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Originalausgabe
2. Auflage 2015
© 2015 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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D-80636 München
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Umschlaggestaltung: Maria Wittek
Umschlagabbildung: Shutterstock
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print 978-3-86883-630-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-783-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-784-6
 
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Inhalt

Aus dem »Eid des Hippokrates«
Widmung
Vorwort
Einleitung
Wie sieht die ideale Früherkennung aus?
Spezifität und Sensitivität
Sichere Katastrophe versus unklares Risiko
Erfolgversprechende Handlungsoptionen
Die Kosten
Zwischen Skylla und Charybdis
Deutsche Ärzte sind meist nicht auf dem neuesten Stand
1. Krebs-Früherkennung
Brustkrebs
Verwirrende Zahlen zum Verhältnis von Nutzen und Schaden
Viele Gynäkologen raten vom Screening ab
Wie groß ist der Nutzen des Mamma-Screenings?
Das Verwirrspiel mit absolutem und relativem Risiko
Irreführende Informationen überarbeitet
Das Screening rettet kein Frauenleben
Der Schaden durch das Screening: erschreckend hoch
Enorme seelische Belastung
Als potenzielle Todeskandidatin gefühlt
Absolute Zahlen und verzerrte Statistiken
»Es ist Zeit, dass unser Rechtssystem einschreitet«
Nachtrag: Was mache ich bei einer familiären Belastung?
Früherkennung mit MR und Ultraschall
Prostatakrebs und der PSA-Wert
Abzocke ohne die empfohlene Beratung
Inkontinenz und Impotenz durch Prostatachirurgie
Daten zum PSA-Test
Prostatakrebs ist im fortgeschrittenen Alter »normal«
Fallstricke der Statistik
Scheinerfolge stärken das Früherkennungssystem
Der PSA-Test und die Biopsie
Der Grenzwert: willkürlich gesetzt
Was passiert dann?
Überdiagnosen gehören zwingend zur Logik der Früherkennung
Prostatakrebs-Früherkennung: ein Milliardengeschäft
Die Ergebnisse der »positivsten Studie«: eine Katastrophe
Was ist Krebs?
Krebszellen sind unsterblich
Programmierter Zelltod und komplexes Leben
Gestörtes Selbstmordprogramm lässt Krebszellen entstehen
Krebs ist so alt wie das Leben
Der gesunde Körper: ein perfekter Multikulti-Organismus
Entfesselte Zellteilung
Krebszellen sind entdifferenziert
Krebszellen sind genetisch instabil
Hautkrebs-Screening: Betrug von langer Hand eingefädelt?
Screening: 15 Millionen neue Kunden
Wer suchet, der findet
Eine Machbarkeitsstudie anstelle einer Wirksamkeitsstudie
Viele falsche Diagnosen und Entwarnungen
Zweifelhafte Fortbildungsmaterialien
Was sagen die Statistiken zum Sinn des Screenings?
Alltägliche Desinformation
Das Schreckgespenst aufblähen
Und dem Gespenst geht die Luft aus
2. Check-up 35 – der große Fischzug
»Böses« Cholesterin
Cholesterin: eine lebenswichtige Substanz
Der Ursprung der Cholesterin-Angst
Kein Zusammenhang zwischen Cholesterin und Arteriosklerose
Cholesterin und Schlaganfall
Primärprävention und Sekundärprävention
2,5 Millionen Kranke durch Früherkennung
Exkurs: die Manipulation der Öffentlichkeit
Irreführende Studien
Die schicke 4S-Studie
Manipulierte Wissenschaft: ein Kavaliersdelikt?
Die Deutsche Lipid-Liga und die Industrie
Lipid-Liga gegen das Bundesinstitut IQWiG
Die »Ethik« der Deutschen Lipid-Liga
Schädliche Cholesterinsenkung
Gedächtnisstörungen, Depression, Krebs
Fassen wir das Wichtigste kurz zusammen
Blut(hoch)druck
Ab wann ist der Blutdruck zu hoch?
Am Ende unseres Lebens sterben wir …
Im Sinkflug: Grenzwert für den Risikofaktor Blutdruck
Grenzwerte und die industrienahe Fachgesellschaft
Korruption im Gesundheitswesen
Ist »milder Hochdruck« Hochdruck?
Kritik an der Studie
Wirkungsloser Eingriff bei Therapieresistenten
Schaden durch Blutdrucksenkung
Blut(hoch)druck: Schluss
Blutzucker
Typ-1-Diabetes
Typ II: Resistenz gegen Insulin
Sinnvolle Früherkennung?
Was die Studien zum Diabetes-Screening sagen
Tod durch »Idealwert-Strategie«
Übrig bleibt: Fitness ist gesund
Die große Welle von »Risikopatienten«
3. Früherkennungsmedizin: resistent gegen wissenschaftliche Studien
4. Gynäkologische Früherkennung
Eierstockkrebs-Früherkennung
Großzahl der Frauen sinnlos kastriert
Profit rangiert vor Patientennutzen
Gebärmutterhalskrebs-Früherkennung
Deutsche Gynäkologen sind »PAP-hyperaktiv«
Konisation – Eingriff mit Nebenwirkungen
5. Krebs-Früherkennung, die Zweite
Darmkrebsvorsorge
Zwei Bekannte an der Darmspiegelung gestorben
Spiegelung mit positivem ­Nutzen-Schadens-Verhältnis
Der Nutzen: 50 Prozent oder 1 Promille?
Der deutsche Sonderweg
Stuhltest: verborgenes Blut
Früherkennung von Schilddrüsenkrebs
»Suchen Sie so rasch wie möglich Ihren Arzt auf«
Die rätselhafte Zunahme der Krebsfälle
6. Früherkennung weiterer Alterskrankheiten
Glaukom-Früherkennung
Glaukom-Früherkennung »sehr ans Herz« gelegt
Umstrittener Parameter: Augeninnendruck
Keine Bestätigung der Methode
Einmal mehr: Behandlung eines »Surrogatparameters«
Osteoporose-Früherkennung
Eine Krankheit wird definiert
Hat die Hälfte aller Frauen über 70 Jahre Osteoporose?
In Bewegung bleiben!
7. Kleine IGeL-Parade
Thrombose-Check per Protein-C-Kontrolle
Keine Prognosesicherheit und keine Behandlungsoption
Bestimmung von Immunglobulin-G bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten
Transportdefekte im Dünndarm
Intoleranzen von Allergien unterscheiden
Überzeugendes Erklärungsmodell
Warum der IgG-Immuntest schädlich ist
Kernspintomografie (MRT) zur Früherkennung einer Alzheimer-Demenz
Medikamente gegen Alzheimer?
Kleiner Nutzen – erhebliche Nebenwirkungen
Dort finden Sie im Internet gute Informationen
Shared decision-making – gemeinsam gute Entscheidungen treffen

