Daniel Odier

FREUDE

Das Glück im Herzen der Dinge entdecken

DANIEL ODIER

FREUDE

Das Glück im Herzen der Dinge entdecken

Daniel Odier (Ming Qing) ist ein Meister der chinesischen Xu Yu und Zhao Zhou Linie und wurde von Meister Jin Hui ordiniert. Er unterrichtet außerdem die Spanda Linie des kaschmirischen Shivaismus und den mystischen Tanz Tandava, die er beide von der Yogini Lalita Devi übertragen bekam. Diese zwei Schulen sind klar in seiner Lehre ersichtlich, welche jegliche spirituelle Illusion vernichtet. Daniel lebt in Barcelona, wo er regelmäßig im Kannon Gyo Center unterweist. Er gibt Seminare in Europa, USA und Lateinamerika.

INHALT

Vorwort

1. Eine Befragung über die Freude

2. Die organische Freude

Fragen an unseren Körper

3. Die innere Stille entwickeln

Fragen an den Verstand

4. Die Überprüfung der Überzeugungen und Gewissheiten

5. Haben wir die Wahl?

Überprüfung unserer Wahl

6. Nach der Wahrheit suchen

Was bleibt, wenn wir unsere Wahrheiten aufgeben?

7. Die Sponaneität und die Angst

Wovor habe ich Angst?

8. Die Illusion der Veränderung

Bin ich heute wirklich anders?

9. Die Macht des Begehrens

Welches sind meine stärksten Wünsche?

10. Das Wirkliche

Das unmittelbar Wirkliche

11. Gedanken, Emotionen, Empfindungen

Beobachtung der Gedanken, Emotionen und Empfindungen

12. Ein Gewahrsein der Welt entwickeln

Gewahrseinstest

13. Die Freude, eine größere Vollkommenheit?

Die Auswirkungen der Freude

14. Ein Gleichgewicht zwischen Autopilot und Bewusstsein

Ein Risiko eingehen und seine Folgen

15. Die schöpferische Freude

Bin ich ein Künstler?

16. Die Reintegration des Chaos

Meine Abstecher in die Kreativität des Chaos

17. Das Bewusstsein

Praxis des Bewusstseins

18. Die Liebe

Die Liebe betreffend

19. Der Körper/Geist

VORWORT

In den letzten zwanzig Jahren habe ich in Europa, den Vereinigten Staaten und in Südamerika gelehrt. Es wurde mir allmählich klar, dass die Unterweisung selber, die ja eigentlich zur Befreiung führen sollte, nichts anderes bewirkte als eine weitere Festlegung auf eine neue Welttheorie, und nun ihrerseits Bindungen schuf, die die Menschen in einem geschlossenen Universum beließen.

Mit fünfzehn Jahren habe ich durch die großartigen Essays von D. T. Suzuki den Zen-Buddhismus entdeckt. Von dieser Zeit an empfand ich die bilderstürmerische Kraft der alten chinesischen Meister, die eine totale Loslösung von allen religiösen Überzeugungen priesen, den Buddhismus inbegriffen; aber ich war noch zu jung, um darauf zu verzichten, mir ein „ideales“ System zum Erreichen des inneren Friedens zu konstruieren.

Anschließend gehörte ich zur ersten Welle der westlichen Invasoren, die sich auf die Entdeckung der Weisheit kreuz und quer durch Indien begab. Ich begegnete dem Dzogchen, das durch Dudjom Rinpoche und Chatral Rinpoche inkarniert war, dem Vijnanabhairava Tantra, dank des chinesischen Yogi C. M. Chen, und schließlich dem Vajrayana in der Unterweisung desjenigen, der mein Meister werden sollte – Kalu Rinpoche. Während sieben Jahren bin ich diesem Weg gefolgt und habe viel von diesem wunderbaren Menschen gelernt, der eine vollkommene Liebe ausstrahlte. Nach und nach schien mir die magische Welt der Tibeter zu weit vom westlichen Denken entfernt, und ich habe mich dem Shivaismus aus Kaschmir zugewandt, dessen von jeglichem Gepräge beraubte Philosophie mich zutiefst berührte. Ich begegnete Lalita Devi, einer Yogini, die als Einsiedlerin lebte und mir den Weg des Spanda und des Pratyabhijna übertrug. Ihr ganz direkter Ansatz ging geradewegs zum Ziel und entging allen spirituellen Fallen. Sie ließ die Konditionierungen explodieren, brachte die Ängste ans Licht, zwang einen zur Kühnheit und zerstörte den gekünstelten Menschen durch einen königlichen Zugang zur Spontaneität. Das war kein Ansatz, bei dem ich lernte, sondern eher die recht ungezähmte Einführung in die Kargheit, in die Aufgabe aller Fixierungen. Es ging darum, wieder ein der Welt zugewandter Mensch zu werden, lebendig, begehrend, leidenschaftlich und ohne auch nur die geringste Anmaßung, etwas anderes als ein spontanes Lebewesen zu sein.

