Über die Autorin:

Gute Geschichten sind überall, man muss nur aufmerksam hinhören.

Claudia Starke ist Mutter von drei Kindern, geduldete Mitbewohnerin einer Katze und leidenschaftliche Schreiberin, die den Nachtschlaf gern einer guten Geschichte opfert.

Als Rikki Marx schreibt sie Geschichten für das jüngere Publikum.

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Weitere Bücher der Autorin:

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Verborgen

Jenseits der Dunkelheit

Wolkenreise (als Rikki Marx)

Mia mitten in Mitternacht (als Rikki Marx)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Claudia Starke

Covergestaltung: Claudia Starke, unter Verwendung eines Bildes von Fabiana Fabulus und Schrift von Chad Savage, sinistervisions.com

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783748170303

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

»Wieso trägst DU eigentlich nichts?«, fragte Lucas schnaufend. Er blieb stehen, um die Schaufel von der rechten auf die linke Schulter zu wuchten, was zwar keine Erleichterung, aber Zeit zum Durchatmen brachte.

Marvin, der den kleinen Trupp anführte, blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu den Anderen um. »Tu ich doch«, entgegnete er und blies die Backen auf. »Und das is’ schwerer als jede Schaufel, das glaub mal.«

»Ach ja? Was denn? ’nen unsichtbaren Fresskorb etwa?« Arne versuchte, mit einem Zipfel seines T-Shirts das hochrote Gesicht trockenzuwischen, ließ es aber bleiben, als er feststellen musste, dass das T-Shirt längst nass von Schweiß war.

»Alter …« Marvin schüttelte langsam den Kopf. »Auf meinen Schultern liegt die Verantwortung für das Ganze hier. Es soll doch nix schiefgehen, oder?«

Einmütiges Kopfschütteln gab dem Zwölfjährigen recht.

»Na also.« Marvin setzte sich wieder in Bewegung. »Trödelt nicht so, ich muss pünktlich zum Abendessen wieder zuhause sein, sonst ist für die nächsten Tage Schicht im Schacht und Bandenbudenzauber fällt flach.«

Nach ein paar schweigsamen Schritten räusperte sich Lucas. »Du erwartest aber hoffentlich nicht, dass der Kleine nach der Schlepperei auch noch die Schüppe schwingt.«

»Ich bin nicht klein, ich schaff das schon«, murmelte Tim. Er wollte nicht, dass Marvin entschied, der Achtjährige wäre doch noch zu jung für die Bande. Nicht nachdem Lucas, der mit seinen Eltern im Haus gegenüber von Tims Familie wohnte, sich so für ihn eingesetzt hatte.

Und eben der sah den Kleineren gerade ziemlich sauer an. »Halt die Fresse«, zischte er, »ich versuch gerade, dir den Arsch zu retten. Oder bist du so erpicht aufs Dreck Schippen?«

Tim schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Jetzt bloß nicht heulen, sonst war der Drops gleich gelutscht.

Marvin runzelte die Stirn. Vielleicht hätte er doch lieber die Schaufel selber schleppen und den Kleinen dann … er seufzte leise. »Das sehen wir dann, wenn wir am Ziel sind.«

»Apropos«, mischte Arne sich ein, »so ein wohlklingendes und verheißungsvolles Wort. Ziel. Nee, Spaß – mal im Ernst – wann genau sind wir endlich da?« Sein Shirt klebte mittlerweile pitschnass an seinem Oberkörper und auf seiner Shorts zeigten sich erste Schweißflecken. Sein Gesicht glänzte, ein einzelner Schweißtropfen hing zitternd an der Nasenspitze, und Tim ertappte sich dabei, wie er fasziniert hinstarrte und den Moment erwartete, in dem die Schwerkraft obsiegte.

