Dotschy Reinhardt

EVERYBODY’S GYPSY

Popkultur
zwischen Ausgrenzung
und Respekt

Metrolit

Impressum

ISBN 978-3-8412-1895-7

Aufbau Digital, 2020

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2020

Die Originalausgabe erschien 2014 bei der Metrolit GmbH & Co. KG, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

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Einbandgestaltung Meiré und Meiré, Köln

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Vorwort

Everybody’s Gypsy

»Feuer im Blut« – Ugly Gadjo

»Spiel, Zigeuner«

Klischees lassen sich besser verkaufen

I HEART GYPSY – überall

»Don’t call it Zigeunerschnitzel«

»Was steht eigentlich in Ihrem Pass?«

Musik

Asphalt Tango – »Leading Voice of Balkan Beat«

Gogol Bordello – »The Gypsy Punk«

RotFront – »Gay, Gypsy & Jew«

Goran Bregović – »Champagne for Gypsies«

Party Zigan – zu Besuch im Kaffee Burger

Berlin, Berlin – Marsimoto auf Abwegen

TV und Film

»Bigger, fetter & gypsier« – ist das noch Unterhaltung oder schon Trash?

Frauentausch – unterwegs in den Niederungen deutscher Fernsehunterhaltung

Talk, talk, talk – als Gast in den Shows der Öffentlich-Rechtlichen

Inside Babylon

Cineromani

Literatur, Mode, Kunst

Cervantes & Co. – frühe Zeugen der »Zigeuner«-Klischees

Wer nicht fragt, bleibt dumm

»Die einzige Methode gegen Vorurteile ist Wissen«

Schnittmuster Esmeralda

Manoush und Co. – zeitgenössisches Modedesign

In der Galerie Kai Dikhas

Ein Blick zurück

Von Indien nach Europa – die lange Reise der Sinti und Roma

Auf Spurensuche

Go West – Texas Gypsy Fire

Kleine und große Politik

Roma im Parlament

Kleine Hilfe mit großer Wirkung – BuKi

Empowerment der eigenen Leute

Das Theater-Café RromaA.K.T.

Lebendige Erinnerung

Zerrissenes Herz

Stille Helden

Romanistan – ein Gespräch mit Lith Bahlmann

Trollmanns Kampf

Vom Denkmal ins Boxcamp

Das »Zigeunerhäusle«

»Gypsy«-Lifestyle in den Metropolen

London – Django-Jam-Session in der Quecum Bar

Paris – im Cirque Romanes und auf den Spuren von Django

New York – viel Musik und ein Besuch bei Ol’ Blue Eyes

Anmerkungen

Über das Buch

Über die Autorin

Vorwort

Zunächst möchte ich gerne mit einem Mythos aufräumen, welcher sich um mein Volk rankt: dass alle Sinti oder Roma fantastische Musiker sind, ist eine falsche Behauptung und nur eines der vielen Klischees, die es über uns gibt. Auf die meisten Menschen trifft das nicht zu, auch nicht auf Sinti oder Roma. Aber wenn es darum geht, Gefühle wie Trauer oder Freude durch die Musik auszudrücken, kann das vermutlich niemand besser als eine Person, die von ganz unten kommt. Warum? Weil großartige Kunst oftmals etwas mit Armut, Schicksalsschlägen, Unterdrückung und Grausamkeit zu tun hat. Dies sind wesentliche Erfahrungen von Sinti und Roma, aber auch von Angehörigen anderer Minderheitsgruppen. Nicht selten, mit letzter Kraft, versucht man überall dort, wo Menschen unterdrückt werden, seinem Schmerz Raum zu geben, in dem man seinen Gefühlen freien Lauf lässt. In der Musik und Kunst konnten viele Betroffenen die Dinge ausdrücken, über die sie nicht reden wollten oder konnten, und haben etwas Hässliches in etwas Kostbares, Schönes verwandelt. Genauso verhält es sich mit der überschäumenden Freude: Nur wer die Kehrseite der Medaille kennt, weiß auch um Freude und wahres Glück.

Wir wurden nicht angesiedelt, durften nicht sesshaft werden, wurden unterdrückt. Dabei haben wir die europäische Kultur mitgeprägt und viel zu ihrer Entwicklung beigetragen. Nicht nur in der Musik, aber dort sind Sinti und Roma schon sehr lange etabliert und sichtbar: Wir gaben Spanien den Flamenco, Rumänien den T’aven Baxtale und Polen die Polka. Keinen dieser traditionellen Volkstänze würde es so geben, wären die Sinti und Roma nicht vor rund 900 Jahren von Indien nach Europa gereist. Auch großartige Komponisten wie Franz Liszt haben sich von unserer Musik inspirieren lassen.

Dieses Buch dient nicht dazu, bei Ihnen künstlich irgendwelche Sympathien für Sinti oder Roma zu wecken, Sie brauchen also nicht die ganze Sinti- und Roma-Community nach neuen Freundschaften zu durchsuchen. Niemand sollte sich seine Freunde auf Grund ihrer Herkunft aussuchen, sondern wegen ihrer persönlichen Eigenschaften. Es geht auch nicht darum, Sinti oder Roma generell in die Opferrolle zu drängen: »Die armen, diskriminierten Sinti und Roma, sie sind ja so bedauernswert, dass man sie mit Samthandschuhen anfassen muss.« Nein, nicht so. Es gibt natürlich auch reiche Sinti und Roma, die in der Mitte der Gesellschaft stehen.