Schluss
Hinweis
Dank

Aus dem »Eid des Hippokrates«

»Ich schwöre und rufe Apollon, den Arzt, und Asklepios und Hygeia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde. […]

Ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden. […]

In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, frei von jedem bewussten Unrecht und jeder Übeltat […]

Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, in meinem Leben und in meiner Kunst voranzukommen, indem ich Ansehen bei allen Menschen für alle Zeit gewinne; wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil.«

 







Gewidmet:

meiner Frau Christiane und meinen Kindern Lion und Mira

Vorwort

Im Jahr 2014 habe ich die Dokumentation Krank durch Früherkennung für die Reportage-Reihe Betrifft für das SWR-Fernsehen produziert. Der leitende Redakteur der Sendung hatte mein Exposé angenommen und mir damit im Prinzip grünes Licht für mein Projekt gegeben. Schließlich hatte ich darin auf die wissenschaftlichen Studien hingewiesen, die diverse medizinische Früherkennungsmaßnahmen als wirkungslos oder gar als gefährlich entlarvt hatten. Aus Gesprächen mit dem Redakteur wusste ich aber, dass er dennoch »Bauchschmerzen« dabei hatte. Früherkennung so sehr infrage zu stellen – war das nicht doch gefährlich? Am Ende wären wir womöglich dafür verantwortlich, dass Menschen krank werden oder gar sterben, denen dieses Schicksal durch Früherkennung vielleicht erspart geblieben wäre. Zunächst einmal ist es ja auch wirklich schwer zu verstehen, warum Früherkennung nicht das sein sollte, als das wir sie ständig von der Ärzteschaft »verkauft« bekommen: ein Segen. Ganz nach dem Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.

