Angelika Glitz
Henry und die Sache mit dem Bären
Mit Bildern von Annette Swoboda
FISCHER E-Books
Angelika Glitz wurde 1966 in Hannover geboren, studierte in Münster Betriebswirtschaftslehre und arbeitete einige Jahre in der Werbung. Heute lebt Angelika Glitz mit Mann und drei Kindern in der Nähe von Frankfurt und tut endlich das, was sie eigentlich schon immer tun wollte: Kinderbücher schreiben. Außerdem erfindet sie Geschichten fürs Theater, für Rundfunk und Fernsehen.
Annette Swoboda, geboren 1962, studierte nach dem Abitur Kunst in Frankreich und Graphik-Design in Mannheim und machte viele Reisen in der ganzen Welt. Seit 1988 illustriert sie Bücher für Kinder und Erwachsene.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Ein Projekt der AVA international GmbH
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Illustrationen: Annette Swoboda
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403284-9
Für Julius, wie immer für immer
Ich ging seit sechs Wochen in die dritte Klasse meiner neuen Schule. Sie lag neben einer Weide und war eine Dorfschule mit roten Klinkern und bunt bemalten Fenstern, durch die ab und zu eine Kuh hereinglotzte.
»Eine Schule wie aus dem Bilderbuch«, schwärmte Mama immer. Und ich nickte. Denn auch mir gefiel meine neue Schule eigentlich ganz prima. Auf jeden Fall besser als meine alte in Frankfurt, die ein großer, grauer Klotz gewesen ist. Nur dass ich seit unserem Umzug nicht mehr Fußball gespielt hatte, gefiel mir nicht. Das war eine Katastrophe. Beinahe nicht zu ertragen, wenn man Füße hat, die automatisch gegen alles kicken, was auf dem Boden liegt und rund ist.
Dies war auch der Grund, warum ich eines Morgens meine neue Klassenlehrerin Frau Semmelbach vor dem Lehrerzimmer abfing.
»Ich finde, dass Sie eine sehr nette Lehrerin sind, Frau Semmelbach«, sagte ich.
»Danke«, antwortete sie, »und ich finde, dass du ein sehr netter Junge bist, Henry.«
»Danke«, sagte ich. »Sie haben doch an meinem ersten Schultag zu mir gesagt, dass ich mit all meinen Wünschen zu Ihnen kommen darf.«
»Selbstverständlich«, sagte Frau Semmelbach. »Hast du denn einen Wunsch?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich wünsche mir, dass ich in die Fußballmannschaft der Heroes aufgenommen werde und einen Ball nach dem anderen ins Netz knalle.«
Frau Semmelbach lächelte mich an und strich mir mit ihrer Hand über meine Haare. Ich kenne mich nicht so gut aus in der Welt der Erwachsenen. Aber dass Haaretätscheln nicht auf große Hilfe hoffen lässt, hatte ich bereits herausgefunden. Tatsächlich, da flüsterte Frau Semmelbach auch schon in mein Ohr, damit nur wir beide es hören konnten: »Erzähl es bitte nicht weiter, Henry, ich habe leider überhaupt keine Ahnung von Fußball.«
In unserer Klasse gab es zwei Fußballmannschaften – falls man sie überhaupt so nennen kann. Den einen gab ich den Namen: »Die Kuhfladen«, da wollte ich nicht mitspielen. Die anderen hießen »Die Heroes«, und für die war ich anscheinend unsichtbar.
Hubbi, Winni, David, Anna-Lena und Luisa-Sophia nannte ich deshalb »Die Kuhfladen«, weil sie auf der Weide von Bauer Wolter herumbolzten. Und die ist todsicher voller Kuhkacke, wohin man nur tritt. Ihr Oberkuhfladen hieß Hubbi. Er schaffte es nicht mal, seine Schuhe zuzubinden, ohne dass sie wieder aufgingen. Andauernd flog einer seiner Latschen dem Ball hinterher, und seine Mannschaft musste in Deckung gehen, damit sie keinen Schuh an den Kopf kriegte. Außerdem hatte sich Hubbi an Fasching als Bär verkleidet. Auf dem Klassenfoto vor der Schultafel hockte er mit einem Bärenkopf auf den Schultern zwischen Rittern und Supermännern. Man konnte ihn nur an seinen offenen Schnürsenkeln erkennen. Ich war mir nicht sicher, ob ich das peinlich oder mutig finden sollte.
In einer ganz anderen Liga spielten die Heroes. Das waren Wolf, Arthur, Laslow, Vincent und Hero, ihr Mannschaftskapitän. Sein richtiger Name ist Hieronimus. Aber Hero klingt toller, denn Hero ist Englisch und bedeutet Held. Ich fand, dass das sehr gut zu ihm passte. Stundenlang konnte ich zusehen, wie er mit dem Ball an den Füßen über den Platz fegte. Immer wieder jubelte ich, wenn er in der letzten Minute das entscheidende Tor schoss. Und jeden Abend träumte ich davon, dass er mich fragte, ob ich ein Hero-Spieler werden wollte. Am Rande des Fußballplatzes stand ich mir die Beine in den Bauch und wartete. Auf ein Zeichen. Darauf, dass er mich ansprach. Nur ein Wort. Aber nichts. Hero behandelte mich bloß wie Luft.
Hero quatschte mich das erste Mal mitten im Sachkundeunterricht an.
Es geschah an jenem Morgen, als Hubbi ein T-Shirt mit einem kleinen runden Bärchen auf dem Rücken trug. Wäre es ein T-Shirt mit einem Vogel oder einem Regenwurm gewesen, wäre mir eine Menge erspart geblieben. Aber auf meinem Platz in der vierten Reihe hatte ich Hubbis Bärchen direkt vor der Nase.
»Heute wollen wir über Haustiere sprechen und wie man für sie sorgt«, verkündete Frau Semmelbach.
Da sank meine Laune in den Keller. Hier auf dem Land schien jedes Kind außer mir Haustiere zu haben. Väter mit Tierhaarallergien gab es wohl nur in der Stadt. Leon hatte fünf Katzen, mit denen er täglich schmuste. Wolf fütterte drei Blindschleichen mit Heuschrecken. In Phillips Garten pickten zwanzig Hühner umher. Hero züchtete Ratten, die andauernd aus dem Käfig entwischten. Und auf Hubbis Füßen schlief jede Nacht ein großer und echter Hund. Er hieß Püppi, hatte viele Haare und konnte Kunststücke.
»Hunde lernen schnell, denn sie sind sehr schlau«, erklärte Hubbi. »Ihr Gehirn hat nämlich die Größe einer Pampelmuse.«
Ich fand die Welt ungerecht. Sogar Hubbi bekam von einem Riesentier die Füße gewärmt. Vielleicht hatte sich der liebe Gott gedacht, dass jemand, der nicht mal sein Unterhemd ordentlich in die Hose stopfen konnte, wenigstens einen anständigen Hund braucht.