Es geht vielmehr darum, Angehörige dieser Minderheit überhaupt als gleichberechtigte Bürger und Menschen wahrzunehmen, sie als Individuen zu respektieren, ihnen unaufgefordert ihre Bürger- und Menschenrechte zuzugestehen und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Dies beinhaltet auch das Recht auf freie Entfaltung der Person.

Allerdings ist das in der Gesellschaft noch nicht angekommen, auch nicht bei den politischen Partein. Allen voran von der CSU wird sehr konstant und leidenschaftlich eine »Hetz-Kampagne« gegen Roma geführt. Umso mehr seit der am 1. Januar 2014 geltenden Arbeitnehmerfreizügigkeit, der vollständigen Öffnung des Arbeitsmarktes auch für Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien.

So werden EU-Bürger, die in unser Land kommen, schon im Vorfeld unter Generalverdacht gestellt, Sozialbetrüger und Kriminelle zu sein. Damit sind natürlich auch und vor allem »die Roma« gemeint, die größte Gruppe unter den »Armutszuwanderern« aus den südosteuropäischen Ländern. Eine unsachliche Debatte wird von der Union, vor allem von der CSU, mit einem Stammtisch-Jargon aus der untersten Schublade geführt: »Wer betrügt, der fliegt«, so das Motto. Was zu Recht einen Sturm der Empörung ausgelöst hat. War es doch auch Herr Seehofer, der schon im März 2011 verlauten ließ, sich gegen die »Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme … bis zur letzten Patrone« zu wehren? Vor den Landtags- und Europawahlen lässt es sich die CSU nicht nehmen, rassistische Feindbilder heraufzubeschwören, um so auch die Wähler am rechten Rand für die Partei zu gewinnen.

Aber machen wir uns nichts vor, oft hat die sogenannte Mehrheitsgesellschaft ein vorgefertigtes Bild von den mancherorts immer noch als »Zigeuner« oder »Gypsys« Bezeichneten. Diese von Klischees überladenen Vorurteile haben nicht nur zu romantisierten Trugbildern über ein Volk geführt, dessen Vergangenheit eher von der Bewältigung ihres schweren Lebens als von Romantik geprägt war. Auch Feindbilder sind so über die Jahrhunderte hinweg entstanden und haben etwa aus dem »Zigeuner« einen »Zieh-Gauner« gemacht, einen Tagedieb, der nichts als Unheil im Schilde führt: »Holt die Kinder rein, die Zigeuner kommen.« Und aus der Sinteza wird eine geheimnisvolle, heißblütige und schamlose »Wahrsage-Zigeunerin«.

Solche Vorurteile sind heute noch weit verbreitet. Teils werden sie klar als Beleidigung ausgesprochen, teils werden sie im neuen Gewand im Fernsehen gesendet, auch in kulturellen Bereichen wie Mode, Musik, Literatur und nicht zuletzt im Alltag kommen sie vor – latenter Rassismus mitten in unserer Gesellschaft.

Das Label, das Image der »Gypsys« wird mittlerweile in fast allen Lebens- und Geschäftsbereichen, vor allem aber in Unterhaltungsindustrie und Medien oft und gerne dafür verwendet, das eigene Produkt zu vermarkten. Stereotypen werden inszeniert, produziert und verbreitet, um zum Stigma für jeden einzelnen Rom und Sinto zu werden. Doch das scheint keine Rolle zu spielen. Vielleicht nehmen die handelnden Personen ja an, dass eine Minderheit, die seit Jahrhunderten an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde und lange keine Rechte hatte, auch heutzutage nichts an ihrem erfahrenen Unrecht zu ändern vermag …

In diesem Buch möchte ich zeigen, wie gelebte Kultur von Sinti und Roma wirklich aussieht. Ich habe dazu viele Menschen gesprochen, die in den Bereichen Musik, TV und Film, Literatur, Mode und Kunst tätig sind. Daneben möchte ich zeigen, wie eine Erinnerungskultur zukunftsweisend sein kann, wie Sinti und Roma gegen alle Klischees ihren Platz in der Gesellschaft behaupten und welche Probleme sie in anderen Ländern haben – oder gerade nicht.

Everybody’s Gypsy

»Feuer im Blut« – Ugly Gadjo

Ich kenne die Männer, die an der Bar sitzen. Es sind die bekanntesten »Manouche-Gitarristen«, die der »Gypsy-Swing« zurzeit zu bieten hat: das Rosenberg-Trio etwa, Dorado Schmitt und der Jazzgitarrist Biréli Lagrène. Die meisten von ihnen sind Franzosen oder Belgier, so wie ihr großes Idol, der Sinti-Gitarrenvirtuose Django Reinhardt, der in den dreißiger bis fünfziger Jahren für großes Aufsehen in der internationalen Musikwelt sorgte und bis heute zu den bekanntesten Jazzmusikern der Welt zählt. Sie haben weltweit Karriere gemacht. Jeder verdient meinen Respekt, das gilt auch für die anderen, weniger bekannten »Django-Anhänger« und selbstverständlich für die »Hobby-Gypsys«. Letztere zeigen sogar einem echten Sinto oder Rom, wie man die unvermeidlichen Klischees als »Gypsy« gefälligst auszufüllen hat: eben möglichst »authentisch« …