Am 4. Juni stand die Abnahme an. Die Abnahme ist ein wichtiger Termin, bei dem der Autor dem Redakteur erstmals den Film zeigt und dazu den Entwurf für den Sprechertext vorliest. Ich hatte mich auf eine schwierige Abnahme gefasst gemacht. Darauf, dass ich jede Menge Details und Formulierungen würde diskutieren müssen, die dem Verantwortlichen für diesen Programmplatz zu gewagt erscheinen würden. Aber es kam anders. Der Redakteur kam gut gelaunt und völlig entspannt in den Schnittraum und es gab kaum inhaltliche Diskussionen. Was war passiert?

Der Redakteur hatte am Abend zuvor Nachrichten gesehen. Und da ­hatte Ärztepräsident Dr. Frank Ulrich Montgomery öffentlich Kritik an den Screenings zur Früherkennung von Krankheiten geübt. Auch er verwies auf Wissenschaftler, die gezeigt hatten, dass sich die Zahl der Todesfälle durch solche Screenings – wenn überhaupt – nur marginal senken ließ. Und das bei einer gleichzeitig gravierenden Erhöhung des Risikos, durch sinnlose medizinische Vorsorge Schaden zu erleiden. Dr. Frank Ulrich Montgomery forderte, alle Früherkennungsprogramme auf den Prüfstand zu stellen. Sowohl die zur Früherkennung von Krebs als auch die allgemeinen Gesundheits-Check-ups. Dieser Vorstoß des Ärztepräsidenten war ein Geschenk für mich.

Nur: An der medizinischen Praxis hat sich seither nichts geändert. Montgomerys Forderung ist über ein Jahr alt und Früherkennung wird in Deutschland genauso offensiv propagiert wie all die Jahre zuvor. Mich wundert das allerdings nicht wirklich, denn Früherkennung führt zu einer Ausweitung des medizinischen Geschäfts. Weil man sich mit Früherkennungsmedizin endlich nicht mehr nur auf die Behandlung von Kranken beschränken muss. Nein, Früherkennung macht auch die Gesunden zu Kunden der Medizin. Die verantwortlichen Fachgesellschaften werden daher auch weiter alles dafür tun, dass Früherkennung in Deutschland groß geschrieben wird, denn sie fördert die Bedeutung der beteiligten Mediziner und ihren Umsatz. Und wer wollte darauf schon verzichten?

Für Sie – liebe Leserin, lieber Leser – hat das eine wichtige Konsequenz: Wenn die Ärzteschaft nicht bereit ist, Früherkennung kritisch unter die Lupe zu nehmen, müssen Sie es tun. Und dabei soll Ihnen dieses Buch helfen. Für die wichtigsten Früherkennungsprogramme habe ich die wissenschaftliche Datenlage aufbereitet und zu einer – wie ich hoffe lesbaren – Übersicht zusammengestellt. Es geht immer darum, den möglichen Nutzen einer Früherkennungsmaßnahme dem möglichen Schaden gegenüberzustellen. Man könnte auch sagen, wir beleuchten Chancen und Risiken von Früherkennung. Damit Sie eine gut informierte Entscheidung treffen können.

Einleitung

Krank durch Früherkennung? Im ersten Moment mag sich das widersinnig anhören. Bei Früherkennung – sei es bei der Krebs-Früherkennung oder beim allgemeinen Gesundheitscheck, der hierzulande unter dem Titel »Check-up 35« vermarktet wird – versuchen Ärzte, Krankheiten in Vor- oder Frühstadien zu entdecken. Und sie versprechen uns, dass man diese Frühstadien besser heilen kann. Oder bei entdeckten Vorstadien sogar den Ausbruch der Krankheit verhindern kann. Das klingt durchaus überzeugend. Was könnte auch sinnvoller sein? Wie sollte eine solche Früherkennung zu einer Krankheit führen?

