aus ihrer Tasche. Ich nahm ihn entgegen und wartete auf den Führerschein. Immer neue Abgründe, Höhlen und Schluchten schienen sich in ihrer Handtasche auszubeulen. Während sie weitersuchte, machte auch ich mich auf die Suche: Nach Auffälligkeiten am Fahrzeug. Früher war die Reifengröße ein Thema, man benötigte für Breitreifen eine besondere Betriebserlaubnis. Bei meinem Rundgang checkte ich mit geübtem Blick Kennzeichen, TÜV, Profiltiefe der Reifen, Anbauten, Tuning. Alles in Ordnung. Der Polo befand sich in einwandfreiem Zustand. Ich beendete meinen Rundgang vor dem Fenster der Fahrerin. »Haben Sie den Führerschein mittlerweile gefunden?«

Ein sehr blauer Blick traf mich. Dann ein Lächeln. Höchst charmant. »Ich muss ihn daheim haben. In der anderen Handtasche.«

Noch so ein Monster, grinste ich in mich hinein.

»Ich kann ihn gern vorbeibringen. Ich weiß, wo Ihr Revier ist. Beim Edeka, nicht wahr? Gleich gegenüber bei der Sparkasse wohnt meine Freundin. Die besuche ich zweimal in der Woche. Das wäre nicht mal ein Umweg – und dann sehe ich endlich mal eine Polizei von innen.« Sie intensivierte das blaue Funkeln in ihrem Blick, und ich funkelte wahrscheinlich zurück. Nicht ganz so blau und nicht ganz so leuchtend, aber ein bisschen schon. Und es machte Spaß.

Stefan hielt sich raus. Das war meine Kontrolle. Egal, wie ich vorgehen würde, er würde meine Entscheidungen nicht anfechten. Später würde er mir vielleicht Tipps geben, wie ich manches beim nächsten Mal besser machen könnte. Aber nicht während der Kontrolle, sondern unter vier Augen. Ich verbrachte einige spritzige Minuten mit der attraktiven Frau Manzinger, die mir so einiges erzählte, worüber ich fast den Grund unseres Zusammentreffens vergaß. Wir hätten uns genauso gut in einer Diskothek begegnen können. Ich beschloss, die sogenannte Kontrollaufforderung nicht auszufüllen. Dabei handelt es sich um einen Durchschreibesatz, auf dem man die Personalien des Fahrzeugführers notiert und ihn anweist, den Führerschein innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Polizeidienststelle vorzuzeigen. Was ja in diesem Fall gar nicht nötig war, wo doch die Freundin von der Frau Manzinger, die sie zweimal in der Woche besuchte …

»Mindestens!«

… über der Sparkasse wohnte, die sich schräg gegenüber vom Edeka befand, und dahinter war unser Revier. Hätte ich die Kontrollaufforderung ausgefüllt, wäre der Durchschlag in einem speziellen Ordner auf der Inspektion gelandet, bis Frau Manzinger den Führerschein vorgelegt hätte. Würde sie das nicht tun, würde ich bei der Führerscheinstelle nachfragen. So war das damals. Heute wäre die Frage mit einem Blick in den Computer geklärt. Solche Daten sind über Funk abrufbar. Damals ging alles den Papierweg. Und der dauerte.

»Also dann bis die Tage«, verabschiedete sich Frau Manzinger von mir, und ich winkte ihr gut gelaunt nach. Ich hegte keinen Zweifel daran, sie demnächst auf dem Revier zu sehen. Sie hatte sich sogar nach meinen Dienstzeiten erkundigt. Auch Stefan schien davon überzeugt, er sagte nichts, wir fuhren weiter. »Machen wir noch eine«, grinste er. »Aber diesmal kein Hausfrauenauto. Schau mal, da vorne der Audi. Häng dich dran.«

In diesem Moment rief die Einsatzzentrale unseren Wagen über Funk. »Parkplatzrempler beim AEZ. Die Beteiligten warten auf euch.«