»Du bist keine Zigeunerin«, sagt der Geiger an der Bar zu mir. Diesmal ist es eine andere Bar, in der ich – selbst Jazzmusikerin – gerade mein Konzert erfolgreich beendet habe. »Ick bin en Zigeuner, ich hab Feuer im Blut. Als Zigeunerin musste doch heiß und leidenschaftlich sein.« Damit ich wenigstens nicht in den Bereich seiner bierverpesteten Fahne gerate und auch kein weiteres meiner Sinnesorgane von ihm belästigt wird, drehe ich mich noch weiter von ihm weg. Der Teller Boudoir Noir mit Kartoffelstampf, den der Kellner vorsichtig zwischen meine auf dem Tresen aufgestützten Ellbogen schiebt, und mein Wein werden mich schon ganz schnell in wohligere Geschmacksebenen katapultieren, weit weg von diesem Menschen und seinem Zigeunergefasel. »Du bist keine Zigeunerin!«, sagt er erneut und betrachtet mich mit einem fast verächtlichen Blick, dabei unsicher auf den Füßen. Er ist betrunken und wütend, und er fühlt sich betrogen wie so viele andere, weil ich seiner Vorstellung einer »feurigen Zigeunerin« nicht entsprochen habe.

Als mein innerliches Wutthermometer plötzlich von null auf hundert hochschießt, möchte ich mich am liebsten zu diesem »ugly Gadjo«1 umdrehen, um ihm einen ordentlichen verbalen Faustschlag zu verpassen, der sich für seinen zukünftigen Psychiater als finanzieller Glücksfall herausstellen könnte. Es hätte nur noch gefehlt, dass er sagt: »Du bist keine von uns!« Ja, das Gefühl kennen ich und viele Sinti und Roma nur zu gut: nicht dazuzugehören.

Aber in einem Punkt hatte er zumindest recht: Ich bin keine Zigeunerin, ich bin Sinteza.

»Spiel, Zigeuner«

Etwas abwesend nehme ich am nächsten Morgen, eingehüllt in einen Nebel nachwirkender Traumatisierung, einen ersten Schluck von einem viel zu schwach aufgebrühten Kaffee. Während ich diesen nur Sekunden später mit einer unkontrollierten Bewegung über den ganzen Tisch schütte, stellt sich mir die Frage: »Dürfen wir wirklich nur dazugehören, wenn wir die Vorstellungen dieser Mehrheitsgesellschaft erfüllen?«

Yasmin reagiert nicht. Auch gut, es war ohnehin eher eine rhetorische Frage an meine Freundin, die gerade voll konzentriert damit beschäftigt ist, den Kaffeesee auf unserem Tisch mit einem halben Küchentuch aufzuwischen. Das würde ja bedeuten, dass Sinti und Roma, die zu ihren Wurzeln als solche stehen und ihre Herkunft nicht verstecken, keine künstlerische Freiheit in Anspruch nehmen dürften. Somit gäbe es für sie kaum Freiräume zur Entfaltung und zur künstlerischen Selbstverwirklichung. Freiräume, die andere Menschen ganz selbstverständlich nutzen können, dabei neue Stereotypen erfinden, die alten neu inszenieren, um sie selbst zu verkörpern. Das gilt dann als innovativ oder künstlerisch wertvoll. »Ja«, sagt Yasmin, die nun mit nassen Papiertüchern in der Hand den Boden volltropft. »Dazu kommt noch, dass Sinti und Roma, die künstlerisch neue Wege gehen, für die Medienwelt und die Industrie meist unattraktiv sind. Sie wollen anscheinend nur Leute haben, die dazu bereit sind, den Klischees zu entsprechen.« Nur wer sich darauf einlässt, schwimmt auf der Oberfläche der medialen Weltmeere. Echte Sinti- und Roma-Künstler werden in diesem Szenario oft allenfalls als Randfiguren wahrgenommen.

Klischees lassen sich besser verkaufen

Noomi Rapace hat sich auf ihre Rolle als Madame Simza laut eigener Aussage gewissenhaft und professionell vorbereitet. Die schwedische Schauspielerin hatte eine Romni gebeten, ihr den Roma-Tanz und die Roma-Sprache beizubringen, um die Rolle der »Zigeunerin« im Kino-Blockbuster Sherlock Holmes: Spiel im Schatten einzustudieren. Sie spielt in diesem Film die kämpferische, heißblütige und bildschöne »Wahrsage-Zigeunerin« mit schwarzen, lang wallenden Haaren – wie so viele Schauspielerinnen vor ihr. Die Sympathien vieler Zuschauer dürften ihr trotzdem sicher sein. Wird doch deren Bild einer Zigeunerin wieder einmal genau bestätigt. Guy Ritchie, der Regisseur, hatte schon in seinem Film Snatch das Leben der »Zigeuner« zum Thema. Der irische Sinto wird in Snatch von Brad Pitt gespielt. Natürlich will Ritchie, dass seine Filme erfolgreich sind. Er bedient nur die Nachfrage und liefert die Bilder, die die Allgemeinheit mit dem Thema »Zigeuner« verbindet: eben all die Mythen rund um das Nomadenvolk. Immer wieder werden alte »Zigeuner«-Stereotypen, die nicht wehtun, neu belebt. Dabei wird ausgeblendet, dass Sinti und Roma jahrhundertelang verfolgt und von den Nazis umgebracht wurden.