Bei genauerem Hinsehen wird allerdings sehr schnell klar, dass diese ­Betrachtungsweise naiv ist. Gefährlich naiv. Der Kern des Problems liegt in der Frage: Wo fängt die Krankheit an? Denn bei diesen Reihenuntersuchungen an Gesunden, beim Check-up 35 beispielsweise, werden in der Regel keine Krankheiten diagnostiziert, sondern Grenzwertverletzungen. Ihr Arzt oder Ihre Ärztin sagt Ihnen: »Sie haben zu hohen Blutdruck.« Oder: »Ihr Cholesterin ist aber deutlich über dem Grenzwert, da müssen wir was machen.« Oder die Radiologin stellt nach zwei Mammografien, einem Ultraschall und schließlich nach der Analyse der Gewebeprobe aus der Brust fest: »Es ist Krebs.« Und dann fügt sie vielleicht noch hinzu: »Was für ein Glück, dass wir den so früh gefunden haben. Da haben wir gute Heilungschancen.«

In Wahrheit aber können all diese Befunde völlig unproblematisch sein. Das macht die Früherkennung so gefährlich! Sie erkennt nämlich auch Abweichungen vom Ideal, die für die Betroffenen in ihrem Leben niemals zu einem Problem geworden wären. Der Fachbegriff dafür heißt »Überdiagnose«. Viele Menschen werden mit hohen Blutdruckwerten steinalt. Das Gleiche gilt für den Cholesterinwert, der im Alter natürlicherweise ansteigt. Selbst Krebs (eigentlich sollte man zunächst von »Gewebeveränderungen« sprechen, denn das Wort »Krebs« ist so angstbesetzt, dass es sofort blinden Aktionismus auslöst) ist nicht generell der »Killer«, als der er allgemein wahrgenommen wird. Die meisten Männer haben beispielsweise Prostatakrebs, wenn sie sterben. Doch nur etwa jeder dreißigste Mann in Deutschland stirbt an Prostatakrebs, und das zumeist in einem Alter, das deutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern liegt. Sehr viele Menschen tragen Gewebeveränderungen mit sich herum, von denen sie nichts wissen. Und das ist auch gut so, denn diese Gewebeveränderungen werden nie zu einem aggressiven Tumor weiterwachsen.

Diese Menschen werden bei der Früherkennung aber als Kranke identifiziert, obwohl sie im Leben keine Probleme mit dem Frühstadium von »was auch immer« bekommen hätten. So macht Früherkennung krank. »Moment mal. Früherkennung hilft aber auch. Es werden doch Leben gerettet«, denken Sie jetzt sicher. Völlig zu Recht. Den einen hilft die Früherkennung tatsächlich, aber den anderen schadet sie eben. Eine Chemotherapie, von der man keinen Nutzen hat, ist ein heftiger Schaden. Chemotherapien können – nebenbei gesagt – sogar Krebs auslösen. Genauso wie die Mammografien mit dem Röntgengerät. Cholesterinsenker verursachen bei vielen Menschen mit »Fettstoffwechselstörungen«, die eigentlich gar keine Patienten sind, Schmerzen, die weitere unnötige Medizin nach sich ziehen. Prostataoperationen machen in vielen Fällen impotent und/oder inkontinent. Keine schöne Vorstellung, zumal wenn man von der Gewebeveränderung lebenslang gar keinen Nachteil gehabt hätte. Keine leichte Situation: Wie soll man sich entscheiden? Man kann im Vorhinein ja nicht wissen, ob man von der Früherkennung einen Nutzen oder einen Schaden davonträgt.

Aber genau das ist der Weg, der zu einer persönlichen und vernünftigen Entscheidung führt. Den Nutzen und den Schaden der Früherkennungsmaßnahmen abwägen. Wie groß ist die Chance auf einen Vorteil? Wie sehr wird durch Früherkennung mein Risiko gesenkt an »was auch immer« zu sterben oder ernsthaft daran zu erkranken? Wie groß ist auf der anderen Seite mein Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden. Nur weil ich als Gesunder zur Sicherheit an einem Screening oder an einer individuellen Früherkennungsmaßnahme teilgenommen habe? Genau das soll in diesem Buch ausführlich dargestellt werden – der potenzielle Nutzen und der mögliche Schaden. Für jede einzelne Früherkennungsmaßnahme in einem eigenen Kapitel. Basierend auf den besten wissenschaftlichen Informationen, die verfügbar sind. Sie werden sehen, es gibt viele Früherkennungsmaßnahmen, die man nicht guten Gewissens empfehlen kann. Weil das Risiko, Opfer von unnötiger Medizin zu werden, deutlich größer ist als die Chance, von der Früherkennung zu profitieren.