Das klang weniger unterhaltsam. Aber immerhin hatte der neue Auftrag die nette Begegnung nicht unterbrochen. Während einer Kontrolle hörten wir per Außenlautsprecher den Funk mit. Ich hatte schnell ein Gehör dafür entwickelt, wann wir gemeint waren: Amper 15/7. Und ich reagierte sofort darauf. Nicht so Frau Manzinger. Sie versetzte mich am nächsten Tag und in der nächsten Schicht. Im alltäglichen Trubel vergaß ich sie. Ich maß dem Ganzen ohnehin keine große Bedeutung zu. Es war eine nette Begegnung und Punkt. Unangenehme Kontrollen prägt man sich ein, die können einem richtig lange nachgehen. Aber so ein Geplänkel, das hat keine Haltbarkeit. Sonst hätte ich vielleicht bei der Führerscheinstelle angerufen, mich mit dem monatlich wechselnden Kennwort als Polizeibeamter identifiziert und nachgehakt. Heute braucht es kein Kennwort mehr, sondern ein Passwort für den Computer. Wenn man sich seinerzeit auf der Straße mal wieder über die lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger ärgerte, die einen nicht als Freund und Helfer behandelten, sagte man gern: »Ich bewerb mich für den Job als Kennwortausdenker.« Natürlich gab es keinen Kollegen, der im gemütlichen Büro saß und sich ausschließlich Kennwörter für Landratsämter, Kraftfahrtbundesamt, Einwohnermeldeämter und so weiter ausdachte. Aber man konnte ihn ja trotzdem hin und wieder beneiden.

Erwischt!

Ein halbes Jahr später erhielt ich eine Ladung zu einer Gerichtsverhandlung wegen eines Autounfalls. Polizeibeamte sagen häufig vor Gericht aus, um einen Sachverhalt darzustellen, wenn Zeugen, Geschädigte und Verursacher unterschiedliche Angaben machen. Die Richter möchten dann von uns Polizisten wissen, wie es denn nun gewesen ist, und zwar mündlich. Schriftliche Darlegungen allein genügen nicht zur Klärung.

Solange ich auch auf die Daten der Ladung starrte – kein Name kam mir bekannt vor. Außerdem hatte ich am benannten Tag keinen Unfall aufgenommen. Hin und wieder wurde man auch zu einem »fremden« Unfall geladen, wie ich von Kollegen erfahren hatte. Ich selbst war als junger Beamter noch nicht allzu oft bei Gericht erschienen und neugierig, was mich erwarten würde.

 

Als ich Frau Manzinger auf der Anklagebank entdeckte, wurde mir heiß, obwohl mich ihr heute ein wenig wässrig blauer Blick mied. Ich wusste sofort, worum es ging: die Kontrolle! Aber ich wusste nicht, was ich falsch gemacht haben sollte. Konzentriert kramte ich in meiner Erinnerung. Wir hatten sie kontrolliert … ein roter Polo … es war alles in Ordnung … sonst hätten wir ja was unternommen … oje! Der Führerschein! Hatte sie den auf die Inspektion gebracht? Oder nicht? Eher nicht. Erwischt! Ich bin erwischt worden, weil ich sie nicht erwischt hab. Mist!

»Kennen Sie die Dame?«, wollte der Richter von mir wissen.

»Ja, die habe ich kontrolliert.«

»Wussten Sie, dass sie keinen Führerschein hat?«

»Nein.«

»Gehört das nicht zur Kontrolle, den Führerschein zu prüfen?«

»Doch«, brachte ich mühsam heraus. Meine Stimme klang belegt.

»Die Dame hat keinen Führerschein«, teilte mir der Richter mit. Nun, das war mir mittlerweile auch klar. Röte stieg in mein Gesicht. Ich räusperte mich und gestand meinen Fehler. »Ich habe die Kontrolle zwar durchgeführt, es jedoch unterlassen, die nötigen Konsequenzen einzuleiten, als Frau Manzinger mir zusicherte, den Führerschein in den nächsten Tagen persönlich vorbeizubringen, äh, vorbeibringen zu wollen.« Ein tiefer Seufzer entfuhr mir. Wo war das nächste Mauseloch?