Es sind die bunten Folklore-Szenarien, die mitreißenden »Gypsy-Beats«, die halb nackten, glutäugigen vermeintlichen »Gypsy Girls«, die beim Publikum ankommen – garniert mit Attributen wie »feurig«, »leidenschaftlich«, »frei«, »wild«, »geheimnisvoll« und »verwegen«, um nur einige zu nennen. Das weiß auch die Musikindustrie. Aber ist es reine Berechnung, wenn etwa die Popsängerin Shakira sich in einem eher komischen, sehr dürftigen Bauchtänzerinnen-Outfit räkelt und verlauten lässt: »Cause I’m a Gypsy …«? Oder wenn Lady Gaga einen der Songs auf ihrem Album Artpop »Gypsy« nennt? Oder sitzen sie einfach nur den üblichen Klischees auf? Es mag auch keine böse Absicht dahinterstecken, wenn Annett Louisan mit Leidenschaft und voller Inbrunst eine deutsche Version von Charles Aznavours »Spiel, Zigeuner« zum Besten gibt:

»Spiel Zigeuner, spiel für mich,

Heiß, so heiß wie Feuer.

Wenn ich deine Lieder hör’,

Schmeckt mir der Tokaier.

Lach doch mit mir, und wein’ doch mit mir.

Dann steht mein Herz in Flammen.

Heut ist heut, Tsigano.«

Endlich sagt Yasmin auch mal was: »Das stimmt schon. Und gerade deshalb wollen die Medien ihre erfundenen Zigeunerklischees von solchen Leuten verkörpert haben, die in Wirklichkeit keine Ahnung von uns und unserer Kultur haben.«

Komischerweise fallen mir auch gleich einige Sinti- und Roma-Musiker ein, die tatsächlich einschlägige Erfahrungen gemacht haben und keine Auftritte und keinen Plattenvertrag bekamen, weil sie ihre eigene Musik machen und sich nicht auf das typisch »Zigeunerhafte« reduzieren lassen wollten. Es wundert daher nicht, dass mancher Sinti- oder Roma-Künstler – hin- und hergerissen zwischen Idealismus und Selbstausbeutung – seine Sinti- oder Roma-Wurzeln einfach leugnet, um von Major-Plattenlabeln oder von den Medien in erster Linie als Künstler wahrgenommen zu werden. Nicht als »Gypsy«, der in eine Schublade gesteckt werden muss. Oder in andere diskriminierende Schubladen. »Elektro-Neo-Swing« etwa ist in der urbanen Clubszene der neue Hype. Die Band Analogik integriert in ihrem Song »Gypsy Doodle« Elemente aus dem Gypsy Swing in der Tradition des Gitarristen Django Reinhardt. Auch die erfolgreiche Sängerin Zaz weiß sich gekonnt bei Stilelementen des französischen Gypsy Swing zu bedienen und in ihren Pop einfließen zu lassen. Dagegen, dass Gypsy-Sounds und die Klezmer-Musik konstituierende Bestandteile des aktuellen und erfolgreichen Balkan-Beat-Pops sind, ist bestimmt nichts einzuwenden. Dass das auch ohne die altbekannten Inszenierungen geht, beweist die Berliner Plattenfirma ASPHALT TANGO, die wir später noch kennenlernen werden.

I HEART GYPSY – überall

Erstaunlich viele Bands und Künstler jeder Musikrichtung bedienen sich gerne des Labels »Gypsy«, in Bandnamen oder Musiktiteln: Chers »Gypsys, Tramps & Thieves«, Jimi Hendrix’ »Band of Gypsys«, Uriah Heeps »Gypsy«, Michael Franks »Dream Gypsy«, Al di Meolas »Elegant Gypsy«, James Carters »Chasin the Gypsy« und so weiter und so fort.

Doch nicht nur in der Musik begegnen wir den Klischees. Schließlich wird »Gypsy« in vielen Bereichen als Label genutzt.

Wenn man bei ebay.com »Gypsy« in die Suchleiste eingibt, kann man da ein Sammelsurium an Dingen finden, die unter diesem Begriff laufen. Bunte, lange Damenröcke, schulterfreie Blusen, Bauchtänzerinnen-Outfits, eine tragbare Grillpfanne namens »Gypsy Pan«. Eine Wanduhr, auf der man verschwommen den Kopf einer »Gypsy«-Frau – umgeben von einer Orakelschrift – sieht. Deshalb nennt sich das gute Stück wahrscheinlich auch »Gypsy Paranormal Ghost Hunting Oracle«.

Ich staune nicht schlecht, dass es sogar eine Motte gibt, die »Gypsy« heißt. Wegen ihrer eurasischen Herkunft wahrscheinlich. Eines der wenigen Tiere, vor denen es mich richtig schaudert. Ist eine Motte in der Nähe, mache ich die Fliege. Immer noch kommt es in lauen Sommernächten vor, dass ich meine Mutter mitten in der Nacht aus ihrem Schlafzimmer klopfe, wenn ich dort zu Besuch bin, weil sich ein wild flatternder Nachtfalter in meinem Zimmer verirrt hat, den sie dann schlaftrunken einzufangen versucht. Es überrascht mich nicht groß, dass es sogar eine Londoner Independent-Band gibt, die sich »Gypsy Moth« nennt.