Doch warum ist dieses Buch eigentlich nötig? Die besten Informationen müsste es bei den entsprechenden Ärztinnen und Ärzten geben, die Früherkennung anbieten. Die müssten sich doch wirklich auskennen und uns nach bestem Wissen und Gewissen beraten. Dazu muss ich leider etwas feststellen, das Sie vielleicht beunruhigen wird. Von vielen Ärzten werden Sie gar nicht informiert. Wozu auch? Fast alle glauben, wie es scheint, dass Früherkennung fraglos eine gute Sache ist. Warum also lange darüber reden? Time is money! Wenn informiert wird, dann in der Regel nur über den Nutzen. Und fast immer wird der Nutzen dabei übertrieben groß dargestellt. Über den Schaden sprechen die meisten Mediziner nicht so gerne. Können Sie sich vorstellen, warum? Es ist ganz einfach: Ärzte verdienen nicht nur an der Früherkennung. Oft verdienen sie auch noch an der folgenden Behandlung. Ich möchte Mediziner nicht gerne unter Generalverdacht stellen. Aber nach dem, was ich bei meinen Recherchen zu diesem Thema erlebt habe, kann ich zu keinem anderen Schluss kommen: Für viele Mediziner ist Früherkennung eine willkommene Gelegenheit, ihren Kundenkreis auszuweiten. Denn durch Früherkennung werden viele gesunde Menschen zu kranken gemacht.

Wie sieht die ideale Früherkennung aus?

Perfekte Früherkennung gibt es in der Medizin nicht. Es kann sie gar nicht geben, wie wir gleich sehen werden. Lassen Sie mich deshalb ein Beispiel aus der »Verkehrstechnik« zur Veranschaulichung der idealen Früherkennung bemühen. Wir werden dabei sehen, wie viele Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Früherkennung richtig funktioniert. Und wie viele Fallstricke es gibt, die den Nutzen von Früherkennung relativieren, zunichtemachen oder sogar in sein Gegenteil verkehren können.

Folgen Sie mir auf den Atlantik. Wir sind auf der Brücke eines großen Containerschiffs. Und wir fahren im Nebel. Das ist für uns kein Problem, denn wir haben eine perfekte Früherkennungstechnik an Bord: Radar. Vermutlich sogar zwei oder drei Geräte, falls eines einmal ausfallen sollte. Die einzige Gefahr, die einem Schiff unserer Größe hier draußen droht, ist die Kollision mit einem anderen großen Schiff. Doch die werden von unserem Radar auf große Distanz mit 100-prozentiger Sicherheit erkannt. Ein Fehlalarm, also das, was man in der Medizin als falsch-positives Ergebnis eines Früherkennungstests bezeichnet, ist hier auszuschließen. Das Radar zeigt kein Schiff, wenn da keines ist. Die Radarstrahlen werden nur von dem massiven Schiff reflektiert und von unserem Gerät aufgefangen. Zur Sicherheit, zur Überprüfung haben wir – wie gesagt – mindestens noch ein zweites Radargerät. In der Medizin würde man dieses sichere Erkennen der Gefahr als 100-prozentige Sensitivität des Früherkennungstests bezeichnen. Aber schon 90-prozentige Sensitivität wäre in der Medizin ein Spitzenwert. Wir werden später sehen, dass es in der Früherkennungsmedizin Tests mit einer Sensivität von 5 Prozent und weniger gibt. Das heißt: Jeder »Treffer« wird von mindestens 20 Fehlalarmen begleitet. 100 Prozent Treffsicherheit gibt es in der Früherkennungsmedizin nicht.

Spezifität und Sensitivität

Die Sensitivität – also das richtige Erkennen einer vorliegenden Gefahr – ist die eine wichtige Qualitätsmarke der Früherkennung. Die Spezifität, das zuverlässige Entwarnen, wenn keine Gefahr besteht, ist das andere Qualitätsmerkmal. Auch hier ist die Radartechnik spitze. Wenn der Radarschirm frei ist, haben wir tatsächlich freie Fahrt. (Mag sein, dass es militärische Schiffe gibt, die einen Stealth-Tarnanstrich tragen und für Radartechnik unsichtbar sind. Aber die wären andererseits auch sicher nicht so blöd, sich von einem Containerschiff rammen zu lassen.) Also können wir auch bei der Spezifität von einem 100-Prozent-Wert ausgehen. Das gibt es in der medizinischen Früherkennung allerdings bei Weitem nicht. Ein nicht unerheblicher Teil derer, die mit einem »Sie sind gesund« aus welcher Früherkennung auch immer herauskommen, sind nicht gesund. Typischerweise erreichen Früherkennungsuntersuchungen nur eine Spezifität von 80 bis 90 Prozent. Es sind sogar Tests mit 65 Prozent auf dem Markt. Das heißt, in einem Drittel aller Fälle werden Entwarnungen gegeben, obwohl die Gefahr, nach der geforscht wurde, durchaus vorhanden ist.