Nach unserer Trennung und angesichts der Unmöglichkeit, sie wiederzufinden, habe ich von Neuem den Ruf des Zen verspürt und bin diversen Gemeinschaften beigetreten, um die Praxis zu vertiefen. Ich habe die Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie es das Bewusstsein einschränkte, an Überzeugungen und Regeln zu hängen. Wie sich in mir die Systeme wieder aufbauten und wie dieses ständige Streben jegliche authentische Freiheit verhinderte. In diesen spirituellen Kreisen herrschte jeweils ein Konformismus und Puritanismus, der mir zu „religiös“ war. Mich befriedigten weder meine Suche noch meine Praxis. Es fehlte ein wesentliches Element – die Freude.

Beim Unterweisen habe ich die Schwierigkeit gesehen, nun nicht meinerseits Systeme aufzubauen, die jenen ähnelten, die mich auf meiner Suche begrenzt hatten. Ich sah, wie meine Schüler erbarmungslos unserer Tendenz folgten, immer wieder neue konzeptionelle Grenzen zu errichten, Kenntnisse und Erfahrungen aufzuwerten.

Im Lauf der Jahre und in dem Maße, wie ich dem Chan (chinesisches Zen) und der Essenz des kaschmirischen Shivaismus näher kam, wurde ich immer mehr zum Bilderstürmer und verwandelte mich in einen spirituellen Anarchisten, dessen einziger Ehrgeiz darin bestand, zu einer authentischen Freiheit zu gelangen, die den eingeschlagenen Weg vergessen ließ. Ich vergegenwärtigte mir oft die Worte von Montaigne. „Ich bin Mensch, und nichts Menschliches liegt mir fern.“

Es schien mir immer offenkundiger zu sein, dass man allen Begrenzungen entkommen muss und die Freude das Einzige ist, wohin man ganz von alleine strebt. Der spirituelle Diskurs erschien mir wie eine verhängnisvolle Falle. Die Begegnung mit alten Meistern aus der Tang-Dynastie machte mich für die verrückte Freiheit immer offener.

2005 begab ich mich nach China, um den einzigen noch lebenden Nachfolger Xu Yuns, des emblematischen Meisters des 20. Jahrhunderts, zu treffen. In der Person von Jing Hui sah ich die Freiheit der Vorfahren inkarniert. Ich wurde sein Schüler und erhielt die Übertragung zum Chan-Meister.

Von aller Zugehörigkeit befreit, versuche ich seitdem einfach, den Menschen, denen ich begegne, zu helfen, die Spontaneität, Freiheit und Freude wiederzufinden.

1.

DIE FREUDE IM HERZEN ALLER DINGE

Die Freude belegt einen zentralen Platz auf der Suche nach dem Absoluten, die dem ganzen Leben zugrunde liegt. Sie ist weder mit dem Vergnügen noch mit dem Glück zu vergleichen, die von äußeren Faktoren abhängen und vergänglich sind. Die Freude bildet den Mittelpunkt aller Suche und ist gleichzeitig die deutlichste Bekundung, dass ein Mensch die Harmonie erreicht hat, nach der ihn Philosophie, Kunst oder spirituelle Praxis haben streben lassen.

Was die Freude so besonders macht, ist, dass sie, wie alle wesentlichen Dinge, wiederentdeckt werden kann. Es scheint, dass wir mit dieser inneren Fähigkeit geboren werden, doch die Konditionierungen, denen wir uns unterworfen haben, uns dazu bringen, dieses grundlegende Gut zu vernachlässigen, um flüchtigere Vergnügungen zu suchen. Nach und nach lassen uns die von Vergnügen und der ein wenig künstlichen Vorstellung von Glück verursachten Enttäuschungen die Freude vergessen, die eine aufmerksame und beständige Kreativität erfordert.

Wenn man einen Menschen findet, der in der Realität verankert ist, wird man beobachten, dass allein die Freude unabhängig von jeglichem äußeren Faktor ist. Sie erstrahlt unabhängig von äußeren Gegebenheiten, und obgleich sie unbeständig ist, kann sie nichts zunichtemachen. Ihre Kraft kommt von ihrer Ungebundenheit. Sie ist zugleich das Gegenteil von Traurigkeit und Melancholie und hat mit diesen gemein, in keinem direkten Zusammenhang mit unseren Lebensumständen zu stehen. Weder der fröhliche noch der melancholische Mensch brauchen positive oder negative Gegebenheiten, um in ihrem Zustand zu baden.

Man wird sich dann fragen, wo diese Unabhängigkeit herrührt. Die Freude setzt einen Reichtum an Verbindungen voraus, die Wahrnehmung von vielfachen Faktoren, die die Einwirkung von Enttäuschung und Traurigkeit aufhebt. Diese befindet sich isoliert inmitten eines Schwarms von Glückseligkeit. Die Freude ist mit dem Gewahrsein der Welt verbunden. Sie leitet sich direkt davon ab. Die Freude wiederzufinden erfordert, die Rückkehr beziehungsweise die Entwicklung unserer Fähigkeit, den größten Bereich der Wirklichkeit, der sich in unserer Reichweite befindet, zu umfassen. Es existiert eine Praxis der Freude. Es gibt auch zahlreiche Hindernisse an der Freude, die eines nach dem anderen entfernt werden können, vorausgesetzt man hat eine tiefe Einsicht und eine klare Wahrnehmung.