Auch in der Welt des Computergamings wird kräftig mit »Zigeuner«-Klischees gespielt, zum Beispiel in The Tower of Secrets – A Gypsy’s Tale, Assassin’s Creed oder Figuren in verschiedenen Versionen oder Add-ons von Die Sims. Es gibt dort etwa die Figur des »Gypsy Matchmaker«, bei Assassin’s Creed: Revelations die Fraktion der Romani (Feuerspucker, Musiker, Tänzer) und so weiter. Das ist zwar vergleichsweise harmlos, die Stigmatisierung einer Bevölkerungsgruppe wie der Sinti und Roma wird dabei aber wie so oft unterschätzt oder ignoriert. Ob die Klischees von den Usern und Käufern als Realität wahrgenommen werden oder nicht, ist dabei egal. Die Stereotypen – »feurige Zigeunerinnen«, »Wahrsagerinnen« oder zwielichtige Typen oder »Schergen« – werden auch hier reproduziert.

Bei Electronic Arts in Köln, die Firma, die Die Sims vertreibt, frage ich nach. Der freundliche Herr aus der Presseabteilung sichert mir vorab schon einmal zu, dass hinter der Darstellung von »Gypsys« im Spiel kein böser Gedanke der Spielemacher stehe.

Später erhalte ich eine schriftliche Stellungnahme von EA: »In der virtuellen Welt der Sims-Spiele existieren grundsätzlich keine realen Ethnien, Religionen oder politischen Einstellungen, sondern lediglich individuelle Charaktereigenschaften, Körpermerkmale und Bekleidungsoptionen, deren Kombination und Festlegung jedem Spieler bei der Gestaltung seiner Spielfigur frei überlassen ist. Das Spiel erinnert an ein virtuelles Puppenhaus. Dabei wird immer wieder auch mit Versatzstücken gearbeitet, die zum Teil aus kindlichen Rollenspielen oder auch aus der Märchenwelt stammen. Der Tod wird beispielsweise als Sensenmann dargestellt, kommt es zu kleinen Kämpfen, erscheint eine Rauchwolke. Alles das sind gleichsam Vokabeln, die verstanden werden, deren ursprünglicher direkter gesellschaftlicher oder politischer Bezug aber verblasst ist, so dass er eigentlich kaum noch vorhanden ist – jedenfalls nicht gemeint ist. Die Tätigkeit oder Rolle einer Spielfigur ist seitens des Spiels also in keiner Weise an ihr Erscheinungsbild gebunden, sondern wird nur durch die Entscheidungen des Spielers gesteuert. Durch die Vielzahl an Optionen, die die Sims-Reihe bereitstellt, soll der Kreativität und der Fantasie des Spielers ein größtmöglicher Spielraum gewährt werden, um die Entstehung von Stereotypen gerade zu vermeiden.«

Nun, wenn Stereotypen vermieden werden sollen, warum lässt sich dann in den Spielen immer wieder die »Zigeunerin« oder »der Zigeuner« finden? Und man kommt auch nicht wirklich darum herum, sie im Spiel zu treffen, etwa wenn man in Die Sims 2: Nightlife einen Liebestrank erstehen möchte. Und in Sims-Foren kann man eben sehen, dass die »Zigeunerin« nur selten blonde Haare oder einen Kurzhaarschnitt hat. Bei den zumeist jungen Gamern sieht die »Sinteza« irgendwie immer gleich aus: mit langen, dunklen Haaren, langem Rock, Kopftuch, großen Ohrringen und Amuletten.

In den USA begegnet man sogenannten »Gypsy Food Trucks«. Das sind eigentlich nur mobile Imbisswagen, die umherziehen. Manchmal trifft man sich auch zum »Gypsy Food Picnic« oder gar zum »Gypsy Picnic Trailer Food Festival«, ein Groß-Event in Texas. Dutzende Hobbyköche und auch professionelle Köche stellen sich auf ein riesiges Gelände und bieten »Meals on Wheels« verschiedener Sorten an: Asian Food, Tex-Mex-Essen, Italienisch, natürlich Barbecue. Dazu gibt es viel Musik, »handcrafted beer« und eine Rodeo-Show. Mit den kulinarischen Gewohnheiten der Gypsys hat das alles also – wer hätte es geahnt – herzlich wenig zu tun. Die Amis nennen komischerweise mexikanisch zubereitetes Essen oft »Gypsy Food«, manchmal auch Fastfood oder beides zusammen.

Zurück in Berlin. Ich stehe vor einem Ölgemälde des französischen Malers Henri Rousseau (1844–1910), er gilt als Gründer der »Naiven Kunst«. Das Gemälde »Die schlafende Zigeunerin« (1897) ist normalerweise im Museum of Modern Art in New York ausgestellt. Es ist ein Glücksfall, dass ich das Bild in Berlin sehen kann, im Rahmen der MoMA-Ausstellung »Die schönsten Franzosen kommen aus New York«.