Der Blick des Richters ruhte eine Weile auf mir. Dann schmunzelte er: »Auch himmelblaue Augen können lügen.«

 

Im Folgenden erfuhr ich, dass einige Tage nach meiner Begegnung mit Frau Manzinger ein Kleinunfall von Kollegen einer angrenzenden Dienststelle aufgenommen worden war. Frau Manzinger war zwar nicht schuld an dem Blechschaden, aber beteiligt, und sie ließ ihre Handtasche diesmal geschlossen. Sie erzählte den Kollegen, sicherlich wiederum sehr charmant, dass sie ihren Führerschein ohnehin zu mir bringen würde. Die Kollegen recherchierten auf der Führerscheinstelle. Schließlich hatten sie eine Unfallanzeige auszufüllen und benötigten dafür die entsprechenden Informationen. So kam doch noch ans Licht, dass Frau Manzinger ohne Führerschein unterwegs war.

 

Als ich das Gerichtsgebäude in Starnberg verließ, regnete es in Strömen. Das passte zu meiner Stimmung. Irgendwo hörte ich eine Kirchturmuhr zwölf schlagen. Mittagspause. Ich kaufte mir eine Leberkässemmel, obwohl ich keinen Hunger hatte, und es war mir egal, dass mir das Wasser über den Kragen den Buckel hinunterrann. Ich fuhr vom See weg den Hanfelder Berg hoch und parkte an einem Feldweg. Schöner Blick über den Starnberger See. Normalerweise. Heute nicht. Alles grau. Auch die Semmel schmeckte lätschert und der Leberkäs war kalt. Allein der süße Senf tröstete ein bisserl.

 

Was war da eigentlich passiert? Wieso hatte diese Frau mich derartig eingewickelt? Es war doch alles so nett gewesen, und jetzt stand ich da wie der letzte Depp. Ich war der Polizist. Ich hätte die Situation im Griff haben müssen, stattdessen hatte sie mit mir gespielt wie mit einer Marionette. Nach Strich und Faden vorgeführt fühlte ich mich. Wo war der Punkt, an dem ich hätte argwöhnisch werden müssen? Wo war ich vom Weg der Routine abgewichen und hatte mich im Unterholz verirrt? Von wegen Hausfrauen sind harmlos! In welchem Moment hatte ich den Pfad des Polizisten verlassen?

 

Wissen Sie es?

War es das Vorurteil: Bei einer Frau verläuft die Kontrolle ohne Komplikationen? Dann wäre ich selbst schuld. War es die Menschenkenntnis von Frau Manzinger, die mich in die Tasche steckte? Und ich hatte es nicht mal gemerkt! Hatte ich mich zu sehr auf meinen Kollegen verlassen, und darauf, dass der schon eingreifen würde, wenn ich einen Fehler machte? Oder spielte alles zusammen?

 

Ob wir jemandem glauben, hängt davon ab, ob wir ihm vertrauen. Lügen-Profis wissen das und investieren viel Energie, um Vertrauen aufzubauen. Manche Menschen lügen mit Vorsatz, andere fahrlässig und wieder andere merken es gar nicht. Frau Manzinger, da war ich mir sicher, hatte mit Vorsatz gelogen. Es dürfte ihr nicht unbekannt gewesen sein, dass sie keinen Führerschein besaß. Sie hatte mit ihrer flirtenden Gesprächsführung eine Atmosphäre der Behaglichkeit geschaffen. Benahm die sich immer so? Ich kannte ihre Nulllinie nicht, wie wir bei Vernehmungen das Normalverhalten eines Verdächtigen nennen, um sein abweichendes Verhalten herauszufiltern. Wie man mit einer Nulllinie arbeitet, erkläre ich Ihnen bei unserem nächsten Fall.

 

So etwas, das schwor ich mir, würde mir nie mehr passieren. In den nächsten Jahren befasste ich mich intensiv mit dem Thema Menschenkenntnis. Sie zeichnet den guten Polizisten aus, der ich werden wollte. Und wie es so oft im Leben ist, bin ich heute froh um die Begegnung mit der Dame mit den himmelblauen Augen, weil sie mich anspornte, was mittlerweile sogar dazu geführt hat, dass ich Kollegen im Bereich Menschenkenntnis ausbilde – und Sie und ich gemeinsam ermitteln werden. Zuvor möchte ich Sie allerdings noch kurz einweisen. Schließlich sollen wir uns als Partner aufeinander verlassen können. Ich muss sicher sein, dass Sie keinem Kleinganoven, der das Blaue vom Himmel herunterlügt, auf den Leim gehen. Ich möchte Sie als souveräne Kollegin oder Kollegen neben mir wissen. Deshalb im Folgenden einige wichtige Voraussetzungen für die gute Menschenkenntnis.

