9783959590747-mini

Danksagung

Wieder schulde ich vielen, vielen Menschen Dank, die mich bei der Entstehung dieses Buches unterstützt haben.

Auch diesmal kommen zuerst die Testleser, die sich Stunden damit um die Ohren geschlagen haben, das Manuskript nicht nur zu lesen, sondern auch massenhaft hilfreiche Kommentare hineinzuschreiben. Für diesen Band sind das: Susanne Schwarzwald, Angela Stoll und Johanna Theuer.

Bei der Recherche hatte ich besonders fachkundige Hilfe:

Friedhelm Bechtel von der Berufsfeuerwehr Augsburg half mir dabei, Irinas Haus realistisch in die Luft zu jagen und vor allem nachher auch die Feuerwehr glaubhaft agieren zu lassen.

Einem Polizeidirektor AD, der aus Bescheidenheit nicht namentlich genannt werden möchte, kräuselten sich bei meinen Ansichten zur Polizeiarbeit erst mal die Fußnägel. Mit seiner Hilfe konnte ich aber dann alles ein Stück wirklichkeitsnäher gestalten und verstoße nun hoffentlich nur noch gewollt gegen das übliche Procedere bzgl. Zuständigkeiten usw.

Atir Kerroum – das ist sein Autoren-Pseudonym – steuerte sein Wissen als Anwalt bei. Typisches Zitat aus einer seiner Antworten: „Ich hoffe doch, deine Frage ist nicht ernst gemeint …“

Klaus Stampfer von der Augsburger Friedensinitiative gab mir so manche Hintergrundinfos zu dieser und anderen lobenswerten Bewegungen. Auch, wenn die AFI am Ende nur ein-, zweimal kurz erwähnt wird …

Stefan Keller gab seinen Senf zu einigen Fragen bzgl. Banken und deren IT.

Hubert Mayr, seines Zeichens Imker, machte mir klar, dass ein Bienenlockstoff, wie ich ihn für meinen Mordanschlag in Vechta nutze, nicht existiert. Also lasse ich ihn halt erfinden, wozu ist man Autor?

Andreas Kobell und seine Schwiegermama halfen mir dabei, die Augsburger auch passend schwäbeln zu lassen.

Und dann waren da noch so einige weitere Mitglieder des Tintenzirkels, die mir immer mal wieder mit Rat und Tat oder einfach Beteiligung am Brainstorming zur Seite standen. Was würde ich ohne Euch nur machen, Leute?

Nicht vergessen möchte ich auch den zuständigen Wettergott, der im Zeitraum der Handlung dafür sorgte, dass alle Szenen so stattfinden konnten wie geplant. Ich weiß jetzt nicht, ob Bayern und Niedersachsen zum selben Arbeitsbereich gehören, muss also vielleicht auch zwei Wettergöttern danken. So war zum Beispiel das Wetter in Vechta am 10. August 2017 trocken genug, dass Bienen fliegen konnten, und der große Showdown an der Ammer hatte entgegen allen Vorhersagen prächtigstes Wetter. Ich hab Photos davon, exakt von diesem Ort zu dieser Zeit. ;-)

Last but not least geht natürlich wieder mein Dank an meine Verlegerin Charlotte Erpenbeck und meine Frau Pia, die meine Schriftsteller-Marotten immer noch mit recht wenig Murren erträgt.

Sascha Raubal

Von Sascha Raubal bisher im Machandel Verlag erschienen:

Kurt – In göttlicher Mission (Oktober 2015)

Kurt 2 – Götter in Gefahr (Oktober 2017)

Kurt 3 – Nützliche Idioten (März 2018)

Kurt 3

Nützliche Idioten

Sascha Raubal


Urban-Fantasy-Krimi


Für die Kinder Deutschlands.
Möget ihr in Frieden und Freiheit aufwachsen, wie es mir vergönnt war.


Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover: Bob Alex / www .shutterstock .com

Karte: Sascha Raubal

Illustration Kurzgeschichte: Barandash Karandashich / shutterstock.com

Haselünne

1. Auflage 2018

ISBN 978-3-95959-117-1

Alle handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Leider gibt es zu vielen durchaus reale Entsprechungen.


Wer in diesem Buch Klischees und Übertreibungen findet, darf diese übrigens gerne behalten. Aber den Holzhammer brauche ich noch.

S.Raubal


Homepage des Autors mit Hintergrundinformationen:

http://Fantasy.Raubal.de

Landkarte


9783959590747-mini

Kurzgeschichte

shutterstock_Barandash_Karandashich-449590192

Sie wollen nach Verdal

„Hier bin ich sicher, Liebster, keine Sorge!“ Frigg strich Odin zärtlich über den Bart. „Geht ihr nur! Sie brauchen überall unsere Hilfe.“

Ihr Mann sah ihr tief in die Augen. „Wir sind nirgends mehr sicher, das weißt du.“

„Es sind unsere Leute. Ich muss ihnen beistehen in dieser Zeit. Außerdem will der verfluchte Olav nach Verdal, das sagen alle Späher. Er wird vorbeiziehen. Was sollte er denn schon auf dieser kleinen Halbinsel suchen?“

Frigg wusste, Odin würde nicht versuchen, sie umzustimmen. Er kannte sie zu gut, sie war ebenso stur wie er selbst. So schloss er sie in die Arme, drückte ihr einen langen Kuss auf die Lippen und wandte sich um. „Pass auf dich auf, Geliebte!“

„Das werde ich.“ Frigg zog auch Thor noch einmal an sich und sah den beiden dann nach, wie sie sich in Richtung Süden entfernten. Sie wollten die Küste hinabziehen, zu weiteren Dörfern, die noch dem alten Glauben anhingen und in diesen schweren Zeiten Hilfe gebrauchen konnten.

Seit Håkon Jarls Tod wurde es mit jedem Tag schlimmer. Olav und sein Heer zogen von Schweden herauf, hatten bereits Oppland hinter sich gelassen und bahnten sich nun ihren Weg in Richtung Verdal. Wo sie auch auftauchten, die Truppen hinterließen nur Tod und Zerstörung. Es hieß, der neue Glaube sei eine Religion der Liebe, doch alles, was das Volk zu spüren bekam, waren Hass, Gier und Gnadenlosigkeit. Seit Olav wusste, dass sich ihm ein Bauernheer entgegenstellen wollte, waren die Verbrechen an der Landbevölkerung noch grausamer geworden. Wo die Kämpfer auftauchten, raubten, brandschatzten und mordeten sie; Frauen und Mädchen – oft noch Kinder – wurden brutal vergewaltigt und dann zum Sterben liegengelassen, wehrfähige Männer und Jünglinge sofort massakriert – oft das gnädigere Schicksal.

„Herrin?“

Frigg wandte sich um. Hinter ihr sah Algea nervös zu ihr auf. „Es ist bald so weit.“

Frigg strich dem Mädchen über den Kopf. „Ich komme, Kleines, ich komme.“ Sie folgte dem Kind zu dem Haus, in dem Algeas Mutter Jorunn in den Wehen lag. Dies war ein Grund, warum sie hiergeblieben war. Die Hebamme des Dorfes war vor einigen Wochen gestorben.