Sichere Katastrophe versus unklares Risiko

Eine weitere Eigenheit unserer Situation hier auf hoher See und im Nebel ist die, dass wir – sofern das andere Schiff auf unserem Kurs liegt und wir nicht auf das Warnsignal reagieren – auf jeden Fall in ein katastrophales Ereignis geraten. Die Früherkennung kündigt uns hier also ein Ereignis an, das eintreten wird. Ein gigantischer Unterschied zu den meisten medizinischen Früherkennungen, um das an dieser Stelle schon ganz klar zu sagen: Medizinische Früherkennungsmaßnahmen kündigen uns in der Regel nämlich keine sicher eintretenden, eindeutigen Katastrophen an, sondern Risiken. Und die Wahrscheinlichkeit, dass die Gefahr für uns real wird, liegt oft nur im einstelligen Prozentbereich oder sogar lediglich im Bereich der Promille. In vielen Fällen ist auch nicht nur unklar, ob die Katastrophe eintritt, sondern zudem, wie schwer sie sein wird. Eine vorübergehende Beeinträchtigung? Ein bleibender Schaden? Tod?

Erfolgversprechende Handlungsoptionen

Diese Sicherheit der Gefahrenerkennung ist aber längst nicht alles, was unsere Radartechnik als perfekte Früherkennungstechnik auszeichnet. Wir müssen noch sehen, wie es um unsere Optionen steht, auf das Ergebnis der Früherkennung zu reagieren. Wir haben hier auf See nämlich eine klare und einfache Strategie, der Gefahr auszuweichen. Wir weichen ihr aus.

Der Kapitän und seine Mannschaft sehen das Signal und nehmen eine kleine Kurskorrektur vor. Diese klare präventive Maßnahme gibt es in der Medizin häufig nicht. Denken Sie an Gentests zur Früherkennung. Denken Sie an pränatale Vorsorgeuntersuchungen: Wenn das Down-Syndrom beim Kind im Mutterleib mit Sicherheit diagnostiziert ist, haben Sie dann eine Handlungsoption, die Ihnen wirklich Erleichterung verschafft? Einige Tests teilen den Betroffenen nur das Risiko mit und lassen sie mit der Angst und ihren Sorgen allein. Weil es keine überzeugenden Gegenmaßnahmen zur Abwendung der drohenden Gefahr gibt.

Aber das ist noch nicht alles. Wir haben auf hoher See nicht nur überhaupt eine Option, die Gefahr zu umgehen, sondern diese Strategie ist auch noch ohne Risiken. Sie ist frei von Nebenwirkungen. Ein Traum! In der Medizin gibt es nur sehr wenige präventive Strategien ohne schädliche Nebenwirkung. Mit dem Rauchen aufzuhören, ist eine davon. Aber das ist ja eigentlich keine Medizin. In der Medizin bekommt man ja zur – oft nur angeblichen – Gefahrenabwendung Medikamente. Etwa Cholesterinsenker. Das sind Substanzen, die massiv in biologische Prozesse des Körpers eingreifen. Das birgt Gefahren. Nebenwirkungsfreie Medikamente gibt es praktisch nicht. Und noch etwas ist bei der Früherkennungstechnik unseres Frachtschiffes in Verbindung mit dem präventiven Verhalten – dem Ausweichmanöver – wunderbar: Die Gefahr wird mit 100-prozentiger Sicherheit beseitigt. Das gibt es in der Medizin ebenfalls nicht. Kein Medikament, keine Chemo, kein operativer Eingriff gibt Ihnen 100-prozentige Gewissheit, nicht doch einen Schlaganfall zu erleiden, vom Krebs dahingerafft zu werden oder am Herzkasper zu sterben.