Dieses Mal seufzte Marvin laut und vernehmlich. »Bei eurem Genörgel kann sich doch kein Mensch konzen…« Jäh hielt er inne, ein breites Grinsen im Gesicht. »Da«, sagte er nur und deutete mit leuchtenden Augen auf irgendetwas vor den Vieren.

»Da«, wiederholte Arne und ließ zusammen mit dem Nasenschweißtropfen auch die Schaufel fallen. »Und das ist jetzt genau wo?«

»Boah, du Spast«, brummte Marvin, »wisch dir die Heulsusentränen aus’m Gesicht und sperr die Glubschen auf.« Er machte ein paar Schritte und deutete mit großer Geste auf den Waldboden. »DA!«

Da! bezeichnete eine Kuhle, die halb unter einem dicken, umgestürzten Baum verschwand, und Lucas nickte anerkennend. »Gut ausgesucht, Alter, nich’ so viel zu buddeln und gleichzeitig Wetterschutz von ’nem Einheimischen.« Grinsend ließ auch er die Schaufel fallen. »Aber erst ist Chillen angesagt. Und Trinken.« Er nestelte eine Wasserflasche aus seinem Rucksack. Nachdem die Flasche halb geleert war, besah er sich die Kuhle eingehender. »Schade eigentlich«, meinte er dann, »wär das Loch tiefer, müssten wir weniger buddeln.«

»Oh bitte.« Marvins Blick war ein einziger Vorwurf. »Für große Dinge müssen nun mal Opfer gebracht werden.«

»Gutes Stichwort, Alter.« Breit grinsend nahm Lucas Tim die Schaufel aus der Hand und hielt sie Marvin entgegen. »Dann geh mal mit gutem Beispiel voran und opfere. Ich bin mir sicher, Tim passt so lange auf die Verantwortung auf.«

Marvin öffnete den Mund, um zu protestieren, doch in Ermangelung eines guten Arguments kniff er die Lippen zusammen, nahm die Schaufel und stapfte zur Kuhle.

Die Anderen taten es ihm seufzend gleich, einzig Tim hockte sich in den Schatten einer alten Eiche, stillvergnügt, dass er nicht schaufeln musste, und sah den Dreien eine Zeitlang bei der Arbeit zu.

Die Sonnenstrahlen tanzten in den Schattenbildern des Eichenlaubs und flirrten vor seinen Augen, so dass er die Lider senkte. Er lauschte dem gleichmäßigen Geräusch der Schaufeln und fragte sich, wie diese drei unterschiedlichen Jungen es schafften, in exakt dem gleichen Rhythmus zu arbeiten. Doch kaum gedacht, verflüchtigte sich die Frage gleich wieder. Eine sanfte Brise schmeichelte seinem immer noch erhitzten Gesicht, er setzte sich bequemer hin, und obwohl sich die Borke des großen Baums unangenehm in seinen Rücken drückte, zerfaserten seine Gedanken, sein Kinn sank auf seine Brust und er schlief ein.

»Scheiße! Was ist das?«

Tims Kopf fuhr in die Höhe und knallte schmerzhaft gegen den Eichenstamm.

Marvin, Lucas und Arne standen mittlerweile bis zu den Schultern in dem vorhin noch nur hüfthohen Loch. Das heißt Marvin und Lucas standen dort. Arne hingegen kletterte japsend seiner Schaufel hinterher, die zwischen dem Loch und Tim lag, wobei der Achtjährige in einem schlafduseligen Moment dachte, der große Junge beeilte sich nur so, um sein Arbeitsgerät an der Flucht zu hindern. Schaufelverweigerung. Ein Kichern flatterte Tims Kehle empor, doch Lucas’nächste Worte ließen es ersterben, noch ehe es den Lippen entschlüpfen konnte.

»Da is’ was vergraben.«

Ein Schatz?! Tim sprang auf. Was für ein A-ben…

Marvin hatte sich hinunter gebeugt und als er sich wiederaufrichtete, hielt er etwas in die Höhe, das nicht nur gegen einen Schatz sprach, sondern dafür sorgte, dass die Jungs Schaufeln Schaufeln sein ließen und die Beine in die Hand nahmen.