Frigg schlug das Fell im Eingang zurück und betrat das Heim der Fischersfamilie. „Wie geht es dir?“

„Es … es geht schon.“ Im Angesicht der hohen Dame, für die man Frigg im Dorf hielt, biss Jorunn die Zähne zusammen und lächelte tapfer. Doch bereits die nächste Wehe verzerrte ihre Züge zu einer Grimasse der Pein. Obschon ihre fünfte Geburt, schickte diese sich an, wirklich schwer zu werden.

Frigg kniete am Bett der Frau nieder und nahm Jorunns schweißnasse Hand. „Es ist keine Schande, unter solchen Schmerzen zu schreien.“

Jemand kam durch die Tür. Frigg musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Flóki das Langhaus betreten hatte, Jorunns Mann. Er trat neben sie und sah besorgt auf seine Frau herunter.

„Ist es bald so weit?“

„Ja, es geht los.“ Frigg stand auf und nahm ihn am Arm. „Sei so gut und warte draußen. Einen Mann können wir hier nun wirklich nicht gebrauchen.“

Flóki ließ sich von Frigg hinausführen. Zwar hielt auch er sie nur für eine normale Frau, aber eben für eine sehr hochgestellte, deren Anweisungen Folge zu leisten war.

„Ich kümmere mich schon um sie, keine Sorge“, beruhigte sie ihn. „Das ist beileibe nicht das erste Kind, dem ich auf die Welt helfe.“

„Die Götter müssen Euch gesandt haben, Herrin.“ Flóki neigte den Kopf. „Eine hohe Dame wie Ihr hilft der Frau eines einfachen Fischers.“

Sie lächelte ihn an. „In diesen Zeiten müssen wir alle zusammenhalten, ungeachtet unseres Standes. Schlimm genug, dass Olav zurück ist, mit dem neuen Gott und seinen Schlächtern. Stehen wir einander jetzt nicht bei, dann verdienen wir es, überrannt zu werden.“

Flóki nickte. „Ja, Herrin. Ich danke Euch.“

Aus dem Langhaus drang ein langgezogener Schrei. Wenn Frigg richtig gezählt hatte, musste die Geburt in kurzer Zeit beginnen. Sie ließ Flóki stehen und kehrte ins Haus zurück.

„Flóki!“ Frigg steckte ihren Kopf aus dem Eingang und rief noch einmal. „Flóki! Bist du taub?“

Der Fischer, der ein Stück entfernt bei einigen anderen Männern saß, schrak hoch.

„Ist es so weit?“

„Was glaubst du, warum ich dich sonst rufe?“

Flóki sprang auf und stürmte heran.

„Geht es ihr gut?“

„Ja“, lächelte Frigg. „Allen beiden.“ Sie wandte sich um und kehrte an Jorunns Lager zurück. Flóki trat ein und blieb zwei Schritt vom Bett seiner Frau entfernt stehen.

„Hier ist sie.“ Frigg nahm das Neugeborene, rot und faltig, in warme Tücher gewickelt, und legte es dem jungen Vater zu Füßen.

„Sie?“ Flóki machte ein enttäuschtes Gesicht.

„Sie, ja.“ Sofort klang Friggs Stimme frostig. „Ist das ein Problem?“

Einige der Ältesten betraten das Haus. Gerade rechtzeitig, um das Gespräch mitzuverfolgen.

„Wir haben Krieg.“

„Und da könnte ein männlicher Säugling natürlich unverzüglich mitkämpfen, nicht wahr?“

Flóki schaute betreten drein und schwieg. An seiner statt ergriff Thorkell das Wort, einer der Dorfältesten. „Herrin, Ihr wisst selbst, dass unser Volk in schweren Zeiten Männer braucht, keine Weiber.“

Frigg beherrschte sich nur mühsam. „Noch einmal: Der Krieg tobt jetzt, in diesen Tagen. Könnte ein männlicher Säugling jetzt mitkämpfen?“

Thorkell sah zu Boden. „Nein.“ Man sah ihm an, wie er es hasste, von dieser Fremden zurechtgewiesen zu werden.

„Und wenn der Krieg vorbei ist“, fuhr Frigg fort, „werden dann nur Männer das Land wieder aufbauen? Sitzen die Frauen unseres Volkes nur faul herum?“

Nochmals rang sich Thorkell ein gepresstes „Nein“ ab.

„Nun also?“ Frigg blickte Flóki herausfordernd an.

Es dauerte einige Augenblicke, dann bückte sich der Fischer, nahm das sachte zappelnde Bündel hoch und setzte sich auf den Rand des Bettes, in dem seine Frau das Geschehen erschöpft und ängstlich verfolgte. Er schlug die Tücher zurück und begutachtete das Neugeborene von allen Seiten. Frigg wusste, das Kind sah absolut gesund und kräftig aus. Und das stellte auch Flóki fest.

„Bringt mir Wasser!“, bat der junge Vater.

Frigg reichte ihm einen Becher, und Flóki goß ein paar Tropfen auf den Kopf der Tochter, die nun auf seinen Knien lag.

„Willkommen im Leben! Dein Name sei …“ Er überlegte kurz. „Eldar!“

Eldar. Die feurige Kämpferin. Frigg war zufrieden. Ja, das war ein guter Name in diesen Zeiten.

Am nächsten Tag kamen die Flüchtlinge. Sie brachten schlechte Nachrichten. Olav Haraldsson und sein Heer, großenteils schwedische Kämpfer, zogen bereits das nahegelegene Flusstal hinab. Weniger als einen Tagesmarsch waren sie entfernt. Das wäre eine sichere Distanz gewesen, doch die Männer und Frauen, die sich ins Dorf schleppten, wussten noch mehr zu berichten. Krieger schwärmten abseits des Heerzuges aus und überfielen alle erreichbaren Dörfer und Höfe. Die Armee brauchte Verpflegung, also wurde rücksichtslos geplündert. Nebenbei konnten die Kämpfer dann auch ihre persönliche Kriegsbeute aufstocken und sich an den Dorfbewohnern austoben.

„Wir müssen uns vorbereiten.“ Selbstbewusst stand Frigg inmitten der Dorfältesten und blickte in die Runde. „Wenn diese Bande hier einfallen will, werden wir sie gebührend empfangen.“

Die Männer wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Hoher Stand hin oder her, eine Frau durfte keine Anweisungen geben. Und eine Fremde schon gar nicht. Nur leider hatte sie recht. Das Dorf musste Vorkehrungen gegen die Plünderer treffen. Genau deshalb traute Frigg sich ihr Auftreten zu. Die Ältesten hätten dumm sein müssen, ihr zu widersprechen.

Thorkell war so dumm. Er wandte sich an die anderen Männer. „Was ist mit euch? Wollt Ihr euch von einer Frau herumkommandieren lassen?“ Er spuckte ihr vor die Füße. „Was glaubst du, wer du bist, Weib? Eine Göttin?“

Frigg bemühte sich, ihren Schreck nicht zu zeigen. Ahnte der Alte, wer sie war? Nein, das war unmöglich. Seit mindestens zwei Generationen war sie in dieser Gegend nicht mehr in ihrer wahren Identität aufgetreten, der Mann konnte unmöglich wissen, wer da vor ihm stand.