Ich wundere mich zunächst nicht, als ich das Motiv der schlafenden Zigeunerin irgendwann in einem Bekleidungsgeschäft auf einem T-Shirt sehe. Doch dann sehe ich die anderen Drucke, die an Dutzenden schwarzen Plastikkleiderbügeln an der Stange hängen: »Der Gnom-Zigeuner«, »Werwolf Gypsy«, »Nur Zigeuner fahren Benz«, »Blame it on the Gypsy in me«. Damit nicht genug, von Schlüsselanhängern über Kaffeebecher bis zu Tarotkarten wird hier alles Erdenkliche rund um das Thema »Gypsy« angeboten. Die T-Shirts, die von einer amerikanischen Firma angeboten werden, zielen eindeutig auf die breite Masse. Mehr umsatzorientiert als idealistisch setzt die Firma auf eindeutiges und plumpes Marketing der »Zigeuner«-Klischees. Ein T-Shirt mit I HEART GYPSY ist für mich ja vollkommen akzeptabel. Ehrlich gesagt würde ich mich sogar darüber freuen, wenn ich jemanden auf der Straße sehe, der es trägt. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Was ich hier an Merchandising sehe, ist unerträglich. Aber natürlich hat es auch keinen Sinn, einen der vielen Verkäufer darauf anzusprechen. Überflutet von einer unfassbaren Wut, laufe, nein, renne ich fast aus dem Laden, und obwohl ich mich in D-Zug-artigem Tempo von Abteilung zu Abteilung bewege, dauert es einen ganzen Tag, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Es ist nicht die Abgebrühtheit der Geschäftemacher, die mich so wütend macht, das wäre ja ein Fass ohne Boden. Wo denn da anfangen? Nein, dass man als Betroffener eigentlich nicht viel dagegen unternehmen kann, wenn irgendwelche Idioten denken, sie müssten der Welt durch ihren Kitsch die Kultur und vor allem das Aussehen eines »Gypsys« vermitteln. Eine Missachtung und Verklärung der Traditionen geht damit einher. Wir sind denen schutzlos ausgeliefert, die uns unserer Kultur berauben wollen, ihrer Version von unserer Kultur. Und damit soll man sich abfinden? Einerseits will man uns nicht als Nachbarn haben, aber die »Gypsy Nude« auf dem T-Shirt holt man raus, wenn man mal wieder böses Mädchen spielen will. Nicht zu vergessen den »Gypsy-Rock«, die »Gypsy Boxer Shorts« und die »Gypsy Panties«. Bislang ist es völlig neu für mich, dass es so etwas überhaupt gibt. Ich wurde total überrascht.

»Don’t call it Zigeunerschnitzel«

Es gibt eine gute Nachricht für alle, die gerne Zigeunerschnitzel essen: Es wird dieses Gericht auch in Zukunft geben. Und jetzt eine gute Nachricht für alle, die sich von dem Sammelbegriff »Zigeuner« betroffen fühlen: Nicht überall, wo Zigeuner draufsteht, ist Zigeuner drin. Aber wo Paprika drin ist, steht oft »Zigeuner« drauf.

»Ein Zigeunerschnitzel und eine kleine Apfelschorle, bitte!«

Mein Mann David und ich sitzen in einem Restaurant. Mit müdem Lächeln werfe ich ihm einen fast verächtlichen Blick entgegen, als er bestellt.

»Sorry, aber so ein gutes Zigeunerschnitzel bekommst du nur hier«, sagt er fast entschuldigend.

»›Paprikaschnitzel‹ hätte die Bedienung bestimmt auch verstanden«, entgegne ich.

»Nein, das Paprikaschnitzel ist nicht so herzhaft-deftig wie das Zigeunerschnitzel, sondern nur mit einer Paprikacreme … Bitte mach kein Drama daraus, das Gericht hat’s schon immer gegeben.«

»Ja, aber warum darf man ›Zigeunerschnitzel‹ sagen und ›Negerkuss‹ nicht?«

David schaut mich mit großen Augen an und zuckt mit den Schultern. Ich merke, dass ich diesen etablierten Begriff nicht hier, jetzt und sofort aus der Welt schaffen kann. Dies ist auch der falsche Ort, dagegen anzugehen. Auch wollte ich David seine Vorfreude auf das leckere Schnitzel nicht verderben. Und – zugegeben – es schmeckt tatsächlich. Aber es wäre bestimmt genauso gut, würde man es »paniertes Schweineschnitzel mit Paprika« nennen.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden, ich habe nicht vor, irgendwelchen »Zigeunerschnitzel-Terror« zu veranstalten, populistische Verschwörungstheorien zu entwerfen oder mit abgenutzten, kleinkarierten Political-Correctness-Phrasen auftrumpfen. Soll der Wirt doch weiterhin sein Zigeunerschnitzel auf der Karte haben, bis auch er sich irgendwann eines Besseren besinnt. Man kann sich sicher sein, dass ein Wirt bestimmt nicht aus reinem Kalkül oder Rassismus dieses Gericht so nennt. Anders ist das bei der Lebensmittelindustrie, die genau weiß, was sie tut, und nicht nur bei »Zigeunersoße« und ähnlichen Produkten etwas auf der Verpackung verspricht, was es innen gar nicht gibt. Die Formel der Lebensmittelindustrie? Trash means Cash.

Mit meiner Kritik am Begriff »Zigeunerschnitzel« bin ich nicht alleine. Auch die jungen Frauen und Männer der antirassistischen Bewegung EDEWA (Einkaufsgenossenschaft antirassistischen Widerstandes) prangern diese Bezeichnung an. Auf der Produktseite der EDEWA äußert sich eine Roma-Frau zu Produkten, die den Zusatz »Zigeuner« tragen:

»Als ich noch kleiner war und im Supermarkt die Soße sah, habe ich mich für mich und meine Familie geschämt. Es war mir peinlich, wenn es im Kindergarten ›Zigeunerschnitzel‹ zu essen gab. Ich habe schon immer gespürt, dass etwas nicht stimmt und dass es ungerecht ist, wie wir behandelt werden … Produkte, die so bezeichnet werden, rufen immer wieder diese schlechten Erinnerungen auf. Sie sind immer noch präsent in den Angeboten der Märkte – für uns bedeutet das eine Reproduktion des Rassismus/ Antiziganismus, indem wir permanent stigmatisiert sind. Wir fragen uns warum? Wer braucht diese Produkte? Was ist der Sinn, dass in der Öffentlichkeit gegen uns gehetzt wird? Ist das eine rassistische Kampagne? Ist das die Stimmung/Meinung der Mehrheitsgesellschaft?«