Und den ganzen Weg bis nach Hause schaffte Marvin es nicht, das modrige Holzkreuz wieder loszulassen …

klopf

Er hatte aufgehört zu zählen, wie die Dunkelheit mit jedem Schlag seines Herzens in sein Inneres sickerte.

klopf

Er hatte aufgehört zu fühlen, wie sein Körper schmerzte in der Wut, der Raserei, der Verzweiflung.

klopf

Er hatte aufgehört zu denken,

klopf

aufgehört zu sein …

klopf Klopf.

Da war …

Klopf!

Nicht sein Herzschlag. Nicht nur …

KLOPF!

Erst allmählich dämmerte ihm, dass er etwas hörte, tatsächlich hörte, etwas … Stimmen, es waren Stimmen. Sie waren wiedergekommen, doch noch wiedergekommen, endlich …

Seine Zunge ein Fels in ausgedörrter Mundhöhle, seine Stimmbänder unfähig, einen Laut hervorzubringen.

Ich bin hier!

Als ein klägliches Krächzen seinen aufgesprungenen Lippen entschlüpfte, zersprang es wie sprödes Glas in der erneut hereingefallenen Stille.

Sie waren fort.

Zurück blieben vier dünne Lichtpunkte, die über einen ausgemergelten Körper krochen …

Teil 1

WOLF

Grelles Sonnenlicht zeichnet scharfe Konturen, aber des Nachts verschwimmen Grenzen und nicht nur Schatten werden lebendig.

Dan Archer, Mondwandler

EINS

Ihn schwindelte. Nach all dieser Zeit wusste sein Hirn nichts mehr mit dem aufrechten Gang anzufangen und nach nur wenigen, torkelnden Schritten umfing er den Stamm der alten Eiche mit seinen Armen und schmiegte seine Wange an die raue Borke.

Mit geschlossenen Augen sog er den Duft des Waldes in sich auf. Roch die Erde, die nach Regen dürstete, roch Moder und Fäulnis und auch das frische Grün der Bäume und Sträucher. Tod und Leben. Vor allem Leben.

Der Mond schenkte ihm Kraft, seine Stimme, anfangs nur ein Wispern, gewann an Stärke, sang ein Crescendo von Wildheit und Freiheit und einem Hunger, der schon so lange in seinem Inneren tobte und endlich nach Sättigung gierte.

Schritte störten den Gesang der Nacht, weit entfernt und doch so nah. Verheißung von Kraft und Lust und Erfüllung.

Er, der seinen Tod überlebte, streckte seinen dürren Körper, leckte sich über die Lippen und begann seine Jagd.

Im Morgengrauen kehrte er endlich wieder heim, fand sein Zimmer voller Sachen, die er nicht kannte, fand sein Abendessen im Kühlschrank und als er ihre Schritte hörte, fuhr er herum.

Lächelnd stand sie im Türrahmen. »Du kommst spät«, sagte sie nur und machte sich daran, sein Essen zuzubereiten.

Er nahm ihren Arm und drehte sie zu sich herum. »Lass es.«

»Du musst doch was essen, Junge.« Ihre Augen sahen ihn nicht, blickten in eine Vergangenheit, die sie lächeln ließ.

»Es ist gut, ich bin nicht … hungrig.«

Sie schlang die Arme um ihn.

Er ließ es geschehen, ahnte, dass ihr die Jahre zugesetzt hatten, und wusste, dass er hier immer noch ein Zuhause hatte.

ZWEI

»Jede Wette, das hier ist der kleinste Raum im Schloss. Und genau den haben sie uns aufs Auge gedrückt.« Jan Meesters lächelte die Kellnerin an, die ihm die Speisekarte überreichte und mit keiner Regung ihres Gesichts merken ließ, ob sie seine Worte gehört hatte.