„Nein. Nur ein Weib“, blaffte sie ihn an. „Aber eines, das schon manches erlebt hat und weiß, was euch von diesen Kriegern droht. Sie kennen keine Ehre und kein Erbarmen. Sie werden euer Dorf niederbrennen, sich an den Frauen vergehen und die Männer töten. Wer überlebt, wird die Gnade des Todes herbeiwünschen. Eure einzige Hoffnung ist, die Plünderer rechtzeitig abzufangen.“

Sie sah sich in der Runde um. „Ich erwarte nicht, dass ihr von mir Befehle annehmt. Ich erwarte nur, dass ihr eurer Verantwortung nachkommt und das Dorf, das auf eure Entscheidungen vertraut, bestmöglich beschützt.“

Die Menschen auf dem Dorfplatz, die die Diskussion mitverfolgten, nickten zustimmend.

Flóki trat aus dem Kreis der Zuhörer hervor. „Sie hat recht. Gestern erst wurde meine Tochter geboren, ich werde nicht zulassen, dass sie morgen bereits von Olavs Schergen zerstückelt wird. Wir müssen uns wappnen. Lasst uns die Landenge abriegeln, wie die Herrin es vorschlägt!“

Die Ältesten sahen einander schweigend an. Schließlich hob Freygerd, der Angesehenste unter ihnen, die Hand. „Ja, Ihr habt recht. Wir müssen uns gegen die Invasoren verteidigen. Alle Berichte deuten darauf hin, dass es für uns keinen anderen Ausweg gibt. Und ich bin mit der Herrin ebenfalls einer Meinung darin, dass wir nur den Landweg abriegeln sollten. Das Ufer ist zu lang für unsere wenigen Männer, und die Krieger werden kaum Boote mitbringen.“

Thorkell fuhr auf. „Du glaubst ernsthaft, wir können uns so schützen? Müssten wir nicht eher versuchen, den übermächtigen Gegner milde zu stimmen? Leinenernte steht erst noch bevor, die neue Ernte hat kaum begonnen. Und das Meer bietet Fische genug. Selbst, wenn wir ihnen all unsere Vorräte geben, können wir uns immer noch für den Winter eindecken. Kämpfen wir aber, ziehen wir den Zorn des Heeres auf uns. Sie brennen unsere Häuser nieder und töten die besten Männer des Dorfes. Wie sollen wir so den Winter überstehen?“

Freygerd dachte einige Augenblicke nach, dann sah er Thorkell traurig an. „Ich glaube nicht, dass man mit diesen Kriegern sprechen kann. Frage die Männer und Frauen, die sich zu uns geflüchtet haben! Manche von ihnen haben versucht, mit den Plünderern zu verhandeln. Vergebens.“ Er schüttelte resigniert den Kopf. „Nein, wir müssen kämpfen. Das ist unsere einzige Hoffnung.“

Die anderen Ältesten raunten beifällig, und damit war Thorkell überstimmt. Einen letzten, wütenden Blick auf Frigg abfeuernd zog er sich aus der Beratung zurück.

Die Landenge, die die kleine Halbinsel mit dem Festland verband, maß an ihrer schmalsten Stelle etwas mehr als tausend Schritte. Sie war von dichtem Wald bewachsen, nur ein Fuhrweg von vielleicht zwei Mannslängen Breite führte hindurch. Dieser Weg wurde nun mit Baumstämmen, großen Steinbrocken und Geäst verbarrikadiert. Der Wall zog sich weiter über die ganze Landenge, von Ufer zu Ufer. Nicht, dass er die Kämpfer Olavs hätte aufhalten können, aber der Versuch, die Sperre zu durchbrechen, musste genug Lärm machen, um die im Abstand von fünfzig Schritten aufgestellten Wachposten auf jeden Fall zu alarmieren.

Dies alles zu organisieren und aufzubauen hatte gerade einmal bis zum Abend gedauert. Nun saß Frigg mit den Frauen, Kindern und Alten auf dem Dorfplatz, in dessen Mitte ein großes Feuer brannte, und wartete ab, was geschah. Alle halbwegs wehrfähigen Männer standen nur wenige hundert Schritte hinter der Absperrung zur Verteidigung bereit. Wo auch immer die Krieger aus Olavs Heer den Durchbruch versuchen mochten, binnen Augenblicken würden genug Kämpfer zur Stelle sein, um sie abzufangen.

„Wo ist Thorkell?“ Frigg sah sich beunruhigt um.

„Den habe ich schon den ganzen Tag nicht mehr gesehen“, erwiderte eine ältere Frau verächtlich. „Er wird sich verkriechen, bis die Gefahr vorüber ist.“ Sie spuckte aus. Deutlicher hätte sie nicht kundtun können, was sie von dem Mann hielt. Die anderen Ältesten hingegen enthielten sich jeden Kommentars.

„Du irrst“, erklang da eine Stimme aus dem Dunkel zwischen den Häusern. Thorkell trat in den Schein des Feuers. „Ich bin hier.“

Der alte Mann blickte sich verbissen in der Runde um. Er wusste anscheinend genau, was man von ihm dachte. Zielstrebig überquerte er den Dorfplatz und blieb vor Frigg stehen. Er verneigte sich.

„Herrin? Dürfte ich etwas mit Euch besprechen?“

Sie sah ihn misstrauisch an. „Bitte! Sprich!“

„Wenn Ihr erlaubt, möchte ich gerne unter vier Augen mit Euch reden.“

Nun gut. Frigg erhob sich und bedeutete dem Mann vorauszugehen. Thorkell führte sie durch die Häuser hindurch ans Ufer des schmalen Fjords, der die Halbinsel an ihrer Ostseite vom Festland trennte. Erst einen Steinwurf vom Wasser entfernt hielten sie an.

„Nun?“ Frigg verschränkte die Arme und sah den Alten erwartungsvoll an. „Was möchtest du mit mir besprechen?“

Thorkell holte tief Luft. „Herrin, lasst mich Euch eine kleine Geschichte erzählen. Ich bin nicht hier geboren, sondern erst als Junge mit meinen Eltern hergekommen. Mein Vater war Schmied, und in diesem Dorf wurde damals ein guter Schmied gebraucht. Vorher lebten wir viele Tagesreisen weiter im Norden.“

Mit einer ungeduldigen Geste gab Frigg ihm zu verstehen, er möge zur Sache kommen.

„Verzeih, ich will Euch nicht langweilen. Um es kurz zu machen: Etwa einen Mond vor der Abreise aus meinem Geburtsort besuchte Gott Odin persönlich unser Dorf. Er hatte einige Ratschläge für die Ältesten. Ihn bekam ich damals nicht zu Gesicht, aber seine Gattin Frigg begleitete ihn und sprach mit den Frauen und uns Kindern. Selbst einen jungen Knaben wie mich hat ihre Schönheit so beeindruckt, ich werde sie nie vergessen.“

Frigg bemühte sich um Fassung. Es war klar, was nun kommen musste.