Falle Vorurteil

Menschenkenntnis bedeutet, dass man andere Menschen einschätzen und ihr Verhalten voraussehen kann. Für einen Polizisten kann es überlebensnotwendig sein, andere richtig einzuschätzen. Zieht der Verdächtige eine Waffe oder nur den Gürtel hoch? Auch als Privatmensch benötigt jeder Menschenkenntnis, wenn er es vermeiden will, als der Dumme dazustehen. Wer schnell zu einem sicheren Urteil über andere gelangt, gewinnt einen Vorsprung. Je weniger man über einen Menschen weiß, desto schwieriger gestaltet sich dies. Menschenkenntnis ist nicht angeboren, sie wird ständig geschult, in jeder Begegnung mit anderen. Die Frage ist: Ziehen wir die richtigen Schlüsse aus diesen Begegnungen? Leider ist der größte Vorteil in der Einschätzung anderer Menschen – sie schnell beurteilen zu können – zugleich der größte Nachteil. Viele Menschen verwechseln Vorurteile mit Menschenkenntnis. Der Unterschied liegt darin, einen zweiten Blick zu riskieren, oder gar einen dritten und vierten. Unvergessen ist mir bis heute der Mitbürger, der tätowiert bis unter die Zähne bei uns im Revier erschien. Rasierter Schädel, Stiernacken, Stirnband, Sonnenbrille und die üblichen Aufnäher an seiner speckigen Kutte. Ein Rocker, was sonst. Strafregister wahrscheinlich bis zum Mond. Mit zwei Worten: unterste Schublade. Also schnell schließen. Das kennt man. Nein, man kennt es nicht. Der vermeintliche Rocker stellte sich als Doktor der Philosophie und aktiver Buddhist heraus, der jegliche Form von Gewalt strikt ablehnte.

 

Sind Blondinen mit großem Busen dumm und Porschefahrer über fünfzig Viagrakonsumenten?

Ist der wirklich so drauf, wie es seine Punker-Klamotten vermuten lassen? Oder steht seine Freundin auf den Look? Oder ist das eine Mutprobe?

Hat der wirklich so viel Geld, wie es bei dem Auto und dem Anzug den Anschein erweckt? Oder will er davon ablenken, dass er pleite ist?

Eins ist sicher: Mörder schauen brutal aus. Das weiß man aus dem Fernsehen! Und da auf allen Kanälen ständig Krimis laufen, ist das quasi empirisch. Ich selbst habe den Mörder übrigens noch keinem Mörder angesehen. Eine »Mördervisage« ist mir niemals begegnet, aber ich bin ja auch Polizist, nicht Visagist.

 

Gute Polizisten lassen sich vom ersten Eindruck nicht blenden, egal wie himmelblau ein Blick sein mag! Für die Wahrheit muss man seine Komfortzone verlassen. Aber Sie wollten ja mal was anderes erleben. Vielleicht sogar ein Abenteuer. Das werden Sie, wenn Sie den Mut haben, Menschen wirklich zu entdecken!

 

Wer über eine gute Menschenkenntnis verfügt, hat es leichter im Leben – und beim Pokern! Gute Menschenkenntnis macht nicht misstrauisch, sondern ist eine Abkürzung, die uns schneller zu unseren Zielen führt. Passt dieser Chef zu mir? Oder die Frau? Soll ich den Kontakt abbrechen, weil es eh nichts bringt, oder noch mal investieren? Nutzt der mich aus oder bilde ich mir das ein? Meint der, was er sagt, oder will er mich einwickeln? Will die mir absichtlich schaden oder ist sie verstrickt in ihre eigenen Probleme?