»Die Wette verlierst du. Die Toiletten sind kleiner«, entgegnete Christian Schneider, der links von Jan saß. »Sie sind immer kleiner.«

»Nee«, kam es von rechts, »die Toiletten sind sowas von geräumig – kann ich nur empfehlen.« Burkhard Noll zwinkerte. »Wenn’s hier also zu eng wird …«

Daniel Döring, der neben Burkhard saß, grinste. »Ihr habt doch gesehen, was draußen los war. Kein Wunder haben sie für avisierte zwanzig Leute nicht mehr als diese Abstellkammer.«

»Zwei Hochzeiten und ein Trauerspiel.« Jan zuckte die Achseln. »Ich mein – wie viele waren wir in der Stufe? Hundert doch bestimmt. Und dann kommen nur zwanzig Leute zum Zwanzigjährigen?«

»Passt doch«, lachte Burkhard. »In zehn Jahren kommen dafür dreißig.«

»Ach kommt schon«, mischte Christian sich ein, »ihr wisst doch, wie die alle sind. Nur weil es zwanzig Anmeldungen gab, heißt es noch lange nicht, dass nicht doch mehr kommen.«

»Ach, Schatz, heute ist so schönes Wetter und es ist Samstag – was kann es da Angenehmeres geben, als die alten Pappnasen wiederzusehen?«, flötete Jan.

»Woher weißt du, was ich zu meiner Frau gesagt habe?«, empörte sich Daniel. »Abhöraffäre Meesters. Der Spion, mit dem ich die Schulbank drückte.«

In das Lachen der vier brachte die Kellnerin das Bier.

Daniel lehnte sich zufrieden zurück. All die Grübeleien im Vorfeld waren unnötig und er war froh, doch gekommen zu sein. Die Anwesenheit seiner alten Freunde ließ die vergangenen zwanzig Jahre bedeutungslos werden, so, als wären sie nie passiert. Es war wie damals und würde vermutlich mit einem dicken Kater enden. Worüber hatte er sich Sorgen gemacht? Sie würde sowieso nicht kommen.

Er saß am Esstisch, starrte auf die geblümte Tischdecke und ließ seinen Zeigefinger schnell und arhythmisch auf seinen Oberschenkel klopfen. Es drängte ihn hinaus, der Mond rief ihn, doch in seinem Kopf waren die Gedanken durcheinandergeraten und er brauchte Zeit, um sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Zeit, die er nicht hatte.

Erinnerungen drangen auf ihn ein, aufgerissene Augen voller Angst, das Gefühl von weicher, dunkler Haut und der Geschmack von Blut auf seinen Lippen. Er fuhr sich über die Augen, wollte nicht in dieser Bilderflut ertrinken, musste klar denken, musste …

Im Dämmerlicht des Schlafzimmers plärrte der Fernseher Volksmusik in unerträglicher Lautstärke, doch hatten sonst die Augen der Frau dabei gestrahlt und sie selber zumindest lippensynchron den Mund dazu bewegt, so lag sie heute nur apathisch im Bett und ließ nicht merken, dass sie überhaupt etwas von der Sendung mitbekam. Irgendetwas geschah mit ihr, das ihn überforderte, das zur Unzeit kam und das ihn daran hinderte, seine Jagdgründe in größere Entfernung zu verlegen. Dabei musste er …

Er schlug sich gegen die Schläfen, sprang auf und lief im Zimmer hin und her. Wie sollte man auch klar denken können bei diesem Lärm, an diesem Abend, da der Mond in voller Größe erblühte?

Vor der Zimmertür blieb er stehen. Trotz der lauten Musik konnte er die Atemzüge der Frau hören, die ruhig und regelmäßig klangen. Sie schlief. Endlich.

Zeit zu gehen.

»Hast du dir schon einen Film ausgesucht?«, rief Vanessa ins Wohnzimmer, während sie der Mikrowelle dabei zusah, wie diese Popcorn machte.