Thorkell sah sie offen an. „Nun, Herrin, als Ihr vor einigen Tagen mit Eurem einäugigen Gemahl und seinem rothaarigen Freund hier ankamt, mochte ich es anfangs nicht glauben, doch inzwischen bin ich mir sicher.“

Als sie stumm blieb, sprach er es offen aus. „Ihr seid Frigg persönlich. Möchtet Ihr das leugnen?“

Frigg starrte ihn mehrere Atemzüge lang an, bevor sie antwortete. „Angenommen, es wäre so. Was hieße das für dich?“

„Dass Ihr eine Göttin seid, mit genug Macht, uns vor den Horden König Olavs zu beschützen.“

Frigg lachte sarkastisch. „Macht? Ach Thorkell, was weißt du schon von der Götter Macht? Selbst wenn ich die Göttin wäre, für die du mich hältst, denkst du wirklich, ich könnte mit einem Wink meiner Hand Olavs Krieger verschwinden lassen?“

Nun war es Thorkell, der sie schweigend anstarrte.

„Glaube mir“, fuhr sie fort. „Die Macht der Götter ist bei weitem nicht so groß, wie es sich die Sterblichen gerne vorstellen. Und sie nimmt ab, seit diese neue Religion sich überall ausbreitet wie ein Geschwür. Die Götter sind nur so lange mächtig, wie die Menschen an sie glauben. Schwindet der Glaube, schwindet auch unsere Kraft.“

Unsere. Sie hatte unsere gesagt. Damit hatte sie ungewollt seinen Verdacht bestätigt. Und Thorkell war nicht dumm, er hatte ihren Fehler sofort registriert, das sah sie an seinen Augen.

„Das heißt, Ihr könnt uns nicht vor Olav und diesem neuen Gott beschützen?“ Der Alte wirkte auf einmal unendlich müde.

„Wir können euch mit unserem Rat und unserer Erfahrung zur Seite stehen“, antwortete sie ihm. „Den Rest müsst ihr selbst schaffen. So war es schon immer.“ Sie legte dem Alten die Hand auf den Arm. „Doch hab Vertrauen! Die Männer deines Dorfes sind stark und mutig, sie werden euch beschützen.“

„Mag sein.“ Der Mann zuckte kraftlos die Schultern. „Aber was ist mit Euch? Eure Kraft schwindet, sagt Ihr. Seid Ihr überhaupt noch Götter?“

Was sollte sie ihm darauf antworten? Ja, ihre Kraft schwand stetig. Sie waren nicht einmal mehr in der Lage, ihre menschlichen Körper zu verlassen. Man konnte sie töten. Doch das musste ja nicht jeder wissen.

„Wir sind immer noch eure Götter, Thorkell.“ Sie versuchte, aufmunternd dreinzuschauen. „Und wir werden für unser Volk da sein, bis zum Ende aller Tage.“

Thorkell riss sich sichtlich zusammen. „Ja, Herrin. Das weiß ich. Und danke, dass Ihr Euch mir offenbart habt.“ Er wies mit der Hand in Richtung Dorfplatz. „Wollen wir zurückgehen zu den anderen?“

Frigg lächelte ihn an und drehte sich um. „Ja.“

Dann fuhr der Dolch in ihren Rücken.

Sie lag auf dem Boden und sah hinauf zu dem Verräter. Der stand mit leerem Blick über ihr, die blutige Waffe noch in der Hand. Mehrere Stiche hatten ihre Lunge durchbohrt, sie brachte keinen Ton heraus. Nur mit den Lippen formte sie ein „Warum?“.

„Warum?“ Thorkell hatte ihre stumme Frage verstanden. „Weil Ihr schwach seid, uns nicht beschützen könnt. Also musste ich das tun. Wenn die alten Götter nicht stark genug sind, was bleibt uns anderes, als den neuen Gott willkommen zu heißen?“

Frigg hörte mehrere Boote auf das Ufer stoßen. Männer sprangen heraus, umstellten sie, das Schwert in der Hand. Es waren unverkennbar Olavs Krieger. Auf ihren Schilden prangte das gelbe Kreuz auf rotem Grund. Verdammt! Sie hatten alles darauf gesetzt, dass der Feind über Land kommen würde. Und sie hatten sich geirrt. Thorkell musste sie alle verraten haben.

Ein Mann ohne Rüstung, in einfacher, brauner Kutte und mit einem großen Holzkreuz um den Hals, trat neben sie. Kalte Augen musterten das Gesicht der verwundeten Göttin.

„Ist sie das?“

„Ja, Herr“, beeilte Thorkell sich zu antworten. „Das ist die falsche Göttin.“

Pure Verachtung sprach aus dem Blick des Fremden. Er gab den Bewaffneten ein Zeichen, die sie daraufhin vom Boden hochrissen. „Wir nehmen sie mit.“ Und an Thorkell gewandt: „Wer ist im Dorf?“

„Nur Frauen, Kinder und Alte. Eure Krieger werden keinen Widerstand vorfinden.“

„Gut. Schaffen wir sie dorthin.“

Brutal schleiften zwei der Männer Frigg zum Dorfplatz. Doch schon besserte sich ihr Zustand langsam. Wenn sie nur genug Zeit hatte, dann würden die Wunden heilen und ihre Kraft zurückkehren. Mochte ihre Macht auch nicht mehr so groß sein wie noch vor einem Menschenalter, war sie doch bei weitem nicht so leicht zu töten wie ein Mensch.

Die um das Feuer versammelten Dorfbewohner schrien erschrocken auf, als rund um den Platz feindliche Kämpfer aus der Dunkelheit traten. Das Entsetzen wuchs, als man Frigg in bluttriefenden Gewändern in ihre Mitte zerrte und dort zu Boden stieß.

Der Mann mit dem Kreuz um den Hals, eindeutig ein Priester des neuen Glaubens, trat neben die verwundete Göttin und hob die Arme, um sich Gehör zu verschaffen.

„Hört mir zu!“ Er wartete, bis das furchtsame Gemurmel um ihn herum verebbt war. „Dieses Weib hier“, er deutete auf Frigg, „ist eine Hexe. Sie steht im Dienste des Bösen.“

Frigg hob den Kopf aus dem Dreck und blickte sich um. Da saß Jorunn, die kleine Eldar auf dem Schoß, und starrte sie aus angsterfüllten Augen an. Die Göttin rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. Im nächsten Moment trat der fremde Priester ihr Gesicht zurück in den Schmutz.

„Das Böse, das dieses Weib im Leibe hat, kommt von den falschen Göttern, die ihr verehrt“, fuhr der Kreuzträger fort. „Aber jene Götter sind machtlos, sie können weder euch noch der Hexe helfen.“ Er gab seinen Männern einen Wink, die daraufhin Frigg erneut auf die Beine zerrten. Sie ließ es geschehen, obwohl ihre Wunden beinahe verheilt waren und sie sich wieder ziemlich kräftig fühlte. Doch noch wollte sie die Fremden in dem Glauben lassen, tödlich verwundet zu sein.

Der Priester umrundete sie langsamen Schrittes. Als er wieder vor ihr angelangt war, kam sein Gesicht nahe an sie heran. „Ich sehe“, raunte er ihr zu, „du bist tatsächlich die, als die man dich uns beschrieben hat.“

Verflucht! Er hatte erkannt, dass die Stiche in ihrem Rücken sich bereits geschlossen hatten. Frigg musste handeln! Die Fesseln konnte sie nicht sprengen, doch ihre Macht war eine andere. Sie wirkte dort, wo die Götter einst geboren worden waren.