Die Kosten

Lassen Sie mich noch eine weitere Sache erwähnen, die die Radartechnik zur idealen Früherkennung macht: Sie kostet in Relation zu den Werten, die sie beschützt, nichts. Und auch die präventive Maßnahme – das Ausweichmanöver – kostet praktisch nichts. Die paar Liter Schiffsdiesel, die für die Umfahrung des anderen Schiffes nötig sind, sind ökonomisch irrelevant. Medizinische Früherkennungsmaßnahmen, vor allem wenn sie als Reihenuntersuchungen, als Screenings, auf ganze Bevölkerungsgruppen angewandt werden, kosten allerdings Zigmillionen Euros. Und präventive, vorbeugende Maßnahmen, etwa ein lebenslanger Medikamentenkonsum oder Chemotherapien, sind auch nicht gerade günstig zu haben – wenn man es nett ausdrücken möchte. Schon oft habe ich das Argument gehört, es sei unethisch, bei diesen Fragen über Geld zu reden. In der Regel sagen das komischerweise die, die mit dieser Medizin viel Geld verdienen. Ich bin anderer Meinung. Ich denke, dass es unethisch ist, hier nicht über Geld zu sprechen. Zumal der ganz überwiegende Teil des in Screenings ausgegebenen Geldes de facto sinnlos verpulvertes Geld ist. Und wir müssen in Zeiten knapper Ressourcen (also immer) darüber nachdenken, wie wir Geld effektiv einsetzen und Anwendungen zurückfahren, bei denen Geld verschwendet wird. Schließlich gibt es Bereiche, in denen jeder verwendete Euro tatsächlich hilft, die Situation zu verbessern. In der Pflege beispielsweise.

Aber bleiben wir noch ein wenig auf See und schauen wir, wie sich unsere Begeisterung für die Radartechnik verändert, wenn wir die Bedingungen etwas variieren. Wie sich Nutzen und Risiken verändern und wir in Situationen geraten, die den Verhältnissen bei der medizinischen Früherkennung ähneln. Eine perfekt funktionierende Radartechnik ist etwas Großartiges. Und jeder Reeder wäre ein Idiot, wenn er seine Schiffe nicht damit ausstatten würde. Jeder Kapitän ein Hasardeur, der sich nicht von dieser Technik assistieren ließe. So wie auch jeder normale Mensch grob fahrlässig handeln würde, wenn er eine medizinische Früherkennung, die so gut funktioniert wie die Radartechnik, nicht wahrnehmen würde. Aber was ist zum Beispiel, wenn das Radargerät regelmäßig Geisterschiffe produzieren würde? Wenn die Hälfte der angezeigten Schiffe gar nicht existierte? Ein Verhältnis, das in den meisten Bereichen der Früherkennungsmedizin übrigens schon eine traumhafte »Trefferquote« darstellen würde.

Zwischen Skylla und Charybdis

Ich vermute, Sie würden entscheiden wie ich: Wir nehmen diese mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit falsch positiven Ergebnisse dennoch ernst und fahren das Ausweichmanöver. Schließlich kostet es nichts und ist ohne Nebenwirkungen. Außerdem spielen wir nicht gerne Russisch Roulette. Aber wie entscheiden wir uns, wenn wir uns mit dem 50-Prozent-Radar in einem Gewässer befinden, in dem es nur eine sichere Fahrrinne für ein Schiff unserer Größe gibt? Und das Radar zeigt an: Eines kommt uns entgegen – eventuell. Und wenn die Gefahr, dass wir abseits der Fahrrinne von Klippen den Rumpf aufgerissen bekommen, bei 50 Prozent liegt? Nebenwirkungen der präventiven Strategie! Die Wahl zwischen Skylla und Charybdis. Dann könnten wir das mit der Früherkennung auch gleich lassen. Die Verhältnisse in der Medizin sind aber meist andere. Medizinische Früherkennung – vor allem beim sogenannten Check-up 35 – funktioniert so, dass das Radar 1000 Geisterschiffe anzeigt, bis dann mal ein Treffer dabei ist. Die Ausweichmanöver, die präventiven Maßnahmen, bedeuten zwar in der Regel nicht gleich den katastrophalen Untergang der so massenhaft erzeugten »Kranken«. Aber die Untiefen der vorbeugenden medizinischen Eingriffe hinterlassen doch sehr viel häufiger als angenommen unnötigerweise schwere »Schrammen« und »Leckagen« an den vorsorglich Behandelten. Konkret: Ein lebenslanger Konsum von präventiven Medikamenten – etwa um den Cholesterinspiegel im Blut zu senken – kann erhebliche unerwünschte Nebenwirkungen haben. Eine von vielen Möglichkeiten, durch Früherkennung krank zu werden.