»Boah, Mama, jahaa – das hast du schon heute Morgen gefragt. Und gestern. Und vorgestern.«

Vanessa schmunzelte. Sie konnte am Tonfall ihres Sohnes erkennen, dass er die Augen verdrehte. Und sich vermutlich auch kurz an die Stirn tippte. »Tut mir leid, ich hab’s vergessen.«

»Horton. Hört. Ein. Hu.« Tim erschien im Türrahmen. »Ich dachte, nur Omas sind vergesslich. DU bist ’ne MAMA, keine Oma.«

»Is’ ja schon gut. Ich merk’s mir jetzt.« Sie hob feierlich die Hand. »Versprochen.«

»Nicht mehr nötig, ich hab den Film schon in den DVD-Player reingemacht.« Damit witschte er zurück ins Wohnzimmer. »Jetzt komm endlich!«

Sie wollte gerade »Gleich!« rufen, als die Mikrowelle Ping! machte. Popcorn war fertig. Hoffentlich bot der Film keinen Raum für Gedanken.

Wenigstens keine Liebesgeschichte. Soweit sie sich erinnern konnte.

Während die unangemeldeten Neuankömmlinge Stühle schleppten und versuchten, sich noch irgendwo dazuzuquetschen, erschien die Kellnerin und hob die Hände. »Darf ich kurz um Gehör bitten?«

Aller Augen richteten sich erwartungsvoll auf sie.

»Ich hab’s gesagt«, raunte Burkhard Daniel zu, »jetzt verfrachten sie uns auf die Toiletten. Achte drauf.«

»Da Sie doch mehr Leute als erwartet sind, haben wir Ihnen das Kaminzimmer vorbereitet. Dort dürfte genug Platz für alle sein. Selbst wenn noch mehr kommen.« Die Kellnerin lächelte. »Wir servieren dann auch das Essen, sobald Sie alle Platz gefunden haben.«

»Tja, Burkhard, sei froh, dass du nicht in der Hellseherbranche tätig bist.« Daniel grinste.

Burkhard winkte müde ab. »Wirst sehen, selbst das Kaminzimmer ist kleiner als die Toiletten.«

Er bezwang seine Unrast und ließ sich treiben. Die Innenstadt war voller Menschen, dem Wetter und irgendeiner Veranstaltung geschuldet, so dass hier keinesfalls unauffällig Beute zu machen war. Noch war es hell, aber die Sonne verzog sich bereits hinter die zahlreichen Bäume, die zum grünen Tarnkleid der ehemaligen Kohlestadt beitrugen. Der Pott war schon lange nicht mehr schwarz.

Er ging zurück zu seinem Auto, das er an der Post abgestellt hatte und fuhr einfach drauflos. Nach einer Weile erst registrierte er, dass er in Richtung Schloss Berge unterwegs war. Weitläufige Parkanlagen, die mit zunehmender Dunkelheit vermutlich immer leerer würden. Warum nicht? Er bog auf den Parkplatz am Schloss ab, parkte sein Auto am hinteren Ende und stieg aus.

Das Kaminzimmer war um einiges größer als der vorherige Raum. An einer Seite waren die Tische zu einer langen Reihe zusammengeschoben und boten ausreichend Platz. Im Rest des Raumes hätte man ein Tanzturnier abhalten können.

»JETZT bin ich wirklich gespannt, wie die Toiletten sind.« Daniel lachte und hatte sich gerade hingesetzt, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.

»Ist hier noch frei?«

Diese Stimme hätte er unter tausenden wiedererkannt. »Melanie.« Nun war sie also doch gekommen.