Mit ihrer Website, aber auch mit Ausstellungen und Seminaren will das aus einem Dutzend Leute bestehende EDEWA-Team die Menschen auf den Alltagsrassismus und -sexismus in unserer Gesellschaft aufmerksam machen: »Wir wünschen uns, dass Sie das nächste Mal im Supermarkt zur Kasse gehen und fragen, weshalb dieses Produkt oder jenes entwürdigende Fremdbezeichnungen trägt und/oder welche menschlichen Ressourcen für die Produktion notwendig waren, und es gegebenenfalls boykottieren.«

Mancher mag dieses Anliegen belächeln: »Ist es jetzt wirklich schon so weit, dass ich vor dem Einkaufen ein Seminar über Rassismus besuchen muss, um mich im Supermarkt politisch korrekt zu verhalten?« Ein ähnliches Statement hat sicher jeder schon einmal gehört. Und viele Konsumenten sind einer riesigen Informationsflut ausgeliefert: über echte und unechte Bio-Produkte, Antibiotika im Fleisch aus konventioneller Tierhaltung, verseuchte »Dioxin-Eier«, Ehec-Epidemie und so weiter. Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach. Was in der Lebensmittelindustrie ein Hinweis auf Schärfe und Würze ist, ist für Roma und Sinti eine diskriminierende Assoziation. Es ist gar nicht so schwer, das zu respektieren.

Wo kommen die Bezeichnungen eigentlich her? Essen Sinti und Roma diese Gerichte gerne? Als der bekannte Fernsehkoch Vincent Klink einmal einen Sinto gefragt hat: »Wie isch des jetzt eigentlich mit dem Zigeunergulasch?«, antwortete der: »Des war a mol vielleicht friah bei den Sinti in Ungarn so, aber mir möget halt Spätzla mit Soß.«

Sinti kochen kaum feurig-scharfe ungarische Paprika-Gerichte. Eigentlich sind die Kochgewohnheiten der Sinti ziemlich traditionell, regional orientiert. Bei Sinti in Baden-Württemberg werden die Spätzle natürlich immer frisch von Hand gemacht. Die Lebensmittelindustrie schert sich darum nicht. Begriffe wie »Zigeunerspieß« oder »Zigeunersuppe« stören nicht nur die politisch überkorrekten Aktivisten und Menschenrechtler. Der Landesverband Deutscher Sinti und Roma lehnt das Wort »Zigeuner« als rassistische Fremdbezeichnung ab. Auch viele Betroffene wünschen sich, dass es aus dem Sprachgebrauch verschwindet. Also auch aus den Supermarktregalen und Speisekarten.

Zieht dabei die Lebensmittelindustrie mit? Ein Rundgang im Supermarkt zeigt, dass noch zahlreiche Produkte mit der rassistischen Bezeichnung zum Verzehr angeboten werden. Das Sortiment gibt so einiges her: »KNORR Schlemmersauce Zigeuner Sauce«, »KNORR Fix für Zigeuner-Pfanne«, »KNORR Fix für Paprika Gulasch Zigeuner Art«.

Ich wünsche mir zumindest eine Erklärung von der Firma KNORR. In einer Stellungnahme, die ich per E-Mail bekommen habe, heißt es: »Uns ist bewusst, dass es sich hier um ein sensibles Thema handelt und der Begriff ›Zigeuner‹ aufgrund seiner Geschichte kontrovers diskutiert wird. Der Name Zigeuner-Sauce ist jedoch von uns keineswegs diskriminierend gemeint. Gerichte wie Zigeuner-Gulasch oder Zigeuner-Schnitzel sind schon seit langem allgemein sehr bekannt und fester Bestandteil der ›Hausmannskost‹ sowie vieler Speisekarten.«

Weil es schon seit langem so ist, hat es seine Berechtigung? Ich halte das für ignorant. Zumal diese Rezepte wirklich nichts mit den Küchengewohnheiten von Sinti und Roma zu tun haben. Ist der Begriff »Zigeuner«in der deutschen Geschichte nicht schon oft genug in rassistischer Weise missbraucht worden? Ein »Wir meinen es doch nicht böse« reicht da als Entschuldigung nicht aus. Warum lässt man nicht den Betroffenen die Eintscheidung, was sie als Beleidigung und Diskriminierung empfinden? Wenn Roma und Sinti darum bitten, Zigeuner-Soße umzubenennen: Warum kann man das nicht respektieren?

Auch im Sortiment von MAGGI finde ich bei der Recherche zu diesem Buch »Zigeuner«-Produkte. Auch dort frage ich nach, dieses Mal per Telefon. Die Ernährungswissenschaftlerin vom MAGGI KOCHSTUDIO ist verantwortlich für die Namensgebung von Rezepten wie »Zigeuner-Hacksteak«, »Zigeuner-Geschnetzeltes« usw. Auf meine Frage, weshalb man im MAGGI KOCHSTUDIO auf den ohnehin schon umstrittenen Begriff »Zigeuner« nicht verzichten möchte und diese Gerichte nicht einfach in »Puszta Hackbraten« oder »Puten-Paprika-Geschnetzeltes« umbenennt, antwortet sie mir, jeder wisse, um was es sich bei »Zigeuner-Geschnetzeltes« handele. Und da man auch bildungsferne Menschen zu seinen Kunden zähle, müsse man sie dort abholen, wo sie sind. Man halte sich lediglich an »vorgegebene Geschmackswelten«.