Wir haben bei unserem kurzen Ausflug auf den nebligen Atlantik gesehen, dass Früherkennung ein komplexes Gebiet mit vielen Komponenten ist. Von denen, die Ihnen Früherkennung verkaufen, wird in der Regel immer nur eine Komponente erwähnt: der Nutzen. Und zu selten werden hier verständliche, absolute Zahlen genannt, wie wahrscheinlich es ist, dass Sie tatsächlich zu den Nutznießern gehören. Es werden ja bei den meisten Screenings nur Risiken erkannt und keine sicheren katastrophalen Ereignisse. Wenig werden Sie allgemein zum Thema Schaden hören. Es könnte Sie ja von der Teilnahme am Screening abhalten. Und das ist nicht im Sinne derer, die Ihnen die Maßnahme verkaufen wollen. Wobei ich gar nicht unbedingt jedem Anbieter Bösartigkeit oder Geldgier unterstellen möchte. Die meiste Früherkennungsmedizin wird vermutlich von Ärzten und Ärztinnen in Anschlag gebracht, die absolut davon überzeugt sind, dass sie sich damit um Ihre Gesundheit verdient machen. Allerdings entschuldigt diese Unkenntnis die Mediziner und Medizinerinnen in meinen Augen nur sehr unzureichend. Schließlich sollte ich mich als Spezialist auf einem medizinischen Gebiet einigermaßen auf dem Laufenden halten, was die wissenschaftliche Forschung für Resultate erbringt. Zumal, wenn man an Menschen herumdoktert und bedenkt, dass die Geschichte der Medizin eine Geschichte von Irrtümern ist und dass sich viele medizinische Prozeduren, die plausibel erschienen und lange als der »Goldstandard« galten, bei vorurteilsfreier Überprüfung als verheerende Fehler herausstellten. So wie beispielsweise der Aderlass ganze Heerscharen von Patienten über den Jordan befördert hat.

Deutsche Ärzte sind meist nicht auf dem neuesten Stand

Bei der Orientierung an der evidenzbasierten (wissenschaftlich begründeten) Medizin hapert es bei vielen Ärzten allerdings leider sehr. Nur wenige lesen die englischsprachigen Studien in den einschlägigen Fachjournalen. Fortbildungsveranstaltungen sind häufig von der Industrie gesponsert. Und die hat natürlich kein Interesse daran, Forschungsergebnisse zu kommunizieren, die ihr Geschäftsmodell und ihre Absatzmärkte bedrohen. So wird in der Medizin häufig einfach nach »bewährtem Konzept« weitergemacht, obwohl die Wissenschaft schon auf einem ganz anderen Stand ist und von der Prozedur abrät. Prof. Gerd Gigerenzer, Leiter des Harding-Zentrums für Risikoforschung am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, hat 2012 eine Untersuchung veröffentlicht, in der er die einschlägigen Statistik-Kenntnisse der Ärzte überprüfte.1 Er konnte zeigen, dass drei Viertel der Ärzte das Zahlenwerk nicht versteht, auf dem die Bewertung der Wirksamkeit von Früherkennungsmaßnahmen beruht. Demzufolge »verkaufen« drei von vier Ärzten ihren Kundinnen und Kunden Screenings, deren Nutzen sie in der Regel um ein Vielfaches überschätzen.

Aber schauen wir uns jetzt das erste konkrete Beispiel an. Es wird ein etwas längeres Kapitel. Über das Mamma-Screening: die Brustkrebs-Früherkennung. Denn schließlich ist es das »erfolgreichste« Screeningprogramm in Deutschland. Etwa sechs Millionen Frauen sollten – wenn es nach dem Willen der Anbieter ginge – daran alle zwei Jahre teilnehmen. Immerhin mehr als die Hälfte folgt der Aufforderung. Insofern recht erfolgreich. Die Nutzen-Schadens-Bilanz sieht dagegen weniger gut aus.


1 Gerd Giegerenzer: »Ärzte verstehen Statistiken zur Krebs-Früherkennung nicht, Patienten sind die Leidtragenden, wenn wirkungslose, aber unter Umständen schädliche Verfahren empfohlen werden.« https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/presse/2012/03/neue-studie-aerzte-verstehen-statistiken-zur-krebsfrueherkennung-nicht