DREI

»Mama, jetzt hast du das Ende verpasst!«, rief Tim und schob sich durch die Terrassentür nach draußen. »Is’ nämlich alle. – Gucken wir noch ’nen Film?«

Vanessa drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Jetzt noch? Dann machst du dich aber vorher schon bettfertig. Du schläfst doch garantiert auf dem Sofa ein.«

»Pfff, ich doch nicht«, tat Tim großspurig und pustete Atemwölkchen in die kalte Abendluft. »Guck mal, ich rauche auch.«

»Nee, du holst dir ’ne dicke Erkältung, wenn du nicht sofort wieder reingehst.«

»Gar nicht, meine Körperpolizei boxt die alle weg, die Viren.«

»Pass auf, dass ich dich nicht gleich wo hinboxe«, rief Vanessa lachend. Seit Lukas von gegenüber Tim zum Boxtraining mitgenommen hatte, wurde nur noch geboxt. Musste Tim sich übergeben, boxte der Bauch schlechtes Essen raus. Fiel er nachts aus dem Bett, weil er zu wild träumte, hatte ihn sein Plüschteddy rausgeboxt. Und seine Abwehrkräfte waren schiere Boxprofis. »Rein jetzt.« Sie schob ihren Sohn ins Wohnzimmer und gab ihm einen Klaps auf den Po. »Abmarsch. Schlafanzug anziehen. Zähne putzen. Und nicht trödeln.«

Trotz seiner Unruhe steuerte er das Schlossrestaurant an. Was brachte es, jetzt schon auf Beutefang zu gehen, wenn der Jäger seine Waffe nicht parat hatte? Und ein Bier als Appetitanreger war nicht zu verachten.

Daniel meinte, irgendwo gehört zu haben, dass der Körper seine ganz eigene Erinnerung habe, selbst wenn der Verstand längst vergessen hatte. Nun, SEIN Körper jedenfalls erinnerte sich, kaum dass Melanie sich gesetzt hatte. Und trotz ihres lockeren Plaudertons wusste Daniel, dass auch ihr die Vergangenheit präsent war. Jedenfalls las er es in ihren Augen. Und als sie ihm dann noch eine Hand auf den Arm legte, während sie irgendeine uninteressante Anekdote zum Besten gab, schob Daniel seinen Stuhl zurück, murmelte »Entschuldige mich kurz« und stand auf. Bemüht, es nicht wie eine panische Flucht aussehen zu lassen, ging er langsam in Richtung Toiletten.

»Ha«, rief Burkhard ihm nach, »jetzt kannst du deine Neugier nicht mehr zügeln, stimmt’s?«

Daniel nickte lachend und verließ das Kaminzimmer.

Als die Tür der Herrentoilette hinter ihm ins Schloss fiel, lehnte er sich an die Wand gegenüber den Waschbecken und schloss die Augen. Verdammt! Warum war er gekommen? Und warum zum Teufel war er immer noch nicht darüber hinweg? Er sollte nach Hause gehen, heim zu … Die Tür öffnete sich langsam, und als niemand eintrat, öffnete Daniel die Augen.

Tim murmelte etwas im Schlaf. Keine zehn Minuten hatte es gedauert, da war er mit dem Kopf auf Vanessas Schoß eingeschlafen. Und seitdem saß sie im Halbdunkeln, allein mit einem Film, der sie nicht interessierte, und Gedanken, die sie nicht in ihrem Kopf haben wollte. Und die umso hartnäckiger um Aufmerksamkeit heischten.

»Melanie«, flüsterte Tim und Vanessa schauderte. Woher – der Name – das konnte nicht sein! Sie hielt den Atem an und lauschte.

»Mumie … sie kommt«

Ihr Ausatmen mündete in einem lauten Lachen, das Tim weckte.

»Hab ich was verpasst?« Er setzte sich auf und rieb sich die Augen.

»Nein, Mausebär, schlaf weiter. Aber träum nicht mehr von Mumien, okay?«

Tim legte sich wieder hin und starrte auf den Fernseher. Woher wusste Mama von den Mumien? Vielleicht sollte er ihr doch endlich davon erzählen. Vom Sommer und dem Grab im Wald und … er kniff die Augen zusammen. Schwör, dass du nie auch nur einer Menschenseele davon erzählst. Sonst kommt die Mumie dich holen. Ob man Mumien auch einfach wegboxen konnte?