Frigg musste den Priester von ihrem Tun ablenken. „Ist das eure Religion der Liebe? Mord und Zerstörung?“ So schwach ihre Stimme klang, jeder der Anwesenden verstand sie sehr gut. „Ist das euer allmächtiger Gott? Der vor den alten Göttern solche Angst hat, dass ihr sie für ihn vernichten müsst? Und denkst du wirklich, ihr könnt mit euren Waffen auch die Erinnerung an uns auslöschen?“

Ein Stück weit war sie schon in den Geist des Priesters vorgedrungen. Sie spürte blanken Hass, Verachtung für alles, was nicht seinem eigenen Glauben entsprach. Bald konnte sie zuschlagen.

Doch was war das? Etwas Unbekanntes, kalt und schleimig, warf sie aus dem Bewusstsein des Mannes hinaus. Sie schrak zusammen. Das war doch nicht möglich!

Zeitgleich fuhr ihr erneut eine Klinge in den Leib, diesmal von vorn. Der Priester grinste sie böse an. „Mach dir keine Hoffnungen! Wir wissen inzwischen, wie eurer lächerlichen Macht zu begegnen ist.“ Langsam drehte er den Dolch in der Wunde, vergrößerte das Loch in der Lunge. Nur ein schwaches, gequältes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Die Frauen rund um den Platz dagegen ächzten erschrocken auf, während die Ältesten nur voll Wut die Zähne zusammenbissen.

Der Priester zog die Klinge wieder heraus. „Und was die Erinnerung an euch betrifft: Die Feder ist mächtiger als das Schwert. Wir werden die Geschichten über euch sogar aufschreiben, aber auf unsere Weise; euch als Narren entlarven, als liederliche Weiber und Hurenböcke darstellen. Man wird euch verachten, dafür sorgen wir.“ Er blickte zu dem großen Holzstoß, der am Rande des Dorfplatzes lagerte, um das Feuer über die Nacht in Gang halten zu können. Erneut wandte er sich ihr zu. „Wir wissen, wie man Euresgleichen vernichtet. Vollständig.“

Olavs Männer hatten Übung darin, Menschen zu fesseln. In kürzester Zeit stand Frigg, an einen langen, in den Boden gerammten Pfahl gebunden auf dem Dorfplatz. Holz wurde zu ihren Füßen aufgeschichtet.

Die Menschen wagten nicht, gegen die mit Schwert und Lanze bewaffneten Feinde aufzubegehren. Frigg war froh darum, denn so hatten sie wenigstens noch eine geringe Chance zu überleben.

Der Priester hatte Thorkell losgeschickt, die Männer des Dorfes zu holen. Solange die Krieger Frauen und Kinder als Geiseln hatten, würden ihre Gatten, Brüder und Väter keinen Widerstand leisten. Gerade, als die letzten Äste auf den Scheiterhaufen geworfen wurden, trafen die Männer ein. Wie erwartet verhielten sie sich ruhig, ließen sich widerstandslos entwaffnen.

Der Priester wiederholte seine Ansprache über die Hexe und die Macht der alten Götter. Dann nahm er einen brennenden Ast aus dem Feuer in der Mitte des Dorfplatzes und trat zu Frigg.

„Und nun ...“ Er drehte sich einmal im Kreis. „Nun seht, wie diese Hexe zur Hölle fährt! Und keiner der Götzen, die ihr in eurer Verblendung noch anbetet, wird sie davor schützen.“ Er stieß den Ast in den Scheiterhaufen. Das von der Sommerhitze dürre Holz fing sofort Feuer.

„Nein!“ Jorunn sprang auf. „Nein, diese Frau ist keine Hexe! Das dürft ihr nicht tun! Sie hat meiner kleinen Tochter auf die Welt geholfen!“ Wie zum Beweis hielt sie den leise wimmernden Säugling hoch.

Der Mann mit dem Kreuz trat auf die Fischerin zu und betrachtete das Kind, das sie ihm entgegenstreckte.

„Ist das wahr? Hat jene Frau dort hinten dieses Kind auf die Welt geholt?“

„Ja, das hat sie.“ Jorunn blickte ihn fest an. „Sie ist nicht böse und erst recht keine Hexe.“

„Nun …“ Der Mann winkte einen seiner Bewaffneten heran. „Dann ist dies Kind bereits verloren, verdorben von der Hexe!“ Mit diesen Worten riss er Eldar ihrer Mutter aus den Händen. Im selben Moment hielt auch schon der Krieger die Spitze seiner Lanze auf Jorunns Hals gerichtet.

„Und es gibt nur eine Möglichkeit, den Zauber der Hexe wieder zu brechen und die Seele des Kindes zu reinigen.“ Sekunden später landete das Baby, das gerade eben einen einzigen Tag auf Erden erlebt hatte, in den Flammen zu Friggs Füßen. Hatte sie bislang dem Schmerz des um sie herum auflodernden Feuers widerstanden, so schrie sie nun ihre Verzweiflung heraus. Jorunn wie auch Flóki stimmten in ihren Schrei mit ein.

Das Letzte, was Frigg, Gattin des Odin, höchste der asischen Göttinnen vor ihrem Tod sah, war ein verzweifeltes Kind: Algea, die, von zwei Frauen des Dorfes fest im Arm gehalten, zusehen musste, wie ihre neugeborene Schwester verbrannte, ebenso wie die Frau, die das Kind auf die Welt geholt hatte, und wie Lanzen die Körper von Mutter und Vater durchbohrten, die dieses Verbrechen nicht geschehen lassen wollten.

***

Olav II Haraldsson wurde in der auf diese Nacht im Jahre 1030 folgenden Schlacht von Stiklestad getötet. Sein Heer jedoch siegte, und der neue Glaube verbreitete sich unaufhaltsam in Skandinavien. Olav wurde kurz darauf im Eilverfahren heiliggesprochen. Sein Verdienst: die Christianisierung Norwegens. Seine Verbrechen: unbedeutend.

Im Ort Levanger, der etwa 60 Kilometer nordöstlich von Trondheim und etwa 15 Kilometer südwestlich von Stiklestad zur Hälfte auf einer kleinen Halbinsel liegt, gibt es einen „Friggs veg“, also einen Weg der Frigg. Sie ist nicht ganz vergessen.

Der Verräter Thorkell hingegen ist vergessen, doch Levanger ist noch heute für einen anderen Verräter bekannt: Henry Oliver Rinnan, Kriegsverbrecher und Nazi-Kollaborateur im Zweiten Weltkrieg.

 

 

Dienstag, 09. August 1983

 

10:08 Uhr, Nordfrankreich, eine Landstraße

 

Timo Wagners erste Gotteserfahrung begann mit seinem liebsten Comic-helden – und einem Streit.

„Asterix ist der doofste Doofkopf überhaupt!“

Timo strengte sich redlich an, den Mund zu halten. Lange, ganz lange. Bestimmt zehn Sekunden, vielleicht sogar zwölf, betrachtete er die Landschaft, die draußen am Autofenster vorbeizog. Doch dann platzte es aus ihm heraus: „Gar nicht! Asterix ist ein großer Krieger, und wenn ich erst mal einen Zaubertrank erfunden habe, dann zeig ich’s dir und deinen blöden Schlümpfen! Die haben nämlich keine Superkräfte.“

So. Das hatte gesessen. Triumphierend grinste er seine Schwester Sandra an.