 

Mit guter Menschenkenntnis kann man andere sowohl manipulieren als auch motivieren. Es liegt an Ihnen, wie Sie Ihre Fähigkeiten einsetzen. Wir Polizisten nutzen sie vor allem dazu, die Wahrheit herauszufinden. Stellen Sie sich vor, für einen Polizisten wäre der Fall mit dem ersten Ansehen einer Person klar. Unrasiert, langhaarig, vier Plastiktüten: Kaufhausdieb. Mutter mit drei Kindern: unschuldig. Sicher wären Sie mit dieser Rechtsauffassung nicht einverstanden. Bestimmt gibt es auch in Ihrem Leben einige oder mehrere Details, die Verdacht erwecken könnten? Sie möchten als ganzer Mensch gesehen werden, nicht bloß in Teilaspekten. Dann schauen Sie als erste Maßnahme auch bei anderen genauer hin. Es wird Ihnen helfen, manche privaten und beruflichen Fälle aufzuklären!

Schubladen-Kontrolle

Wenn wir anderen Menschen begegnen, fällen wir unbewusst in wenigen Augenblicken eine Entscheidung, ob wir uns ihnen zuwenden möchten oder nicht. Ob sie für uns interessant sind oder egal oder gefährlich. Entsprechend dieser groben Einteilung verhalten wir uns. Viele Menschen vergessen, dass nicht nur sie die anderen taxieren, sondern dass sie auch taxiert werden. Dies nur mal als kleiner Tipp. Auch wenn es weh tut: Sie sind nicht der Mittelpunkt der Welt, weil das noch ein paar Milliarden andere ebenso für sich in Anspruch nehmen.

 

Wenn sich zwei Menschen begegnen, findet immer ein gegenseitiges Überprüfen statt. Wer bist du? Stehst du über oder unter mir? Kommunizieren wir auf Augenhöhe? In der Gegenwart eines Uniformträgers sind oben und unten klar. Der Polizist kann den Ausweis verlangen und Fragen stellen, die man einem Passanten nicht gestatten würde. Auch dem Chef wird Auskunft erteilt. Die soziale Position, die jemandem zugeordnet wird, erübrigt die Prüfung. Aber es gibt immer noch genug Spielraum für Statusgerangel. Achten Sie einmal darauf: In jeder menschlichen Begegnung wird als Erstes der Status verhandelt, schweigend und oft unbewusst. Status ist nicht starr. Je nachdem, mit wem wir es in welchem Kontext zu tun haben, sind wir mal oben, mal unten.

 

Das Einordnen in eine Schublade muss schnell gehen. Wir haben im Alltag keine Zeit, fundiert zu prüfen. Zu viele Menschen begegnen uns, auf zu viele Situationen müssen wir reagieren. Wahrnehmungsfilter helfen uns dabei, die für uns richtigen Entscheidungen zu treffen. Wenn Sie glauben, dass Sie die Welt so wahrnehmen, wie sie ist, träumen Sie. Tatsache ist: Sie entscheiden sich – wie alle anderen auch – dafür, gewisse Dinge auszublenden, zu vergessen, zu verdrängen. Dies geschieht unbewusst. Das merken Sie zum Beispiel dann, wenn jemand Erinnerungen an ein vergangenes Ereignis hervorkramt, die Sie nicht mal abgespeichert oder schon längst vergessen haben. Jeder blendet andere Dinge aus, und was für den einen unangenehm gewesen sein mag, hat ein anderer vielleicht als überaus amüsant in Erinnerung. Als aufmerksamer Beobachter merken Sie es auch, wenn sich Ihre selektive Wahrnehmung einschaltet. Sie wollen sich einen VW-Bus kaufen und stellen fest: Es fahren fast ausschließlich VW-Busse auf den Straßen herum. Vorher ist Ihnen das noch nie aufgefallen – ja, vorher haben Sie auch nicht danach Ausschau gehalten. Vergessen Sie also niemals: Sie sehen, was Sie sehen wollen, Sie sehen, was in Ihr Weltbild passt. Jeder sieht im Detail etwas anderes. Was für ein Glück, dass wir uns auf manche Konstanten einigen können. Ein Tisch ist ein Tisch, und eine Handschelle … Fluch oder Segen? So betreten wir den Raum der Interpretation.