Zu viele Menschen auf zu engem Raum, Worte in seinem Kopf, die nicht seine waren und die er nicht alle verstand. Dazu sein wachsender Hunger. Die Bestie wollte raus.

Und das Bier.

Er biss sich auf die Lippen, erhob sich rasch und strebte den Toiletten zu.

»Versteckst du dich vor mir?« Melanie. Sie stand im Türrahmen und machte einen Schmollmund.

»Dies ist die Herrentoilette.«

»Früher hätte dich das nicht gestört.« Sie lachte leise, schob sich in den Raum und schloss die Tür. »Im Gegenteil.«

»Melanie, bitte, ich …«

»Wem willst du etwas vormachen, Daniel?«

»Vormachen?«

»Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du nicht ebenso fühlst wie ich.«

»Du weißt genau, dass ich das nicht kann, Melanie. Das zwischen uns war immer etwas ganz Besonderes. Aber du hast es beendet. Damals. Vor zwanzig Jahren. Ich will nicht noch mal leiden wie ein Hund. Und ich denke, nichts anderes erwartet mich, wenn ich …« Er atmete tief durch. »Außerdem hab ich jetzt eine Familie.«

»Es gibt nichts Schlimmeres, als Dinge zu bereuen, die man in der Vergangenheit getan hat. Oder nicht getan hat. Und genau deshalb sollte man jede Gelegenheit nutzen, es wiedergutzumachen.«

»Hier.« Sein Lachen kam bitter. »Melanie, ich …«

Langsam kam sie näher. »Ein Kuss nur, Daniel, nicht mehr. Aber wenigstens den.«

Wieder schloss er die Augen, versuchte, seine Gedanken und Gefühle unter Kontrolle zu bringen, doch als ihre Lippen seine berührten, war da nur noch Melanie in seinem Kopf und seine Hände glitten über ihren Körper.

Ihr Haar roch nach Pfirsich und Sonne. Ihre Haut war warm und weich. Und ihr Kuss schmeckte verboten süß.

Ihre Hand schob sich in seine Hose, während er ihr Shirt hochschob und den Büstenhalter öffnete. Alles an ihr war üppiger als damals und weicher.

Er drängte sie zu den Waschbecken, schob ihren Rock über die Hüfte, während sie seine Jeans aufknöpfte. Und noch immer küssten sie sich, während er ihren Slip beiseiteschob und in sie eindrang. Sie schlang die Beine um seine Taille, stützte sich auf das Waschbecken und stöhnte, erst leise, doch je schneller er sich in ihr bewegte, desto lauter und anhaltender wurden die Laute, die sie von sich gab.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein. Er hielt kurz inne, musterte das Paar und ein flüchtiges Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Tut mir ja leid, ich störe wirklich nur ungern, aber das Bier …« Er zuckte mit den Schultern und ging an Daniel und Melanie vorbei zu den Kabinen. »Hier sind genug frei, ihr solltet euch vielleicht in eine davon zurückziehen. Und die Lautstärke etwas drosseln.« Er zwinkerte der Frau zu und verschwand in einer der Kabinen.

Daniel zog mit hochrotem Kopf eilig seine Hose wieder an und verschwand durch die Tür, noch bevor Melanie reagieren konnte. Sie unterdrückte den Impuls, ihm sofort zu folgen, sondern richtete erst einmal ihre Kleidung. Dann stützte sie sich auf das Waschbecken und atmete tief durch. So, wie sie gerade aussah, konnte sie ihm nicht hinterher, jeder würde ihrem Gesicht ablesen können, was passiert war. Doch was war überhaupt passiert? Sie betrachtete sich im Spiegel und kämpfte mit den Tränen.