„Pöh“, antwortete diese nach längerer Denkpause. „Brauchen sie gar nicht, die werden auch so mit dem doofen Gargamel fertig. Und mit dem doofen Asterix. Und dem fetten Obalix.“

Es war zum Verzweifeln. Diese blöde Kuh mit ihren sechs Jahren hatte ja keine Ahnung. Schlümpfe und Zauberer, das waren doch bloße Erfindungen! Aber Gallier, die hatte es wirklich mal gegeben. Sagte Papa. Und Römer gab es auch, sogar noch heute. Nur waren sie heute wohl nicht mehr so bescheuert wie früher, immer alles erobern zu wollen. Sagte Mama. Bestimmt hatten ihnen das die großen gallischen Krieger ausgetrieben. Krieger wie Asterix, Obelix und alle anderen, jawohl. Mit acht Jahren wusste man sowas eben. Da wusste man auch, dass Timo und seine Familie gerade auf dem Weg in die Gegend waren, in der Asterix damals, 50 vor Christus, gelebt hatte. Die dumme Pute von Sandra dagegen konnte noch nicht mal die einfachsten Namen richtig aussprechen.

„Obelix, nicht Obalix. Obeeeelix!“ Aber das war sowieso zwecklos, sie wollte ja nichts begreifen. Er winkte großspurig ab. „Ach, schieb dir doch deine Schlümpfe in den Popo.“

„Timo!“, schallte es entsetzt vom Beifahrersitz. „Es reicht.“ Jetzt war Mama sauer. Dabei hatte er doch extra Popo gesagt und nicht das böse Wort mit A.

„Sie hat angefangen!“, versuchte er sich zu rechtfertigen. Und das stimmte auch, immerhin hatte Timo doch nur mit Papa darüber geredet, dass bald endlich der neue Asterix-Band erscheinen sollte und Timo sich den zusammen mit Papa kaufen würde. Jeder zahlte die Hälfte, das war nur fair. Aber Sandra fiel ja nichts Dümmeres ein, als gegen Asterix zu stänkern, die beste Comicreihe der ganzen Welt. Seit mindestens hundert Stunden durfte er sich nun schon diesen Unsinn anhören.

„Gar nicht!“, konterte seine Schwester.

„Hast du wohl!“

„Gar nicht, gar nicht!“

„Wohl! Du fängst immer an!“

„Du lügst!“ Jetzt setzte sie wieder ihre Sirenenstimme ein, die einem in den Ohren weh tat. Prompt kam die Quittung von Papa. Er drehte sich nach hinten um und donnerte los. „Mama sagte, es reicht! Ich muss Auto fahren, Himmel noch mal, da kann ich sowas nicht brauchen!“

Mama schrie auch los. Aber irgendwie nicht so wütend wie Papa, sondern ängstlich. Papa wandte sich wieder nach vorne und brüllte: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Timo wollte darauf hinweisen, dass man das nicht sagen durfte, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Papa kurbelte plötzlich wie wild am Lenkrad, das Auto schaukelte ganz furchtbar hin und her, und Mama schrie noch lauter.

Timo erhaschte einen Blick nach vorne, zwischen den Sitzen der Eltern durch. Da kam ihnen ein Fahrzeug entgegen, aber nicht so, wie sonst Autos fahren, sondern irgendwie schief. Im nächsten Moment drehte sich Papas Auto wieder, es rumpelte, und dann flogen sie. Jetzt schrien auch Timo und Sandra. Die Welt wirbelte um sie herum, ihm wurde plötzlich furchtbar schlecht, es krachte grässlich, als der Wagen mit Wucht auf den Rädern aufschlug, Timos Tür sprang auf, und schon hoben sie wieder ab. Dann war Timo draußen, flog völlig alleine, ohne Auto.

 

Sein ganzer Körper tat furchtbar weh, schlimmer, als er es je erlebt hatte. Timo öffnete vorsichtig die Augen, sah aber nichts. Alles dunkel. Selbst sein Gesicht brannte wie Feuer. Er erkannte, dass er auf dem Bauch lag und die Nase in den Dreck steckte. Mühsam hob er den Kopf, um zumindest wieder richtig Luft zu bekommen.

Wo waren Mama und Papa? Und was war mit Sandra? Er wollte rufen, brachte aber kaum ein Stöhnen heraus. Sein Kopf war furchtbar schwer, er drehte ihn und legte ihn zurück auf den Boden. Wenigstens konnte er so weiteratmen.

Geräusche drangen an sein Ohr und sickerten langsam in sein Bewusstsein. Wasser plätscherte. Blätter rauschten im Wind. Irgendjemand rief etwas, aber die Stimme kannte er nicht. Er versuchte zu verstehen, was der Mann sagte, doch das war dieses komische Französisch, das hier alle sprachen. Timo verstand kein Wort. Dann, ganz leise, hörte er die Stimme seiner Mutter. Und jetzt die von Papa. Wieder bemühte sich Timo, nach ihnen zu rufen, doch immer noch kam kein Ton heraus.

„Sandra?“, fragte Mama. Noch mal, lauter diesmal: „Was ist mit Sandra?“ Der fremde Mann antwortete ihr, jetzt auf Deutsch: „Sie ist hier. Sie atmet.“

Timo war froh, das zu hören, und noch froher, als Mama nun auch nach ihm fragte. „Und Timo? Wo ist mein Sohn? Ich sehe ihn nicht!“ Mamas Stimme klang schrecklich verängstigt. Der Mann sagte: „Ich gehe ihn suchen.“ Timo unternahm einen weiteren Versuch, hob den Kopf ein wenig und brachte ein klägliches Wimmern zustande. Dann wurde es dunkel um ihn.

 

„Junge!“ Timo wurde wieder wach. Er lag immer noch im Dreck. Ein paar Schuhe kamen durch die Sträucher, in denen er lag. „Junge! Hörst du mich?“ Die Schuhe blieben neben ihm stehen, ihr Besitzer kniete nieder und strich Timo über das schlammverschmierte Gesicht. „Timo! Sag was!“

Timo nahm all seine Kraft zusammen, doch auch diesmal kam nur ein klägliches Wimmern heraus.

„Wenigstens lebst du noch.“ Der Mann drehte sich kurz um und rief: „Ich habe ihn gefunden. Er lebt.“

Hände tasteten seinen Körper ab. „Lass mal sehen“, murmelte der Fremde. „Da hast du dir aber einiges gebrochen, kleiner Freund.“ Die Hände widmeten sich behutsam Timos Hals. „Zum Glück nicht das Genick. Das ist das Wichtigste.“ Dann wurde Timo langsam umgedreht, bis er endlich etwas sehen konnte. Der Mann, der sich um ihn kümmerte, war groß, viel größer als Papa. Das sah er sogar jetzt, wo der Fremde vor ihm kniete. Viel mehr sah er aber nicht, denn er hatte eine Menge Dreck im Gesicht und in den tränenden Augen und bemühte sich nun verzweifelt, diesen wegzuzwinkern. Das tat erst recht weh, der Matsch rieb dabei über die Augäpfel.

„Na komm!“ Der Fremde schob seine Arme unter Timo und hob ihn hoch. Ganz schön stark! Mama wollte Timo schon gar nicht mehr tragen, weil er so schwer geworden war, und Papa ächzte auch immer über den dicken Brocken, wenn Timo ihm auf den Rücken sprang. Aber der Mann hier hob ihn einfach auf, als wöge er nicht mehr als sein eigener Teddy. Es schmerzte, bewegt zu werden, aber Timo biss tapfer die Zähne zusammen. Asterix hätte sicher als Kind auch nicht geweint.