»Aha.« Das ist alles, was mir auf diese Antwort einfällt. »Ein verantwortungsvoller Umgang mit Lebensmitteln ist ihnen als Ernährungsberaterin und der Firma MAGGI egal? Ihnen ist wohl nicht klar, dass ihre Rezepte aber auch gar nichts mit den kulinarischen Wurzeln von Sinti oder Roma zu tun haben?«

Peinlich berührt versichert mir die Ernährungsberaterin, die Problematik beim nächsten Meeting zumindest zu erwähnen.

Nicht nur ich, auch andere haben offenbar nachgefragt, zum Beispiel der Sinti-Verein Nordrhein-Westfalen. Er hatte von der Lebensmittelindustrie gefordert, den Begriff »Zigeuner« nicht mehr zu verwenden. Inzwischen hat zumindest MAGGI reagiert: Als ich vor kurzem überprüfte, ob die Produkte noch im Sortiment sind, finde ich sie nicht mehr. MAGGI führt keine »Zigeuner«-Produkte mehr. Was früher »Zigeuner-Sauce« war, heißt jetzt »Pikante Sauce«. Es gibt »Geschnetzeltes mit Paprika«.

Na also – es geht doch! Ich habe die Hoffnung, dass nach und nach auch KNORR und andere Lebensmittelproduzenten nachziehen.

»Was steht eigentlich in Ihrem Pass?«

Ich lege nicht besonders großen Wert darauf, als Deutsche erkannt zu werden. Oft denken die Menschen, ich sei Italienerin oder Spanierin. Es kommt auch vor, dass mich Touristinnen aus der Türkei nach dem Weg fragen, auf Türkisch, in der Hoffnung, ich sei ebenfalls Türkin und könne ihnen weiterhelfen.

Diejenigen mit einem besonders guten Auge vermuten meine Heimat in Indien. Das entspricht zwar nicht ganz der Wahrheit, denn es ist immerhin rund 900 Jahre her, dass Sinti aus Nordwestindien abgewandert und Richtung Europa gezogen sind. Dennoch verspüre ich eine gewisse Affinität zu Land und Leuten. Noch heute findet man Sprachparallelen zwischen dem Sanskrit und Romanes, der Sprache der Sinti, die wie die meisten indischen Dialekte keine Schriftsprache ist. Sie lebt nur aus einem einzigen Grund seit Jahrhunderten weiter: weil Eltern ihren Kindern die Sprache von Generation zu Generation weitergeben.

Dennoch bestehe ich darauf, dass ich eine deutsche Sinteza bin, auch wenn das nicht jeder auf Anhieb erkennen mag. Meine Familie und andere Sinti-Familien haben dieses Land kulturell und wirtschaftlich mitgestaltet, sofern es ihnen erlaubt war. Schließlich gibt es Sinti schon seit 600 Jahren in Deutschland. Trotzdem werden Angehörige meiner Minderheit in diesem Land immer noch als fremd wahrgenommen:

»Was steht eigentlich in Ihrem Pass?«, fragte mich einmal eine Dame nach einer Lesung aus meinem letzten Buch, gut gelaunt, ohne Argwohn. Nachdem ich ihr ebenso nett erklärt hatte, dass ich selbstverständlich einen deutschen Pass habe, fragte ich mich: Hast du nicht gerade eben noch über eine Stunde darüber gesprochen, dass wir Sinti gleichberechtigte Deutsche sind und meine Familie seit langer Zeit im Süddeutschen beheimatet ist?

Wie lange dauert es noch, bis diese Tatsache hinter die dunkelsten, verstaubtesten »Eichenholz rustikal«-Wohnzimmerschrankecken der deutschen Haushalte dringt? Man könnte denken, ich hätte während der Lesung eine Boaschlange um den Hals gewickelt und eine Wahrsagekugel vor mir stehen gehabt und hätte irgendwelche unverständlichen Beschwörungsformeln zum Publikum geflüstert, so fremd und exotisch muss ich wohl auf manche Zuschauer gewirkt haben. Kommen die Leute vielleicht bloß, weil sie mal sehen möchten, wie eine Zigeunerin in echt aussieht? Nach solchen Fragen fühle ich mich jedenfalls als eine Art Mata Hari wahrgenommen, eine verdeckte Doppelagentin mit ungewisser Identität und Integrität. Eine, der man nicht so recht trauen mag. Ich denke mir immer: Sei mal nicht so dünnhäutig und lege nicht alles auf die Goldwaage, denn letztendlich interessieren sich die meisten Leute wirklich für die Kultur und das Leben der Sinti.

Einmal kam eine junge Türkin nach einer Lesung zu mir, damit ich ihr das Buch signiere:

»Ich bin zwar keine Sinteza, aber auch ich weiß, wie schwer es ist, gegen Vorurteile ankämpfen zu müssen und akzeptiert zu werden.«

Es war nicht die einzige junge Frau, die mir nach der Lesung versicherte, mein Buch (Gypsy) hätte ihr Selbstvertrauen gegeben. Eine andere würde nun zu ihren eigenen Sinti-Wurzeln stehen, über die Jahrzehnte in der Familie geschwiegen wurde. Erstaunlich, wie heutzutage manche Menschen immer noch Probleme damit haben, Sinti in der eigenen Familienreihe zu haben.