»Die sind hoffentlich nicht für den Kerl, der sich mal eben so verpisst hat.« Der Mann, der sie so rüde unterbrochen hatte, war unvermittelt hinter sie getreten. »Der ist es wirklich nicht wert. Sie einfach so stehen zu lassen. Hier. Und überhaupt – hier?«

Er hatte eine warme dunkle Stimme und Melanie musterte ihn genauer. Groß, gutaussehend, mit dunklen braunen Augen, die sie mit einer Intensität musterten, dass es tief in ihrem Bauch wieder zu kribbeln begann.

»Sie sollten ihm keinesfalls nachlaufen. Das hat eine Frau wie Sie nicht nötig. Und ein Kerl wie er keinesfalls verdient. Darf ich Sie einladen?«

Sie hörte zwar, dass er etwas sagte, doch die Worte erreichten gar nicht erst ihren Verstand. Der Klang seiner Stimme umfing sie, ließ in ihrem Inneren etwas schwingen, vibrieren, und wohlige Schauer liefen über ihren Rücken.

Er lachte. »Kann es sein, dass Sie mir gar nicht zuhören?«

»Entschuldigung«, sie lächelte verlegen, »aber Ihre Stimme … Ich glaube, Sie könnten mir aus dem Telefonbuch vorlesen und ich wäre hin und weg.« Dazu seine Augen. Sie schluckte.

»Nun, dann sollten wir vielleicht lieber die Örtlichkeit wechseln, es sei denn, sie bestehen auf der Männertoilette.« Wieder lachte er. Melanie hing fasziniert an seinen Lippen und fragte sich, wie es wohl sein müsste, diese zu küssen.

Nur wenig später gingen sie Arm in Arm zu seinem Auto, und bevor sie einstiegen, bekam sie die Antwort auf ihre Frage.

Und ein voller Mond schickte sich an, den Zenit zu erklimmen …

Jetzt, neben ihm im Auto, da sie beide schwiegen und einem unbekannten Ziel entgegensteuerten, kamen ihr doch Zweifel. Sie kannte den Mann an ihrer Seite nicht, und die Straßen, durch die sie fuhren, waren dunkel und einsam. Ein Gewerbegebiet, in dem um diese Zeit niemand ihre Schreie würde hören können. Sie fröstelte.

»Ist dir kalt?« In einer einzigen fließenden Bewegung stellte er die Heizung höher und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Die Berührung schoss wie Feuer ihre Ganglien entlang und brannte ihre Bedenken nieder. »Ich sorge schon dafür, dass dir heiß wird.« Sein Lachen hüllte sie ein, dunkel, verheißungsvoll. »Es ist nicht mehr weit, nur noch wenige Minuten.«

Es zählte nicht, was er sagte, sondern dass er sprach. Jedes Wort, jede Silbe von ihm schien wie eine Liebkosung und ließ sie lustvoll zittern. Sie sah hinüber zu ihm, für einen kurzen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Und was sie in seinen Augen fand, ließ ihren Atem stocken und gierige Hitze breitete sich in ihrem Körper aus. Am schlimmsten tobte diese in ihrem Bauch und sie schloss die Augen, um dieses Gefühl zu genießen.

So sah sie nicht den einsamen Fußgänger, den sie überholten, kurz bevor sie auf ein Fabrikgelände abbogen. Im Schatten eines der Gebäude parkte der Mann neben ihr den Wagen und während er sie mit leisen Worten schwindlig redete, begann er, sie zu entkleiden.

VIER

Feuchtkalte Luft lag über dem Gewerbegebiet. Daniel hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben und schritt zügig aus. Einzig das Geräusch seiner Schritte begleitete seinen Weg, seit ihn vor geraumer Zeit das Auto überholt hatte.

Eigentlich war dieser Weg ein Riesenumweg, doch er konnte nicht sofort nach Hause, er musste laufen, seine Gedanken ordnen und zur Ruhe kommen.