 

„Timo!“ Mama kam angerannt. Er sah sie nicht richtig, erkannte sie nur an ihrem gelben Kleid, das als verwaschener, leuchtender Fleck durch den Tränenschleier auf ihn zurauschte. „Timo, mein Süßer! Geht’s dir gut?“

Manchmal konnte Mama schon wirklich doof fragen. Ihm tat alles weh, er brachte keinen Ton heraus und sah nur Schlieren, und sie fragte, ob es ihm gut ginge. Doch mehr als ein leises Stöhnen kam auch diesmal nicht über seine Lippen. Dann war sie auch schon da und versuchte, ihn zu streicheln, während der Mann, der ihn aufgelesen hatte, ihn noch ein paar Meter weit trug und dann ins Gras legte. Sofort stürzte sich Mama auf ihn und küsste sein Gesicht von oben bis unten ab. Eklig!

„Madame“, sagte der Fremde. „Bitte lassen Sie dem Jungen etwas Luft zum Atmen! Seien Sie so gut, und holen Sie ein wenig Wasser. Dort drüben liegt eine Schüssel und da ein Becher, bitte gehen Sie zum Bach und bringen mir das Wasser; ich brauche es, um Ihrem Sohn den Dreck aus dem Gesicht zu waschen.“

Mama fügte sich der Anweisung und verschwand. Ein Stück weiter weg hörte Timo Papa und Sandra miteinander sprechen. Er blickte nach oben und sah verschwommen den Kopf des Fremden über sich. „Es wird wieder gut, Junge, das verspreche ich dir.“ Die Stimme mit dem französischen Akzent klang sanft und warm. Timo glaubte ganz fest, was sie sagte.

„Hier“, hörte er Mama sagen. „Und ein paar Taschentücher.“

„Merci, Madame.“ Einen Augenblick später vernahm Timo das Plätschern von Wasser, dann spürte er, wie man ihm vorsichtig die Augen auswischte, mit einem triefend nassen Tuch. Es tat gut, als die kleinen Sandkörnchen endlich weggespült wurden. Der Schleier wurde dünner, langsam formte sich aus dem dunklen Fleck über ihm ein Gesicht.

„Er blutet so sehr“, jammerte Mama.

„Das ist nur aufgerissene Haut, nicht schlimm. Das Blut spült den Schmutz heraus“, antwortete der Mann.

„Wenn Sie meinen.“

„Vertrauen Sie mir.“ Der Fremde drehte den Kopf ein wenig. „Da kommt ein Auto. Halten Sie es an und bitten Sie den Fahrer, im nächsten Dorf den Krankenwagen zu rufen!“

Mama zögerte kurz, dann ließ sie Timo mit dem Mann alleine.

Inzwischen konnte Timo das Gesicht schon recht gut erkennen. Es war ein altes Gesicht, bestimmt viel älter als das von Papa. Links und rechts hingen wirre, teils mit Blut verklebte Haare herunter. Das Blut war rot, aber die Haare auch. Timo sah dem Mann in die Augen. Grau waren sie, und … tief. Beinahe hatte er das Gefühl, wieder zu fliegen, zu stürzen, nach oben in diese Augen. Oder war es umgekehrt? Schauten sie in ihn, Timo, hinein?

Er riss sich gewaltsam von dem Anblick los. Der Fremde lächelte ihn beruhigend an. „Na? Schon besser?“ Timo versuchte zu sprechen, und tatsächlich, es kam ein leises, aber verständliches „Ja“ heraus. Der Mann hob einen der Plastikbecher hoch, die Timos Eltern auf die Reise mitgenommen hatten. Timo kannte ihn genau, das war der Schlumpfbecher von Sandra. Wahrscheinlich war das Gepäck auf dem Dach bei dem Unfall über die ganze Wiese verstreut worden, auf der er jetzt lag. Das Gefäß berührte seinen Mund, Timo nahm ein paar vorsichtige Schlucke.

„Danke“, quetschte er hervor. „Sie bluten.“ Er war stolz, dass er nicht „Du“ zu einem Fremden sagte, wie er es letztes Jahr noch getan hatte.

Sein Helfer lachte leise. „Ach, das ist halb so wild. Mein Auto ist auch Schrott, wie eures, und dabei habe ich ein bisschen was abbekommen. Aber das vergeht wieder.“

Während der Mann das sagte, löste sich von seiner aufgeplatzten Augenbraue ein Blutstropfen und fiel Timo ins Gesicht, direkt in eine seiner eigenen Wunden. Für einen winzigen Moment brannte es, dann fühlte sich diese Stelle viel besser an als vorher.

„Wie heißen Sie?“

Der Mann überlegte eine Sekunde und nannte dann leise seinen Namen.

„Belenus?“ Timo war baff. „Wie in Asterix?

„Ja“, antwortete der Fremde schmunzelnd. „Genau so. Aber …“ Er hob den Finger an die Lippen und zwinkerte Timo zu. Der nickte verschwörerisch. Dann kam auch schon Mama zurück.

Montag, 13. Juli 2015

11:36 Uhr, München, Nordfriedhof

Schmerz. Schmerz, wie Timo ihn nie zuvor gefühlt hatte. Kein gebrochener Arm, keine aufgeschürfte Haut, stattdessen eisige Kälte und eine furchtbare Leere, die ihn von innen her aufzufressen drohte. Doch diesmal war nicht er es, der von starken Armen gehalten wurde, er musste selbst Halt geben. Linus war erst verdammte vierzehn Jahre alt! Welches Drecks-Schicksal nahm einem Vierzehnjährigen die Mutter?

Es war so elendig schwer, die Tränen zurückzuhalten. Aber auch der Junge schaffte es, irgendwie. Konnte nicht wieder ein großer Fremder auftauchen und den Schmerz lindern, dem Kind Zuversicht geben, dass es weiterging, auch ohne Mama? Nein. Er schüttelte innerlich den Kopf über seinen Gedanken. Nein, diese Qual vermochte niemand einfach wegzuzaubern. Da mussten sie durch, alle beide, Vater und Sohn.

Er sah zu, wie Ankes Sarg langsam ins Grab glitt. Wie sie endgültig und unwiderruflich ging, um niemals wiederzukehren. Noch fester drückte er die Schulter seines Jungen, der sich so tapfer aufrecht hielt. Der so stark gewesen war in diesen Monaten, während er seiner Mutter beim Sterben zusehen musste.

Im Winter war noch alles in bester Ordnung gewesen. Ein paar Wehwehchen, unklare Bauchbeschwerden, ja, aber es schien nichts Ernstes zu sein. Dann, Anfang Februar, war die Diagnose gekommen. Pankreastumor. Die Bauchspeicheldrüse. Die Ärzte hatten gesagt, dass dieser Krebs sehr oft zu spät erkannt wird, wenn er schon längst einen Haufen bösartige, kleine Metastasen gestreut hat. Bei Anke war es auch zu spät. Kein halbes Jahr hatte sie mehr, fünf Monate, in denen sie vor sich hin siechte, in denen aus der wunderbaren Frau und liebevollen Mutter ein zusammengefallenes Skelett wurde, das sich nur mit Schmerzmitteln über Wasser halten konnte. Bis es dann vor drei Tagen zu Ende gegangen war.