 

In das Weltbild vieler Polizisten scheint das Vorurteil zu passen, dass langhaarige junge Männer öfter Drogen nehmen als andere. Wenn nun langhaarige junge Männer öfter in Bezug auf Drogen kontrolliert werden, wird man logischerweise auch öfter welche finden. Eine Bestätigung des Vorurteils – oder nicht eher dessen Ursprung? Aber schön ist es schon, wenn man mal wieder einen findet. Da bleibt man doch dabei! Gute Polizisten kennen diese Versuchung und machen sich immer wieder bewusst, dass die ausschließlichen Ermittlungen in der Komfortzone fatale Folgen haben können. Gute Polizisten winken auch mal den Manager in der Nobellimousine zur Drogenkontrolle heraus – und freuen sich dann vielleicht über kiloweise Koks im Kofferraum.

 

Schließen Sie Ihre Schubladen nicht gleich wieder. Lassen Sie sie noch eine Weile offen stehen. Ja, das sieht nicht gut aus und bei denen in Bodennähe besteht die Gefahr, dass man drüber stolpert. Das könnte als Erinnerung dienen: Schau noch mal genau nach. Wer liegt in der Schublade, gehört der wirklich da rein? Das Problem ist nämlich: Wer einmal in einer Schublade steckt, kommt nicht mehr raus, wird vergessen, staubt ein, erstickt womöglich. Und keiner merkt’s. Das ist unseren Mitmenschen gegenüber sehr unhöflich. So möchten Sie wahrscheinlich auch nicht behandelt werden. Vielleicht sagen Sie jetzt: Ist mir doch egal, was fremde Leute von mir denken. In einer Strafsache ist das anders. Da geht es um Freispruch oder Gefängnis. Also muss man tiefer blicken. Und noch tiefer. Wenn Sie sich also entschlossen haben, mit einem Menschen in Kontakt zu treten, lassen Sie die Schublade einen Spalt offen.

 

Leider gibt es bei der Menschenkenntnis keine Paragraphen wie im Strafgesetzbuch, die man auswendig lernen kann. Hier spielt sehr viel Intuition mit – die uns hin und wieder aufs Glatteis führen kann: Ist das jetzt meine Intuition oder bilde ich mir das ein? Ja, es gibt einige Taktiken und Tricks, um Menschen zu durchschauen, die wir in der Vernehmung auch einsetzen. Es gibt zwar keine Methode, die bei allen Menschen gleich wirkt. Aber intuitiv finden wir meistens die richtige. Auch Sie! Wahrscheinlich sind Sie jetzt ein bisschen verwirrt. Das ist normal und volle Absicht. Das machen Kripobeamte gern, um festgefahrene Denkmuster zu durchbrechen oder erfundene Geschichten durcheinanderzuwirbeln. Keine Sorge: Wir sind hier in keinem Verhör, nur in einer informellen Befragung. Übrigens wird das Wort Verhör bei der Polizei seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Es hat auch noch nie etwas anderes bedeutet als Vernehmung, auch wenn manche Krimiautoren uns das glauben machen wollen. Prinzipiell gibt es zwei Arten von Vernehmungen: Die Zeugenvernehmung und die Beschuldigtenvernehmung. Der Beschuldigte ist derjenige, gegen den ermittelt wird. Der Zeuge kann Hinweise zur Tat geben.

Fahndung läuft

Wer ein guter Polizist werden will, fahndet nach seinen Vorurteilen. Er schlägt seine Schubladen nicht voreilig zu, denn: Wer einmal in einer Schublade steckt, kommt kaum mehr heraus. Man sagt, ein negativer Kontakt braucht sieben positive Kontakte, eher er neutralisiert ist. Davon können gerade Polizistinnen ein Lied singen. Sie müssen meist viel besser sein als ihre männlichen Kollegen, weil sie mit so vielen Vorurteilen konfrontiert sind. Daran sieht man: Auch intern gibt es Vorurteile bei der Polizei. Man unterstellt den Kolleginnen, sie seien zu schwach, könnten die notwendige körperliche Leistung nicht erbringen, die der Beruf erfordere – und wenn sie befördert würden, dann bloß aufgrund ihres Geschlechts. Da muss man schon sehr gut sein, wenn man sich gegen so viele Vorurteile stemmen will!

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