Ein oder zwei Leute hatten ihm gesagt, dass der Tod für Anke eine Erlösung war. Ja, natürlich war er das. Trotzdem hätte er denen am liebsten die Zähne ausgeschlagen.

Viel schlimmer waren die Schwätzer gewesen, die ihm den Unsinn mit Gottes Plan unter die Nase gerieben hatten. Allen voran Ankes Tante. Gott der Allmächtige habe Anke zu sich genommen, Linus und Timo sollten sich auf ein Wiedersehen im Jenseits freuen. Am Arsch! Hätte Timo je an diese Gestalt geglaubt, dann hätte er spätestens während Ankes qualvollen Todes damit aufgehört. Was für ein Gott sollte das sein, der einer wunderbaren Frau ihr Leben auf diese brutale Art nahm, einen Jungen dazu zwang, seiner Mutter beim Sterben zuzusehen, einem Mann die Liebe seines Lebens entriss? Nein, diesen Gott gab es nicht. Und wenn es ihn gab, war er ein verdammtes Arschloch.

Die Zeremonie war komplett weltlich gehalten. Kein Pfarrer hielt die Grabrede, kein Geschwafel von Himmelreich und liebem Gott. Ankes Eltern hatte das nicht gepasst, aber das war ihm egal gewesen. Äußerlichkeiten, hohle Show, das war denen wichtig. Wäre es nach denen gegangen, hätte Timo sich die langen Haare abschneiden, den Bart stutzen und sich mit Krawatte und anderem Unsinn verkleiden sollen, um ja den Erwartungen zu entsprechen. Was sollten bloß die Leute sagen?

Was ging es die Leute an? Anke hatte ihn so geliebt, wie er war, nur das zählte.

Der Redner war gut, das musste Timo anerkennen, auch, wenn er kaum etwas von dem mitbekommen hatte, was der Mann sagte. Der neue Freund von Ankes Schwester hatte sich darum gekümmert, wie um fast alles, das Begräbnis betreffend. Nun, als Anke da unten lag und bald von Erde bedeckt sein würde, kam die lange Schlange der Trauergäste, um zu kondolieren.

„Packst du das?“, raunte Timo seinem Jungen ins Ohr. „Du musst nicht.“

Linus nickte und schluckte schwer. „Geht schon.“

Und so standen sie da, Vater und Sohn, Seit’ an Seit’, und drückten die Hände von Freunden der Familie, von Bekannten, Nachbarn und wildfremden Menschen, die Anke wohl irgendwie gekannt hatten. Sogar die Kassiererin vom Supermarkt eine Straße weiter war da und murmelte, Anke sei eine so freundliche Kundin gewesen.

Die engsten Freunde und die Familie hielten sich bis zum Schluss zurück, um sich dann etwas ungestörter von Anke zu verabschieden und Timo und Linus mehr als nur die Hand zu drücken. Sonja, Ankes Schwester, die die ganze Zeit auf Linus’ anderer Seite stand, hatte ihren Neuen dabei, der sich so großartig um die Organisation gekümmert hatte.

„Ach Timo“, seufzte Sonja und schlang die Arme um ihn. „Ich vermisse sie schrecklich. Aber ich glaube, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für euch sein muss.“ Sie ließ ihn los und blickte ihm traurig in die Augen. „Du weißt, wenn ihr beide irgendetwas braucht, wir sind für euch da.“

„Ja, ich weiß.“ Gleich war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung, die Tränen drängten mit aller Macht nach draußen. Ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm, dass Linus den Kampf bereits verloren hatte. Sonja reagierte prompt, schloss den Jungen fest in die Arme und führte ihn ein Stück weg, um mit ihm gemeinsam zu weinen.

„Wie Sonja schon sagte“, wiederholte nun deren Freund, der lange, breite Kerl, zu dem Timo immer aufsehen musste, „wir sind für euch da. Sag einfach Bescheid, okay?“

„Danke, Kurt. Und danke für deine Hilfe in den letzten Tagen.“ Es wurde immer schwerer, die Tränen zurückzuhalten. Seltsamerweise hätte er sich ausgerechnet vor diesem Schrank von einem Mann, Ex-Soldat und nun erfolgreicher Privatdetektiv, ein harter Kerl wie aus dem Bilderbuch, kein bisschen geschämt zu weinen. Doch noch schaffte er es, das Wasser zurückzudrängen. Da stand ein weiterer Fremder, der anscheinend ebenfalls kondolieren wollte.

„Das hier ist übrigens Herr Auki, Ankes Chef“, sagte Kurt. Timo schüttelte die dargebotene Hand, ohne richtig hinzusehen.

„Ich weiß, wir beide haben uns nie getroffen, und Anke wird auch wenig von mir erzählt haben“, sprach ihn Herr Auki an. „Aber sie hat sich in dem einen Jahr, das sie bei uns war, als eine wunderbare Kollegin erwiesen. Ich will Sie nicht mit der hervorragenden Arbeit Ihrer Frau langweilen, aber dass sie uns allen als Mensch sehr viel bedeutet hat, das wollte ich Sie wissen lassen. Auch für uns gilt: Sollten Sie oder Ihr Sohn einmal etwas benötigen, dann geben Sie uns Bescheid! Sagen Sie es einfach Kurt, der leitet es dann schon weiter.“

„Das …“ Timo hoffte, dieser Typ verschwand bald, bevor er schluchzend zusammenbrach. „Das ist wirklich nett von Ihnen, Herr Auki.“ Er zwang sich, den Mann anzusehen. Der Anzug war Maßarbeit, keine Frage. In Stangenware hätte dieser quadratische Kerl nicht hineingepasst. Das Gesicht war …

Timo schnappte nach Luft. „Wer sind Sie?“

Sein Gegenüber war verständlicherweise überrascht. „Auki, Thor Auki mein Name. Ich bin im Vorstand des Instituts, für das Anke gearbeitet hat.“

„Ja …“ Das hatte Timo schon begriffen. „Aber … was sind Sie?“

Dienstag, 01. August 2017

 

09:48 Uhr, Zöberitz bei Halle/Saale, Sachsen

 

Martha Guttke verließ ihr Haus und ging zu ihrem Wagen, die obligatorische Aktentasche unter den Arm geklemmt. Vorlesungsfreie Zeiten waren etwas für Studenten, sie selbst hatte als Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg auch in den sogenannten Semesterferien reichlich zu tun.

In Gedanken rekapitulierte sie noch einmal, was heute auf dem Plan stand. Zuerst wollte sie ihre Berechnungen von gestern erneut überprüfen. Abgesehen von ihrer Position an der Uni wäre es auch für sie ganz persönlich nicht hinnehmbar gewesen, bei derart wichtigen Dingen Fehler zu machen. Fehler, die ihr unzählige ach so geschätzte Kollegen mit größtem Vergnügen aufs Brot schmieren würden.

Martha atmete ein paarmal tief durch. Die frühmorgendlichen Gewitter hatten die Luft wunderbar gereinigt und erfrischt. Sie stieg ein, warf die Aktentasche auf den Beifahrersitz und fuhr los. Auf dem Weg zur B100 dachte sie weiter nach.